WENN LIEBE DEN TON ANGIBT
HEARTBREAKING ROCKSTARS 3
MADITA TIETGEN
VORWORT
Wer meine Buchreihen »Irland – Von Cider bis Liebe« und »Schweden im Herzen« kennt, der weiß auch, dass ich gerne in die Tiefe gehe und meine Romane niemals weniger als 75.000 Wörter besitzen. Derzeit pendeln sie sich sogar eher zwischen 90.000 und 105.000 Wörtern ein. Doch für dieses gute Stück hier bekam ich eine Bedingung: maximal 40.000 Wörter.
Zusätzlich habe ich erstmals in der Ich-Perspektive und der Gegenwart geschrieben. Und dann kam auch noch das gemeinsame Plotten mit drei anderen Autorinnen hinzu. Alles irgendwie Neuland für mich. Aber es war großartig, und ich bin so gespannt, wie dieses etwas andere Format bei meinen Leser:innen ankommt.
Bei diesem Projekt habe ich wahnsinnig viel gelernt und möchte unbedingt nochmal hervorheben, wie wundervoll Allie Kinsley, Ewa Aukett und Any Cherubim mich dabei unterstützt haben. Danke dafür!
Kenner:innen meiner bisherigen Werke sollten sich bei »Wenn Liebe den Ton angibt« darauf einstellen, dass alles ein bisschen anders ist als sonst – aber lest selbst. Viel Spaß!
1
ASHLEY
Kinderspiel. Das wird ein Kinderspiel. Ich kann das. Ich bin verantwortungsbewusst und organisiert. Und selbstsicher. Total. Absolut. Ich atme tief durch, fahre mir durch meine blonden Haare, die mir bis über die Schulter reichen, und starre in den Spiegel. Selbstsicher? Nein, so wirke ich bei Weitem nicht. Wem will ich etwas vormachen? Meine Hände zittern, meine grünen Augen erinnern an die eines aufgeschreckten Rehs, und meine Unterlippe wird durchgehend von meinen Zähnen malträtiert. Ja, Selbstbewusstsein sieht in der Tat anders aus.
»Alles okay dadrin, Ashley?« Die freundliche Stimme von Ruby – so heißt die junge Frau, glaube ich – dringt durch die Metalltür des kleinen Waschraums, der sich irgendwo in den Katakomben des Amway Center von Orlando, Florida, befindet.
»Ja, alles super. Bin gleich so weit«, erwidere ich und hoffe, dass meine Stimme nicht verrät, wie nervös ich bin.
Das Versteckspiel ist vorbei. Egal, ich schaffe das schon irgendwie. Es ist die Chance meines Lebens. Wenn ich mich jetzt nicht zusammenreiße, kann ich mich genauso gut nur noch mit Aushilfsjobs über Wasser halten, statt meinen Traum zu verfolgen. Hektisch ziehe ich meinen Lidschatten nach und frage mich, warum das Universum mir ausgerechnet diese Band vor die Füße geworfen hat. Heartbreaker. Die junge Rockband schaffte vor gut fünf Jahren ihren Durchbruch und reißt seither alle Rekorde an sich. Egal ob Chartplatzierungen, ausverkaufte Konzerte oder Auszeichnungen – die Heartbreaker sind der neue Stern am Rockhimmel. So auch bei ihrer aktuellen Tour, die gerade unter dem Titel des letzten Albums Never Mind Station in Florida macht.
Streng genommen ist das für mich also ein Lottogewinn. Okay, für Timothy tut es mir ehrlich leid. Der Manager der Band – er ist mit seinen siebenundzwanzig Jahren sogar in meinem Alter – kämpft nach einer fiesen Grippe nun mit einer daraus resultierenden Lungenentzündung und muss Bettruhe halten. Das ist mies. Wirklich. Aber mir eröffnet das nun die Möglichkeit, seinen Job zu übernehmen.
Vor zwei Tagen rief mich die Künstleragentur an, bei der ich erst vor wenigen Monaten angefangen habe. Statt der noch eher unbekannten Musiker, um die ich mich bisher gekümmert habe, sollte ich auf einmal Timothy vertreten. Mein Herz hüpft schon wieder nervös auf und ab, als ich an den Moment zurückdenke.
Stellvertretende Managerin der derzeit erfolgreichsten Rockband, die die westliche Welt zu bieten hat – das ist jetzt mein Jobtitel. Es ist verrückt. Unglaublich verrückt! Aber sowohl die Agentur als auch Timothy trauen mir das zu. Auch wenn es mir ein Rätsel ist, wieso. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich selbst ebenfalls an mich und meine Fähigkeiten glaube. Oh Gott, das klingt viel leichter, als es ist!
Ich muss mich endlich am Riemen reißen. Das Zittern meiner Hände ignorierend stopfe ich meine wenigen Schminkutensilien in die Handtasche, atme noch einmal tief durch, platziere meine blonden, leicht gewellten Haare auf der rechten Schulter und greife nach dem abgenutzten Knauf.
Mit Schwung öffne ich die Tür, und ein herzliches Strahlen in den braunen Augen von Ruby empfängt mich. Wieder fallen mir ihre widerspenstigen roten Locken auf, die die junge Frau in einem groben Zopf zu bändigen versucht. In lockeren Jeans, einem sportlich schwarzen Top und einer Jerseyjacke darüber wartet sie geduldig auf mich.
»Anstrengende Reise gehabt?«
Ich nicke. »Ich hasse es, wenn der Flieger Verspätung hat.«
Genervt rolle ich mit den Augen und bemühe mich, meine Anspannung dahinter zu verstecken.
Ruby lacht. »Geht mir genauso!« Sie steckt ihr Smartphone in die hintere Hosentasche und deutet auf den schmalen Gang. »Dann bring ich dich mal zu den Jungs. Eigentlich wäre das der Job von Chloe oder Matt, aber die sind wohl mal wieder unterwegs.« Sie grinst. »Tauschen möchte ich mit den Assistenten hier wirklich nicht.«
Ich zwinge mich zu einem zustimmenden Lachen und folge Ruby durch den hell ausgeleuchteten Flur. Wir passieren mehrere Türen, an denen die Namen der einzelnen Bandmitglieder kleben. Wahrscheinlich handelt es sich um die privaten Garderoben. Heute ist das erste Konzert von dreien, das die Heartbreaker in Orlando spielen werden. Die Arena ist verhältnismäßig klein, wenn man sie mit anderen Spielorten der Tour vergleicht. Vermutlich treten sie deshalb auch gleich drei Tage in der Stadt auf. Insgesamt haben die Rocker damit rund sechzigtausend Tickets verkauft.
»Du bist die Tourfotografin, oder?« Ich probiere mich in Small Talk, um meine Aufregung herunterzuspielen. Niemandem ist geholfen, wenn ich vor den Jungs gleich kein Wort rausbekomme. Nicht nur, dass dies mein erster wirklich wichtiger Job als Managerin einer weltberühmten Band ist. Ja, okay. Stellvertretende Managerin. Das allein ist schon Grund genug, dass sich meine Nerven zum Zerreißen gespannt anfühlen. Aber nein, da ist noch etwas, das mir Sorgen bereitet. Wieder und wieder sage ich mir, dass es so lange her ist – wenn mich einer von ihnen erkennt, wäre das schon eine Wahnsinnsleistung. Nicht, dass ich die vier Rocker unterschätzen würde. Vielmehr habe ich mich in den letzten zehn Jahren so verändert, es grenzt an ein Wunder, dass ich mich selbst noch im Spiegel erkenne.
Dankbar höre ich Ruby auf meine Frage eingehen, während sie fröhlich vor mir herläuft.
»Genau. Anfangs war ich nur fotografische Assistentin. Dann gab es allerdings ein bisschen Ärger mit dem ursprünglichen Fotografen.« Sie schüttelt den Kopf. »Aber das ist eine andere Geschichte, die etwas länger dauern könnte. Jetzt bin ich jedenfalls für die restliche Tour hinter der Linse.«
Ein Hauch der Erleichterung legt sich auf meine Schultern. Ruby wirkt zwar ein wenig kühl, aber meine Menschenkenntnis flüstert mir zu, dass ich in ihr vielleicht eine Verbündete auf dieser Reise finde. Und das kann ich echt gut gebrauchen.
»Dann teilen wir ja ein ähnliches Schicksal.« Beinahe kommt so etwas wie ein Lächeln über meine Lippen.
Überrascht bleibt Ruby stehen und dreht sich zu mir um. Ihr Blick schweift über mein Outfit, das heute wieder einmal aus meinen schwarzen Lieblings-High-Heels, engen hellen Jeans, einem weißen T-Shirt und einer himmelblauen Lederjacke, die bereits auf Höhe der Taille endet, besteht. Nachdenklich kneift Ruby ihre Augen zusammen, doch dann legt sie den Kopf schief und schmunzelt kaum merklich.
»Scheint wohl so.« Mit diesen Worten wendet sie sich wieder dem Gang zu und bedeutet mir, ihr noch ein Stück zu folgen.
Mein Herz rast immer noch. Würden das lebenswichtige Organ und ich ein Wettrennen in diesem Flur veranstalten, wäre es mir meterweit voraus. Ich würde es vermutlich schon gar nicht mehr sehen können. Während meine Augen noch den weiten Flur entlangwandern, hält Ruby plötzlich erneut inne.
»Da wären wir.« Sie wirft mir einen fragenden Blick zu. »Bereit?«
Äh, nein. Überhaupt nicht. Ich atme ein letztes Mal die muffige Luft der Katakomben ein und spreche mir im Stillen Mut zu. Ich kann das. Ich bin bestens für diesen Job geeignet. Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich wie zu tun habe. Ein weiteres Mal gehe ich sicher, dass meine offenen Haare allesamt auf der rechten Schulter liegen. Dann unterdrücke ich den Impuls wegzulaufen und nicke stattdessen Ruby zu.
Die öffnet daraufhin die Tür, und ein Schwall aus verdunstetem Kaffee gemischt mit verschiedenen Männer-Deos schlägt uns entgegen. Lautes Gelächter tiefer Stimmen erklingt, und sofort fühle ich mich zwölf Jahre in die Vergangenheit versetzt. Zurück in die Highschool. Sofort verbiete ich mir in alte Erinnerungen abzudriften und straffe meinen Rücken. Mit hoffentlich selbstbewussten Schritten folge ich Ruby in die Höhle der Löwen. Ein Ort, an den ich nie gehen wollte, und doch bin ich nun hier. Und muss mich beweisen.
* * *
SAM
Manchmal frage ich mich ja schon, mit wem ich hier so unterwegs bin. Wir alle gehen auf die dreißig zu, und worüber lachen wir? Über West, der mal wieder einen üblen Prank und damit einen nicht unerheblichen Erfolg auf seinen Social-Media-Kanälen gelandet hat. Eigentlich heißt unser Gitarrist Wesley Stevens. Aber schon zu Schulzeiten verschmolzen sein Vor- und Nachname miteinander, und so war er fortan einfach West.
Wie üblich kann ich mich der Situation nicht entziehen und grinse immer noch über Wests genialen Streich. Gerade als Nash, unser Leadsänger, heute Morgen im Hotel aus seinem Zimmer gekommen ist, stand West mit einem Eimer Eiswürfel vor seiner Tür. Binnen Sekunden leerte er den Inhalt über Nash aus, der sich reflexartig laut fluchend und vor Kälte bibbernd über unseren Gitarristen hergemacht hat. Noah, der Vierte in unserem Bunde und einer der besten Drummer, die ich kenne, hat diesmal den Kameramann für Wests Unsinn gespielt. Und so wurde alles für die Nachwelt festgehalten. Innerhalb weniger Stunden erreichte das Video hunderttausende Views unter Wests Followern.
»Sam, hör endlich auf zu lachen! So witzig war es gar nicht.« Gespielt empört knüllt Nash ein Blatt Papier zusammen und wirft es nach mir, während er selbst doch wieder grinsen muss.
»Ruby, da bist du ja!« Mit leuchtenden Augen springt Noah von der Couch und läuft auf seine Freundin zu, die soeben in unsere Gemeinschaftsgarderobe kommt. Irgendwie ist der Anblick immer noch gewöhnungsbedürftig. Keine Frage, ich freue mich für ihn – der Weg von Noah und Ruby ist in den vergangenen Wochen steinig genug gewesen. Trotzdem ist es immer noch seltsam, den sonst so verpeilten, wenngleich auch liebenswürdigen Noah so verliebt zu sehen. Nach einem Kuss, der wesentlich kürzer hätte ausfallen dürfen, wenn es nach mir und den anderen Bandmitgliedern geht, löst sich Noah endlich wieder von der hübschen rothaarigen Ruby, sodass die einen Schritt zur Seite machen kann.
»Wen haben wir denn da?« Amüsiert und neugierig streckt Noah seinen Kopf über Rubys Schulter, als eine blonde Frau hinter seiner Freundin zum Vorschein kommt.
Das Lachen der anderen beiden Jungs verstummt, und ich nehme automatisch die Füße von dem Stuhl gegenüber. Allesamt mustern wir die Unbekannte. Siebenundzwanzig, ja vielleicht auch auf achtundzwanzig würde ich sie schätzen. Ihre grünen Augen fliegen über uns hinweg, und auf ihrem zarten Gesicht zeichnet sich so etwas wie Aufregung ab. Doch nur ganz kurz, denn sofort setzt sie einen freundlichen und zugleich strengen Blick auf. Wie sie diese Kombination hinbekommt, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Unauffällig beobachte ich sie von meinem Platz in der Ecke des Raumes aus.
Ruby wendet sich der Blondine zu. »Das ist Ashley Jennings. Sie ist die Vertretung für Timothy, den es ja leider ganz schön erwischt hat. Ich habe sie am Eingang aufgegabelt. Ashley, das sind Noah, Nash, West und Sam.« Nacheinander deutet sie auf die Jungs und mich. Dann schaut Ruby sich suchend um. »Wo sind Chloe und Matt? Sie hätten Ashley eigentlich in Empfang nehmen sollen.«
»Die besorgen uns noch ein paar Muffins und Kaffee für die Proben gleich«, wirft Nash ein und grinst Noah spitzbübisch an. Dann schaut er zu mir. »Sam wird doch unausstehlich, wenn er sein schwarzes Gebräu nicht regelmäßig eingeflößt bekommt.«
Ich gebe vor, unbekümmert mit den Schultern zu zucken. »Meine Bohnen sind fast leer, also brauche ich Nachschub. Wer hart arbeitet, braucht guten Kaffee. Das ist ein Menschenrecht.«
»Wer arbeitet hier hart?« West lacht lauthals auf und zeigt mit dem Finger auf mich. »Du etwa? Bestimmt nicht.«
Ich lehne mich nach vorne und grinse. »Mehr als du, mein Freund.«
Nash hingegen mustert wieder die neue Mitspielerin neben Ruby. »Du bist Timothys Vertretung?«
Sein Tonfall klingt äußerst skeptisch. Seine Mimik wirkt ebenfalls etwas missbilligend.
»Das bin ich«, bestätigt Ashley nickend. Mit festem Blick begegnet sie Nash. »Ich bin über alles informiert und werde euch für den Rest der Tour begleiten.« Ihre Augen schweifen zu West, der weiterhin auf einem alten Sessel lümmelt und Erica, seine Lieblingsgitarre, auf dem Schoß hat. Ja, das Instrument trägt wirklich einen Namen. Manchmal spricht der Kerl über sie, als wäre sie eine Frau mit echten Kurven. Gewöhnungsbedürftig, aber irgendwie fast schon wieder sympathisch, wie ich finde.
Dann schließlich landen diese runden grünen Augen von Ashley auf mir. Mit dem ernsten Blick einer strengen Managerin mustert sie mich und meinen Coffee-to-go-Becher aus Bambusholz, den ich mit einer Hand auf meinem rechten Knie balanciere. Ihre Augen fallen für einen kurzen Moment auf die Barista-Maschine, die gleich hinter mir auf dem Tisch steht. Ich brauche einfach meine eigene. Egal, wo wir gerade sind. Andere haben ihre persönliche Müslimischung dabei. Ich meine Kaffeemaschine samt Bohnen. Manch einer mag sogar behaupten, es würde zu meiner Lebensaufgabe gehören, die perfekte Röstung zu finden. Vielleicht hat derjenige ja recht.
Mit fünfzehn habe ich meinen ersten Kaffee getrunken. Er hat mich vor einem echt miesen Tag gerettet. Kurz darauf holte meine Mom die alte Maschine meines verstorbenen Dads vom Speicher und schenkte sie mir. Es war ein italienisches Modell, auf das er eine Ewigkeit hingespart hat. Das war der Augenblick, in dem ich das Gefühl hatte, mit jeder Tasse Kaffee meinem Vater ein Stück näher zu sein und die Sicherheit zu spüren, die er mir als Kind geschenkt hat. Daraus hat sich schließlich eine recht extreme Leidenschaft für die Suche nach der perfekten Kaffeeröstung entwickelt. Zudem habe ich die Maschine meines Dads penibel gut in Schuss gehalten, sodass sie auch heute noch einwandfrei perfekten Kaffee serviert. Auch auf Tour. Denn ja, es ist die Maschine meines Dads, die hier neben mir steht. Sie gibt mir Halt, wenn ich ihn brauche – indem ich mir einen Kaffee oder Espresso zubereite und an meinen Dad denke.
Etwas an der Art, wie Ashley uns alle beobachtet, bringt mich für einen Moment beinahe durcheinander. Viel länger als nötig bleibt sie an mir hängen, bevor sie mit einem Ruck wieder zu Nash schaut.
»Ich weiß, ihr hängt an Timothy, weil er euch von Beginn an bei eurer Karriere begleitet. Aber ich verspreche euch, ich werde meinen Job mindestens genauso gut machen.«
Mit einem schiefen Grinsen mischt West sich in das Gespräch ein. »Wie viele Bands hast du schon gemanaget?«
Wenn ich mich nicht irre, spannt Ashley in dieser Sekunde ihre Kiefermuskeln an, doch schon in der nächsten schenkt sie West ein offenes Lächeln. »Bisher habe ich mich vor allem um Solo-Künstler gekümmert. Aber das mit großer Hingabe. Ihr braucht euch also keine Sorgen zu machen.«
Noah, der inzwischen seinen Arm um Rubys Taille geschlungen hat, meint zweifelnd: »Wir brauchen keine Babysitterin. Nur, damit das klar ist.«
Mühsam behält Ashley ihren freundlichen Ausdruck bei und fährt sich mit der rechten Hand durch ihre blonde Mähne. »Das ist auch nicht das, wonach mir der Sinn steht. Ich habe wichtigere Aufgaben zu erledigen. Insofern sind wir uns also schon mal einig. Super!«
Ihre Augen ziehen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, und sie vergräbt ihre Hände in den Seitentaschen der hellblauen Lederjacke, die sie über ihrem weißen Shirt trägt. Unwillkürlich fallen mir ihre langen Beine auf, die durch die engen Jeans und die hohen Schuhe perfekt zur Geltung kommen. Diese Frau weiß, wie man sich kleidet, denke ich und unterdrücke ein anerkennendes Schmunzeln hinter meinem Kaffeebecher.
»Sam, was hältst du von ihr?« Nashs tiefe Stimme unterbricht meine Musterung des Neuankömmlings. »Du hast noch gar nichts dazu gesagt.«
Herausfordernd blitzt Ashley mich an. Zumindest bilde ich mir das ein. Betont langsam lehne ich mich zurück und lasse sie nicht aus den Augen. Sekundenlang starren wir uns gegenseitig an, und obwohl es ziemlich kindisch ist, weigere ich mich, zuerst wegzusehen. Sie scheint das Gleiche zu denken, nur mit dem Unterschied, dass sich eine unzufriedene Falte auf ihrer Stirn formt. Sie genießt das Scharmützel nicht annähernd so sehr, wie es mich amüsiert. Doch statt zu grinsen, erwidere ich weiter ihren provozierenden Blick und lasse Nash währenddessen wissen: »Soll sie es doch versuchen. Timothy wird sich etwas dabei gedacht haben, sie für uns auszusuchen. Bisher konnten wir uns blind auf all seine Entscheidungen verlassen. Wir werden ja sehen, ob sie tough genug ist.«
Ein letztes bitteres Funkeln in Ashleys grünen Augen, dann wendet sie das Gesicht ab. Gewonnen! Also ein bisschen zumindest. Sie hat immerhin zuerst weggeguckt. Sehr erwachsen, ich weiß.
Just in diesem Moment taucht der aschblonde Schopf unseres Band-Assistenten Matt in der Tür hinter Ashley auf. »Hey Jungs, wir sind wieder da! Kaffeebohnen und Muffins bringt Chloe euch gleich. Aber ich soll euch von Joel ausrichten, dass die Bühne für den Soundcheck bereit ist.«
»Na endlich!« West erhebt sich und streicht über seine Erica. »Komm, meine Schöne, wir lassen Orlando beben!« Er grinst und schiebt sich an Ashley vorbei in den Gang hinaus.
Noah verabschiedet sich mit einem intensiven Kuss von Ruby, nur um sie dann doch mit sich zu ziehen. »Was hältst du von ein paar Fotos bei den Proben?«
Ruby nickt begeistert. »Gute Idee!« Mit einem letzten Blick auf Ashley fragt sie: »Du kommst zurecht?«
Ashley lächelt zurückhaltend und geht einen Schritt zur Seite, um die beiden durchzulassen. »Natürlich.«
Auch Nash steht auf, leert seine halb volle Wasserflasche in einem Zug und drückt sie im Vorbeigehen unserer neuen Managerin in die Hand. »Ich bezweifle, dass du wirklich Erfahrung mitbringst. Das habe ich Timothy auch wissen lassen, als er dich angekündigt hat. Du bist nur hier, weil er scheinbar ein Fan von dir ist. Beweis uns, dass du es draufhast.«
Die Jungs lassen vor Ashley die unnahbaren Rocker raushängen. Natürlich. Sie tut mir fast ein bisschen leid. Als ich nun als Letzter langsam auf sie zugehe, bemerke ich jedoch, wie sich Trotz in ihrem schönen Gesicht spiegelt. Nash ist längst fort, und nur noch wir zwei sind in der Garderobe.
»Nimm es nicht persönlich. Wir hängen einfach an Timothy. Den kann uns niemand ersetzen. Egal, wie qualifiziert du auch sein magst.«
Misstrauisch hebt Ashley ihren Kopf, um mich anzusehen. »Das verstehe ich.« Für einen Moment wirkt es, als wäre das alles gewesen, doch dann ertönt ihre Stimme ein weiteres Mal. Diesmal geprägt von einer Spur Überheblichkeit. »Sam, nicht?«
Ich nicke wortlos.
»Unterschätzt mich nicht. Wir mögen alle die dreißig noch nicht überschritten haben, aber das heißt nicht, dass ich es nicht im Mindesten so draufhabe wie ihr.«
Bei ihrem süßen kämpferischen Anblick schaffe ich es nicht, mir den ironischen Kommentar zu verkneifen, der mir auf der Zunge liegt. »Dann bist du insgeheim eine singende Rock-Queen, die im Verborgenen gern mal ein Gitarrensolo hinlegt?«
Ein herzliches Lachen ziert Ashleys Gesicht mit einem Mal. Sie schüttelt grinsend den Kopf. »Nein, das vielleicht nicht. Manche Dinge überlasse ich doch lieber den Profis.«
»Schade.« Ich schmunzle und zwinkere Ashley zu. »Ich hatte mich schon auf einen Überraschungsauftritt von dir gefreut.«
Ein Lächeln huscht über ihre vollen Lippen. »Da muss ich leider passen.«
Sie ist schlagfertig, denke ich und kann mir plötzlich gut vorstellen, dass sie uns Jungs noch ordentlich zurechtweisen wird, wenn es denn sein muss. Gerade als mir dieser Gedanke durch den Kopf geht, erscheint wieder ein Hauch von Unsicherheit auf ihrem Gesicht. Mit einem Räuspern entzieht sie mir ihren Blick und deutet mit dem Daumen hinter sich.
»Ich glaube, da wartet ein Soundcheck auf dich.«
»Wohl war.« Ich gehe noch einen Schritt auf sie zu, und uns trennen nur einige Zentimeter. Dabei bemerke ich ihren erfrischenden Duft, eine Mischung aus Zitrus und Rosmarin. Um den Eindruck der anderen wieder ein wenig gutzumachen, reiche ich dir Hand. »Willkommen im Team Heartbreaker.«
Überrascht erwidert sie die Geste, und für wenige Sekunden spüre ich ihre weiche Haut auf meiner.
»Danke.« Ein scheues Lächeln erhellt ihre feinen Gesichtszüge. Viel zu schnell vergeht dieser Moment, und Ashley setzt erneut diesen unnachgiebigen Blick auf, als sie mich mustert. »Los jetzt, die anderen warten schon auf dich!«
»Aye, Ma’am.« Ich bin schon ein paar Schritte an ihr vorbei, als ich ihre Absätze hinter mir höre und sie mich mit einer sanften, aber bestimmten Geste zurückhält. Als ich mich zu ihr umdrehe, drückt sie mir plötzlich Nashs leere Wasserflasche in die Hand.
»Mit lieben Grüßen für Nash.«
Irritiert betrachte ich die Flasche und entdecke die mit Edding geschriebenen Worte Not my Business. Love, A. auf dem Etikett. Nach kurzem Nachdenken macht es Klick bei mir, und lachend schaue ich zu Ashley, die den Stift zurück durch die offene Tür auf einen der Tische in der Garderobe wirft.
Sie zwinkert mir zu und scheucht mich dann mit einem Winken zu den Proben. Diese Frau hat es faustdick hinter den Ohren. Eindeutig. Oh Mann, das wird ein Spaß. Mit Sicherheit. Kopfschüttelnd und grinsend mache ich mich auf den Weg zur Bühne.
2
ASHLEY
Es war klar, dass die Jungs es mir nicht einfach machen würden. Trotzdem hätte ich mich über ein wenig mehr Entgegenkommen beim ersten Aufeinandertreffen gefreut. Immerhin hat Sam sich gegen Ende noch halbwegs wie ein Gentleman verhalten. Aber was habe ich denn auch erwartet? Die vier sind nicht gerade für ihre guten Manieren bekannt. Wäre für eine Rockband vielleicht auch nicht das richtige Image. Wobei … Wenn wir ehrlich sind, haben sich die Zeiten nicht geändert? Eine Rockband muss heute nicht mehr zwangsweise die Einrichtung eines Hotelzimmers zerschmettern und ein Leben aus Sex, Drugs und Rock’n’Roll führen. Oder? Na ja, vielleicht ein bisschen noch. Der Schein will am Ende des Tages wohl doch gewahrt werden.
Egal, ich werde mich schon behaupten. Irgendwie. Unauffällig schlüpfe ich aus meinen schwarzen High Heels und stelle die Füße auf der niedrigeren Lehne der Sitzreihe vor mir ab. Auf meinen Oberschenkeln und Knien suche ich eine perfekte Lage für den aufgeklappten Laptop, während ich eine Verbindung zum hausinternen WLAN aufbaue. Von meinem Platz in einem der Ränge des Amway Centers, der Veranstaltungshalle in Orlando, in der die nächsten drei Konzerte der Heartbreaker stattfinden, habe ich einen einwandfreien Blick auf die Bühne. Scheinwerfer gehen aus und an, werden neu justiert, und währenddessen stimmen die Jungs ihre Einsätze aufeinander ab. Sie sind ein gutes Stück entfernt, aber da sonst niemand in der Halle ist, kann ich vereinzelte Wortfetzen hören.
Ich hätte mich auch in eines der provisorischen Büros zurückziehen können, aber ich versuche, ein Gefühl für die vier zu bekommen. Und dafür kann es nicht schaden, ihnen bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen. Während ich meine Mails checke, die Pläne für die nächsten Tage durchgehe und ein Update an Timothy schicke, bin ich Zuschauerin eines Mini-Konzerts. Sie spielen die meisten Songs nur kurz an, um ihre Stimmen und Kräfte für die nächsten drei Shows zu schonen. Trotzdem entsteht ein gutes Bild von dem, was die Zuschauer erwartet.
Mit Rockmusik konnte ich noch nie viel anfangen. Ich gehöre mehr zu dem Schlag Singer-Songwriter, ab und zu vielleicht ein bisschen Jazz und Blues. Abgesehen davon habe ich eine unerklärliche Leidenschaft für den chinesischen Pianisten Lang Lang. Wie das zusammenpasst? Keine Ahnung.
Die softeren Lieder der Heartbreaker sind ganz in Ordnung, aber sobald der rockige Teil zu stark wird und gar leichte Metalklänge annimmt, ist es bei mir vorbei. Gut, dass mein Musikgeschmack kein Einstellungskriterium war, als ich vor einigen Monaten in der Agentur angeheuert habe.
Nie hätte ich gedacht, dass ich heute hier sitzen und tatsächlich die Heartbreaker managen würde. Zwar war mir bewusst, dass die Agentur für die Band zuständig ist. Aber dass ich plötzlich für Timothy einspringen soll? Nein, damit habe ich am allerwenigsten gerechnet. Und hätte ich es gewusst, hätte ich vermutlich nie eine Bewerbung abgeschickt.
Das erste Aufeinandertreffen lief gut. ›Gut‹ im Sinne von ›niemand hat mich erkannt‹. Obwohl ich einerseits froh darüber bin, spüre ich auch eine gewisse Enttäuschung an mir nagen. Lächerlich, wenn man bedenkt, dass es nichts gibt, worauf zurückzublicken es sich lohnt.
Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, ist schon einige Jahre her, und gewiss habe ich mich seit damals äußerlich sehr verändert. Mit dem eher pummeligen Mädchen mit Akne und viel zu großen Augen haben die Jahre es gut gemeint. Die Akne hat sich verabschiedet, die Kilos purzelten mit einem Wachstumsschub, der auch mein Gesicht in eine schmalere Form gebracht und meinen immer noch großen Augen damit einen freundlicheren Platz zugewiesen hat. Ich bin mitnichten eine Schönheit, aber ich kann mit einem guten Gefühl in den Spiegel sehen. Und im Vergleich zu meiner Highschool-Zeit ist das ein enormer Aufstieg. Aber trotzdem … Dass vorhin nicht der Hauch eines Wiedererkennens deutlich geworden ist, unterstreicht einmal mehr, wie bedeutungslos ich in meiner Schulzeit gewesen bin. Ein großartiges Kompliment für mein Ego.
Energisch tippe ich ein paar Zahlen in eine Excel-Liste und erkundige mich per Mail in dem gebuchten Hotel von New Orleans, ob sie dort an die Extrawünsche der Jungs denken, sobald wir in einer Woche dort einchecken. Timothy hat mir eine endlos lange Liste geschickt, mit Sachen, die ich beachten soll. Ein Spickzettel für die gesamte Band. Ganz oben stehen Erdnüsse. West scheint im Erdnussfieber zu sein und ein unbändiges Verlangen nach diesen kleinen Dingern zu haben.
Konzentriert verfolge ich, wie ebenjener Gitarrist in diesem Moment ein kleines Solo spielt. Eine Minute später ist Sam dran und lässt seinen Fingern freien Lauf über die Tasten seines Keyboards. Sowohl vor als auch hinter ihm ist eines der Instrumente aufgebaut worden. Er muss sich nur kurz umdrehen, und schon kann er auf dem anderen Keyboard weiterspielen. In diesem Moment steht er sogar so, dass er gleichzeitig mit jeweils einer Hand auf beiden zur selben Zeit musiziert. Keine Ahnung, warum es das braucht, aber es wirkt auf alle Fälle beeindruckend.
Die Noten springen nur so von der Bühne hinab und schweben auf mich zu. Die Melodie erinnert mich an einen Song, den die Jungs vor Jahren gespielt haben. Damals als sie noch nicht berühmt waren. Als sie noch in der Garage ihre Auftritte geprobt haben und lediglich auf Schulveranstaltungen den Ton angaben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Mädchen ihnen bereits zu jener Zeit zu Füßen lagen. Die Heartbreaker trugen ihren Namen schon zur Teenagerzeit zu Recht. Jetzt, gut zehn Jahre später, vermutlich immer noch. Ein Glück, dass das für mich keine Rolle spielt. So gut wie zumindest.
Unwillkürlich seufze ich auf und beobachte, wie sich die verwaschenen Jeans um Sams muskulöse Beine schmiegen und seine Oberarme während des anhaltenden Solos gut sichtbar unter den kurzen Ärmeln seines marineblauen Shirts hervorlugen. Seine dunkelbraunen Haare liegen in drei Zentimetern Länge chaotisch über seinen Kopf verteilt und verleihen ihm einen rockigen Touch. Ebenso wie sein Bart, der schon über das Stadium eines Dreitageverschnitts hinaus, aber ordentlich getrimmt ist.
Mit einer eleganten Drehung endet sein Auftritt, und die Musik verklingt. Nash ruft ihm etwas zu, und Sams Finger tanzen daraufhin über vier, fünf Tasten. Schließlich hebt der Leadsänger der Heartbreaker zustimmend den Daumen und wendet sich als Nächstes an Noah.
Wenn ich es richtig deute, sind die vier immer noch ein eingeschworenes, perfekt aufeinander abgestimmtes Team. Das ist es auch, was sie so erfolgreich hat werden lassen. Ja, ihre Musik trifft den Nerv der Zeit. Aber darüber hinaus strahlen sie diese Einheit aus, nach der sich so viele Menschen heute sehnen. In zu vielen
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Madita Tietgen
Cover: NaWillArts
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2023
ISBN: 978-3-96714-316-4
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