Cover

Leseprobe

Kirschfieber

IRLAND - VON CIDER BIS LIEBE

BUCH 7

MADITA TIETGEN

 

 

 

 

 

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

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Texte: Madita Tietgen

Cover: Grit Bomhauer

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss

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Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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ISBN: 978-3-96714-337-9

Für all jene, die gegen den Strom schwimmen und sich den Erwartungen von Familie und Gesellschaft entgegenstellen. Denn am Ende geht es darum, dass wir glücklich werden. Auf unsere eigene Art und Weise.

Triggerwarnung

In diesem Roman wird ein Thema behandelt, das manche triggern könnte.

Um an dieser Stelle nicht zu viel von der Handlung vorwegzunehmen, kannst du unter zeilenfluss.de/trigger einsehen, um welches Thema es sich handelt.

Eins

Das war eine schreckliche Idee.

Anders konnte Cherry es sich nicht erklären, und sie hatte sich wirklich bemüht, diesem Quatsch eine andere Beschreibung zu geben. Entnervt atmete sie aus und setzte ein Lächeln auf. Dann hob sie ihr Smartphone in den Selfiemodus und tippte auf Aufnahme.

»Guten Morgen! Ich bin Cherry Storm und nehme euch heute mal ein bisschen mit.« Sie überlegte kurz und fügte hinzu: »Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich euch zeigen soll, aber irgendetwas Sinnvolles werden wir schon finden.«

Ein letztes überzogenes Lächeln, dann beendete Cherry das Video und runzelte die Stirn. Diese wenigen Sekunden bewiesen, warum sie sich keinen Job vor der Kamera gesucht hatte. Sie mochte zwar auf der Bühne stehen, aber dabei musste sie für gewöhnlich nie sprechen. Und schon gar nicht Leute aktiv mit ihren Geschichten unterhalten. Zum vermutlich bereits zwanzigsten Mal an diesem Morgen fragte sie sich, warum sie sich auf die Idee von Vic Malone eingelassen hatte.

Die Social-Media-Managerin der Academy of Irish Dance war schlichtweg zu überzeugend gewesen. Oder vielleicht auch nur zu hartnäckig, gepaart mit dieser übertriebenen amerikanischen Motivation, der man sich nicht entziehen konnte. Cherry mochte Vic, keine Frage. Sie war eine äußerst toughe und sympathische Frau, die sich die Anerkennung für ihre Leistungen in nur wenigen Monaten hart erarbeitet hatte. Die New Yorkerin mochte den Job in der Academy über ihre Schwägerin erhalten haben. Aber soweit Cherry mitbekommen hatte, schien sie für diese Stelle wie geschaffen zu sein. Ihre manchmal etwas eigenwilligen Ideen fanden beim Social-Media-Publikum viel Anklang, sodass bei den Shows inzwischen eine ganz neue Zielgruppe auf den Stühlen saß. Für die Academy lief es also wirklich gut. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Vic diesen Teil der Öffentlichkeitsarbeit zu überlassen.

Cherry spielte das eben aufgenommene Video erneut ab. Ihre Stimme klang überdreht und unecht. Sie würde eine weitere Aufnahme machen müssen. Als Vic sie vor wenigen Tagen überredet hatte, Teil dieser Take-over-Kampagne zu werden, war Cherry zunächst dagegen gewesen. Hätte sie doch bloß energischer an dieser Einstellung festgehalten. Aber nein, sie hatte aus Höflichkeit nachgegeben, und nun hatte sie den Salat.

Einen Tag lang sollte Cherry den Instagram-Kanal der Academy übernehmen und den Followern einen Einblick in ihr Leben geben. Nicht, dass das so aufregend wäre. Laut Vic ging es lediglich darum, den Menschen zu zeigen, wer die Gesichter hinter der Kompanie waren, und ›sie an die Hand zu nehmen‹, wie die engagierte junge Frau es formuliert hatte. Ein furchtbarer Einfall.

Seufzend positionierte Cherry das Handy erneut vor ihrem Gesicht und tippte auf das rote Aufnahmesymbol. Sie legte den Kopf ein wenig schief, lächelte und versuchte es mit einem Zwinkern. »Hi, ich bin Cherry Storm und nehme euch in den kommenden Stunden ein bisschen mit. Ich zeige euch, wo ich mich am liebsten für unsere Show vorbereite, und erzähle euch ein wenig von meiner Arbeit hinter den Kulissen der Academy. Habt ihr Lust?«

Aufnahme Ende.

Cherry schloss genervt die Augen und murmelte: »O Dio …« Schließlich hob sie ihre Lider, begutachtete den neuen Clip und befand ihn für halbwegs in Ordnung. Dann wechselte sie auf dem Smartphone in die App der Social-Media-Plattform und teilte das Video in der Story der Academy, sodass es maximal vierundzwanzig Stunden online zu sehen sein würde. Was sie allerdings nicht hinzufügte, waren irgendwelche Filter, Glitzersternchen oder anderweitiger Firlefanz. Nein, einfach nur dieses Video. Das sollte wohl genügen.

Einen Moment lang ließ Cherry ihren Blick durch die Küche mit den roten Schränken gleiten. Es war neun Uhr morgens in ihrer Wohnung, und sie hatte zuvor ihren Lieblingskaffee aufgebrüht. Nicht mit einer dieser großen Maschinen, sondern ganz klassisch auf dem Herd mit einer alten silbrigen Bialetti. So wie ihre Nonna es ihr einst beigebracht hatte. Die war stets der Meinung, es gäbe im grauen verregneten Irland keinen ordentlichen ›Caffé‹, der diesen Namen auch nur im Ansatz verdiente. Und so hatte sie ihrer ›Ciliegia‹, wie sie Cherrys Namen ins Italienische abgewandelt hatte, die kleine achteckige Kanne geschenkt und damals gesagt: »Ciliegia, cara, nimm nur die besten Bohnen für deinen morgendlichen Caffé. Sonst schläfst du bei dem Wetter ja noch vor dem Mittag wieder ein!«

Kopfschüttelnd hatte sie ihre Enkelin auf den beständigen Regen aufmerksam gemacht, der an Irland haftete wie ein Sonnenstrahl über der italienischen Küste.

Cherrys lachende Erwiderung, dass sie mindestens genauso oft gutes Wetter hätten, ließ ihre Nonna natürlich nicht gelten. Schweigend hatte sie eine Augenbraue gehoben und verächtlich geschnaubt. Und damit war die Diskussion, die noch gar nicht richtig an Fahrt aufgenommen hatte, auch schon wieder beendet gewesen.

Voller Wärme dachte Cherry an das runzlige Gesicht ihrer Großmutter mütterlicherseits. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters von immerhin vierundachtzig Jahren war sie das quirlige Leben in Person. Das war bestimmt dem mediterranen Klima und dem guten Essen zu verdanken. Cherry sollte sie bald mal wieder besuchen. Sie vermisste ihre Großeltern. Das letzte Mal war sie an Weihnachten dort gewesen. Nun zog der Frühling bereits wieder über die grüne Insel.

Während Cherry ihr Smartphone in die Handtasche steckte, nahm sie sich fest vor, heute Abend nach Flügen zu schauen. Vielleicht würde ihr ein spontaner Abstecher in die Heimat ihrer Mutter guttun – sofern es mit den kommenden Spielzeiten der nächsten Show der Academy einherging. Sie würde das prüfen und dann einen kleinen Trip planen. Genau!

Mit diesem fröhlichen Gedanken stellte Cherry ihre kleine weiße Tasse in die Spüle, griff nach ihrer Handtasche sowie dem schmalen länglichen Koffer auf der Küchentheke und verließ ihr Apartment.

Heute war ihr freier Tag, doch wegen des Take-overs fühlte es sich nicht so unbeschwert an wie sonst. Irgendetwas lag in der Luft. Es war fast wie eine innere Vorahnung, die Cherry unruhig werden ließ. Umso wichtiger war es vielleicht, dass sie trotzdem ihren Plan in die Tat umsetzte und sich ein bisschen von dem Päckchen löste, das diese besondere Aufgabe ihr heute aufbürdete.

Draußen auf der Straße lief sie ein paar Meter zu einem hellblauen Fiat, schloss ihn auf und verstaute ihr Gepäck im Kofferraum.

Dann setzte sie sich auf der rechten Seite ans Steuer und verband das Smartphone mit den Lautsprechern des Fahrzeugs. Sie wollte gerade einen Musiktitel auswählen, als ihr Handy eine ankommende E-Mail ankündigte. Sie war von Lilly, der Besitzerin einer Dubliner Künstleragentur, von der seit einiger Zeit auch Cherry vertreten wurde. Aufgeregt tippte sie die Mail an und las eilig die wenigen Zeilen.

Als sie am Ende angelangt war, zog sich ihr Herz erwartungsvoll zusammen und hüpfte aufgeregt. Es war wahr! O Dio, es war wirklich wahr! Cherry hatte soeben ihren ersten Plattenvertrag angeboten bekommen! Was für fantastische Nachrichten! Sie würde Lilly zu dem in der Mail vorgeschlagenen Zeitpunkt anrufen und dann alles Weitere mit ihr besprechen. Oh, Cherry war so aufgeregt!

Im nächsten Augenblick vibrierte ihr Handy erneut. Eine Textnachricht von ihrem jüngeren Bruder Peter.

Denk daran, heute einfach Spaß zu haben und zwischendurch in die Kamera zu lächeln. Das sah doch eben schon ganz gut aus ;-) Ti amo! P.

Unwillkürlich musste Cherry schmunzeln und nahm sich vor, den Tipp ihres Bruders zu beherzigen. Mit dieser guten Laune glitten ihre Finger schließlich über die Musikauswahl auf dem Display ihres kleinen Fiats hinweg, und aus einer spontanen Laune heraus, die sicherlich auch auf den Gedanken an ihre Nonna zurückzuführen war, wählte sie einen ihrer Lieblingssongs aus. L’italiano von Toto Cutugno. Ein Lied, das so gar nicht auf die Straßen von Dublin gehörte. Es passte nicht zu dem irischen Frühlingsregen, der sich auf der Windschutzscheibe ankündigte, und es passte gewiss nicht zu den einsamen Landstraßen, die Cherry ansteuerte. Es passte nicht zu den grünen Wiesen und den grauen Steinmauern, die sie hinter sich ließ. Nein, das tat es ganz und gar nicht. Und trotzdem fühlte es sich genau richtig an. Mit einem Lächeln auf den Lippen lenkte Cherry den hellblauen Fiat Richtung Wicklow.

Eineinhalb Stunden später drehte Cherry sich gegen den aufkommenden Wind und fuhr sich mit der rechten Hand ungeschickt durch die Locken. Halb belustigt stellte sie allerdings fest, dass der Versuch, sie zu ordnen, fehlschlug. Daher begnügte sie sich damit, sich so zu positionieren, dass die Böen ihre Haare von vorne trafen und nach hinten wegflattern ließen. Ihr Blick glitt über die graufelsigen und moosgrünen Hügel, die sich rund um den tiefdunklen See unter ihr erstreckten.

Cherry hatte sich für den heutigen Tag einen eher ungewöhnlichen Ort für ihre Proben ausgesucht. Sie befand sich mitten im gefühlten Nirgendwo. Von Dublin aus war sie eine Weile lang in südlicher Richtung unterwegs gewesen, bevor sie ihr Auto auf die berühmte Military Road gelenkt und nach einigen Meilen schließlich auf einem kleinen Parkplatz nahe der Landstraße geparkt hatte. Dort angekommen wechselte sie ihre Ballerinas gegen ein Paar Socken und feste braune Wanderschuhe. Dann hatte sie den schlanken Koffer genommen, ihr Handy in die hintere Hosentasche gesteckt und war querfeldein über einen Teil des Wicklow-Wanderweges gelaufen. Während sich die herrlich frische Luft durch ihre dichten dunklen Locken wühlte, war sie ihrem Ziel schon bald nähergekommen.

Es gehörte zu ihren Angewohnheiten, sich an ihrem freien Tag immer wieder mal aus der belebten Stadt zu stehlen. Mit ihrem Auto fuhr sie hinaus aufs Land und suchte sich spontan Orte, die so malerisch waren, dass Cherry das Gefühl hatte, fernab jeglicher Zivilisation zu sein. Sie brauchte die Ruhe zwischendurch. Die Abgeschiedenheit. Die Einsamkeit. Wenn sie am Ende eines Ausflugs abends in ihre Wohnung nahe dem Stadtzentrum von Dublin zurückkehrte, fühlte sie sich schließlich wieder im Gleichgewicht. So als hätte sie ihre Energiereserven aufgefüllt und ihren Geist auf das Wesentliche konzentriert, um den Fokus beizubehalten.

Ein weiteres Mal schweiften ihre Augen über den fast schwarzen See am Fuße des Hügels. Trotz der leichten Böen, die sie hier oben auf dem Hügel spürte, lag das Wasser unten vollkommen glatt und unberührt da. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie den schmalen Strand am nördlichen Ufer erblickte. Lough Tay, wie das länglich runde Gewässer da unten hieß, war früher Teil des Privatbesitzes von Arthur Guinness gewesen, dem Gründer der heute nur allzu bekannten irischen Biermarke.

Vor vielen Jahren hatte die Familie Guinness gar feinen weißen Sand an den oberen Strand bringen lassen. Das Ergebnis? Der See sah von oben nun aus wie ein Pint Guinness. Beinahe tiefschwarz mit einer kleinen weißen Schaumkrone obendrauf. Ja, selbst die verträumten hellen Wirbel, die frisch nach dem Zapfen in jedem Pint auftauchten, gab es hier. Bis heute trug das Naturschauspiel deshalb den geläufigen Spitznamen Guinness Lake. Noch immer war der See in Privatbesitz, doch von hier oben konnte man ihn sowieso viel besser genießen, fand Cherry.

Von dem leisen Rauschen des Windes und den sich beugenden Grashalmen begleitet, kniete Cherry sich nun nieder und zog den Reißverschluss ihres kleinen Köfferchens auf. Andächtig hob sie den Deckel und klappte ihn zurück. Ein erneutes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und ehrfürchtig strich sie über das dunkle Holz und die dünnen Saiten. Eine Gänsehaut überfiel sie, so wie immer, wenn sie diesen besonderen Moment ganz für sich hatte. Nur sie, die raue irische Natur, die Ruhe und ihre Violine.

Langsam glitten ihre Finger um den schlanken Hals des Instruments. Dann nahm sie es heraus, griff nach dem Bogen und erhob sich. Den Blick fest auf den See und die umliegenden Hügel gerichtet, legte sie sich die Geige auf die Schulter, hob das Kinn ein wenig und setzte den Bogen an. Ihre Fingerspitzen suchten nicht lange nach der richtigen Position, und ohne um sich zu blicken, fing Cherry an zu spielen. Andächtig erklang eine Tonabfolge nach der nächsten.

Es wirkte noch ein wenig schief. Also stimmte Cherry die Saiten nach und fuhr erneut mit dem Bogen darüber. Ein wohliger Schauer lief über ihren Nacken. Ja, so sollte es sich anhören. Zart, weich und doch voller Kraft. Das Gesicht immer noch in Richtung des Sees gewandt, schloss Cherry ihre dunkelbraunen Augen, ließ die Locken um ihren Kopf herumtanzen und konzentrierte sich ganz allein auf das Gefühl. Musik, das war ein Zauber. So stark, dass er einen vergessen machen konnte, wie die Welt rundherum ins Wanken geriet. Musik, das war ein Anker. So beständig, dass er selbst im größten Chaos verlässlich an seinem Platz blieb. Musik, das war Magie. So verträumt, dass es in den dunkelsten Zeiten Hoffnung zu geben schien.

Der Wind frischte auf, und Cherry spürte, wie die Melodie ihrer Violine in ihren Körper überging. Anders als in vielen Momenten ihres Lebens ließ sie sich hier nur von den Tönen leiten. Sie bewegte sich im Einklang mit dem Bogen, der über die gespannten Saiten strich. Energisch und sanft zugleich. Kraftvoll und zärtlich im selben Augenblick. Mit grazilen Gesten schwebten ihre Finger über das Griffbrett. Immer schneller fuhr sie mit dem Bogen über die Saiten, sodass Vivaldis Winter ein Tempo gewann, das deutlich machte, dass schon bald der Frühling über das Land ziehen würde. Es war Cherrys Abschied an die kalte Jahreszeit. Ihr Kopf zuckte leicht hin und her, gefolgt von ihrem rechten Arm, der den Bogen führte und die Melodie immer lauter werden ließ.

Knapp vier Minuten später strich Cherry ein letztes Mal über ihre Violine, dann hielt sie unvermittelt inne und lauschte der Stille um sich herum. Erst jetzt öffnete sie die Augen langsam wieder und wurde des kühlen Lufthauchs gewahr. Wie immer, wenn sie draußen spielte, merkte sie erst am Ende eines Stücks, dass sie minutenlang die Lider geschlossen gehalten hatte. Sie war in ihrer Welt, wenn sie spielte. In ihrem Universum, zu dem sie sonst kaum jemandem Zutritt gewährte.

Es tat so gut. Erleichtert seufzte sie auf und freute sich über den immer stärker werdenden Wind. Sie mochte Herausforderungen. Und das Wetter hier draußen war eine solche. Denn je stärker die Böen, desto lauter musste sie spielen und desto akkurater mussten ihre Bewegungen sein, um den Ton in genau der Intensität zu treffen, wie sie es wollte.

Zugegeben, normalerweise würde man mit einem Instrument wie dem ihren nicht in der unberechenbaren Natur musizieren. Zu viele Risiken bargen das Wetter und die klimatischen Bedingungen für die empfindliche Violine. Aber Cherry hatte gelernt, das richtige Maß an Strapazen zu finden. Es waren lediglich Minuten, die sie sich gönnte. Aber diese kurze Zeit war ihr wichtig. Extrem wichtig.

Noch einmal atmete Cherry tief durch und genoss den einsamen Moment an diesem wundervollen Ort. Sie mochte zur Hälfte Italienerin sein, doch ihr Herz schlug eindeutig auch für ihre irische Seite. Sie besaß das Temperament ihrer Mutter und die Rauheit ihres Vaters. Italien und Irland, geformt in einer Seele, in einem Herzen. Das war Cherry.

Eher widerwillig holte sie das Smartphone aus der Hosentasche. Sie öffnete die Selfiekamera und lehnte das Handy an einen kleinen Felsen vor sich. Eigentlich hatte sie nur fertige Videos hochladen wollen, aber Vic hatte ihr gesagt, sie müsse zwischendurch auch ›einfach mal live gehen‹. Begeistert war Cherry davon absolut nicht, aber lieber würde sie spielen, als sich wieder um Kopf und Kragen zu reden, so wie vorhin im Auto bei ihrem ersten Live-Versuch. Bevor sie mit ihren Sachen über die Felder gewandert war, hatte sie noch eine Fragerunde über sich ergehen lassen. Während der Übertragung konnten die Follower ihr Fragen stellen, die sie umgehend beantwortet hatte.

Allerdings empfand Cherry dieses ›Q&A‹, ›Question & Answer‹, wie man es im Social-Media-Jargon nannte, verwirrend und unprofessionell. Das lag vermutlich auch daran, dass sie mit so etwas keinerlei Erfahrung hatte. Zudem war sie schon immer der Typ Mensch gewesen, der auf eine gute Vorbereitung setzte. Spontanität war nicht gerade ihr Steckenpferd.

Cherry prüfte den Aufnahmewinkel ihrer Handykamera und drückte dann auf den roten Punkt für die Liveschaltung. Sie erhob sich, lief einige Meter zurück und stellte sich so hin, dass man sie von vorne sehen konnte. Ohne ein Wort der Erklärung stand sie da, blickte hinab auf den Guinness Lake und sog das herrliche Bild der Wicklow Mountains an diesem unberührten Vormittag in sich auf.

Dann, ohne auf die Kamera zu achten, setzte sie ihre Geige wieder auf die Schulter, brachte ihre Fingerspitzen in Position, gefolgt von ihrem Bogen. Noch einmal holte sie tief Luft, und schließlich begann sie zu spielen. Ihr Lieblingsstück, When Celtic Dreams Come Alive. Die temporeiche Komposition war Teil der schon älteren, aber immer noch erfolgreichen Show My Lonely Irish Heart, konzipiert von Aeryn Fitzgerald O’Sullivan.

Langsam, ganz vorsichtig, erklangen die ersten Töne. Nach einer halben Minute hielt Cherry für eine kurze Pause inne, nur um dann mit geschlossenen Augen und streng kontrollierter Kraft wieder den Bogen anzusetzen und über die Saiten zu streichen. Energisch, lebensfroh und mutig, so sollte sich die Melodie anhören. Und das tat sie. O ja!

Schon nach den ersten Sekunden hatte Cherry vergessen, dass sie sich unter Beobachtung befand. Sie spielte einfach. So wie immer. Nur bot sie ihre Leidenschaft für dieses Stück irischer Kulturgeschichte nicht dem Publikum vor der Bühne dar, sondern ebenjener rauen Natur, aus der sie doch entsprungen war. Hohe wie tiefe Töne, gepaart mit einer immer rascheren Geschwindigkeit, erklangen mit dem Wind und segelten über das Tal und den darin liegenden Guinness Lake hinweg. Hätte Cherry die Augen geöffnet, hätte sie die Noten ihrer Fiddle davonflattern sehen. Gedanklich zumindest.

Noch mehr hätte sie jedoch das drohende Unheil erkannt, das munter auf sie zugaloppierte. Aber wie immer, wenn sie spielte und in ihrer eigenen Welt versank, waren ihre Lider geschlossen.

Sie konzentrierte sich auf Geige, Bogen und jede einzelne Toninterpretation. Sie hörte nur die Musik und das Rauschen des Windes, der sie umgab. Sonst nahm sie rein gar nichts wahr. Sie war fast am Ende des Stücks angelangt, als sie plötzlich aus ihrem Moment gerissen wurde. Etwas stimmte nicht. Etwas passte nicht in die Komposition, dabei hatte Cherry doch alles wie immer gespielt. Sie stolperte über ihre eigenen Töne, kam aus dem Takt und öffnete irritiert die Augen.

Lautes Blöken und Meckern drang an ihre Ohren, und sie wandte den Kopf um. Entsetzt riss sie die Brauen in die Höhe, aber es war zu spät. Eine Herde kurz geschorener Vierbeiner lief lautstark und äußerst zielstrebig auf sie zu. Kleine Lämmer zwischen großen wuchtigen Schafen trotteten eilig in Cherrys Richtung. Nach einem Fluchtweg suchend, blickte sie sich panisch um. Nicht mal mehr drei Meter trennten sie von den heranstürmenden Tieren. Es war zu spät!

Wie erstarrt stand Cherry da, hielt ihre Geige in Händen und schaute furchtvollen Auges in die Katastrophe, die sie sogleich ereilen würde. Sie hätte ausweichen sollen, irgendwie! Sie hätte davonlaufen sollen, irgendwann! Sie hätte sich in Sicherheit bringen sollen, irgendwo! Doch nichts dergleichen tat sie. Sie war überrascht, überrumpelt und vollständig gelähmt. Andere wären in ihrer Situation nach vorne gestürmt und hätten auf irgendeine Art und Weise reagiert. Aber nicht Cherry. Sie blieb wie angewurzelt an ihrem Platz mit dem herrlichen Ausblick auf den See und die Berge und fixierte das herannahende Drama.

Was sich wie eine Ewigkeit anfühlte, dauerte in Wahrheit nur wenige Sekunden. Die Schafe liefen weiter auf Cherry zu, zogen auf beiden Seiten an ihr vorbei, umringten sie und brachten sie in Bedrängnis. Ein verzweifelter Schrei blieb in Cherrys Kehle stecken, als sie an sich herabsah und zu diesen wilden Tieren hinunterschaute. Einzig und allein ihre Hand und ihren Arm konnte sie bewegen, um Geige und Bogen wenigstens halbwegs in Sicherheit zu bringen. Sicherheit?! O Dio, ganz und gar nicht!

Wie auf Kommando reagierten die Schafe auf Cherrys Gedankenchaos und schoben sich noch dichter an ihr vorbei. Dann ertönte auf einmal lautes Hundegebell, und die Schafe hoben die Köpfe. Meckernd und blökend traten die ersten Tiere den Rückzug an. Das wachsame Bellen kam näher, und Cherry erkannte zwei Hunde, die in langen eleganten Sprüngen zu ihr und der Herde aufschlossen. Fantastisch! Hunde konnte sie auf den Tod nicht ausstehen, dann noch lieber Schafe …

Ihr Puls beschleunigte sich. Mühsam nach Atem ringend versuchte Cherry sich ruhig zu verhalten. Aber sie spürte die Panik, die sich von ihrem Kopf bis hinab in ihre verkrampften Zehenspitzen in den sonst so bequemen Wanderschuhen arbeitete. Angst und Schrecken fuhren durch ihre Knochen. Immer wieder wurde sie von den Tieren angestupst, beschnüffelt und …

»Au!« Cherry schrie auf. War ihr eines dieser blöden Viecher gerade auf den Fuß getreten?! Ihr großer Zeh erzählte ihr genau das. Verflixt! Wieder loderte Panik in ihr auf. Sie musste hier weg. Aber wie? Noch immer weilten eine Handvoll Schafe an ihrer Seite. Nein, Seiten. Sie korrigierte sich im Kopf. Es gab einfach keinen Ausweg. Sie schaffte es in dem Gedränge gerade so, aufrecht stehen zu bleiben.

Die beiden Hunde waren inzwischen bei ihr und den Schafen angelangt und umrundeten sie aufgeregt bellend. Als würden die Tiere eine geheimnisvolle Sprache miteinander sprechen, blökten die Schafe zurück. Wäre Cherry nicht so erstarrt vor Angst, hätte sich in ihrem Kopf ein dazu passender Dialog abgespielt. Stattdessen streckte sie immer noch eine Hand in die Höhe, um ihr Instrument vor der Horde zu retten. Allmählich ging das ganz schön in ihre Muskulatur. Könnte sie bitte jemand aus dieser absurden Szenerie befreien?

Nein! Widerstand und Kampfgeist regten sich von einer Sekunde auf die andere in Cherry. Sie würde es ja wohl schaffen, sich aus einer Herde muffiger Schafe zu retten! Sie brauchte keinen Ritter in schimmernder Rüstung. Adrenalin schoss durch Cherrys Adern, und sie spürte, wie ein bisschen Leben zurück in ihre gelähmten Knochen kehrte. Ja! Sie würde sich selbst helfen. Auch wenn sie eine Heidenangst hatte, aber irgendwie würde sie es schon hinbekommen.

Hektisch schaute Cherry sich um und analysierte die Situation. Von den gut fünfzig Schafen machte es sich der Großteil ein Stück weiter auf der großflächigen Weide bequem. Mit kreisenden Kiefern kauten sie auf dem frischen grünen Gras herum. Cherry drehte sich langsam und vorsichtig einmal um sich selbst und versuchte die Schafe voneinander zu unterscheiden. Im Geiste zählte sie die Vierbeiner. … neun, zehn, elf … Ein gutes Dutzend Schafe, kleine wie große, mit schwarzen Köpfen, schwarzen Beinchen und kurz geschorener Wolle lief weiterhin um sie herum, als würde es sich bei Cherry um die Insel eines Kreisverkehrs handeln.

Sie war so darauf konzentriert, sich endlich einen Ausweg zu suchen, dass sie nicht bemerkte, wie sich ein knatterndes Quad näherte. Womöglich lag das auch daran, dass ihr Gehörgang von Blöken und Bellen überflutet wurde und keine anderen Geräusche mehr hindurchpassten. Ihr Kopf schwirrte, und Cherry drohte schwindelig zu werden. Der muffige Geruch der Schafe sowie das gefährlich klingende Gebell der beiden Hunde brachten Cherry an ihre physischen wie psychischen Grenzen.

Auf einmal erblickte sie eine Lücke. Eines der Schafe hatte sich von ihr und dem Kreisverkehr abgewandt und folgte dem anderen Teil der Herde zu einem saftig grünen Fleckchen Wiese. Jetzt oder nie, dachte Cherry und schob sich energisch in den sich bildenden Abstand, um diesem Schlamassel zu entfliehen. Mit klopfendem Herzen widerstand sie dem Drang, ihre Augen zuzukneifen.

»Kommt schon«, murmelte sie und hielt den Atem an, während sie sich zwischen zwei Lämmer und eines der größeren Schafe drängte. Mit bebender Stimme flüsterte Cherry: »Lasst mich durch, lasst mich einfach durch, und wir haben alle unseren Frieden. Versprochen!«

Irritiert sahen die beiden Kleinen zu ihr auf, blökten sichtlich empört über diese Störung und suchten schließlich einen Weg um Cherry herum. Die wiederum nutzte den Moment des Stillstands und setzte zum Befreiungssprung an. Während am Hügelrand mit Blick auf den See weiterhin Schafe umhertrabten, schaffte Cherry es mit zwei großen Schritten endlich aus der beklemmenden Enge der Herde heraus. Tief Luft holend entfernte sie sich von den Tieren und achtete peinlich genau darauf, nicht den Hunden in die Quere zu kommen. Diese beobachteten sie mit Argusaugen, wurden aber langsam ruhiger und hielten weiterhin die Herde zusammen.

In Cherrys Ohren war immer noch das Blöken zu hören, und aus einer erneuten spontanen Furcht heraus lief Cherry mit Blick auf die Schafe rückwärts. Sie brauchte Abstand zu diesen Viechern! Viel Abstand! Sie traute ihnen nicht über den Weg, weshalb sie sich für die rückwärtsgewandte Distanzierung entschied. Sie wähnte sich schon in Sicherheit, als sie plötzlich das laute Dröhnen eines Motors hörte. Eine tiefe Stimme rief: »Vorsicht!«

Erschrocken riss Cherry den Kopf herum und bemerkte ein dunkelgrünes Quad hinter sich. Während der Mann auf dem Ungetüm eine Vollbremsung hinlegte, stolperte Cherry vom nächsten Schock getrieben über einen kleinen Fels, der von den hohen Gräsern am Boden verdeckt wurde. Sie versuchte sich abzufangen, doch es gelang ihr nicht. Sie verlor das Gleichgewicht und näherte sich mit hoher Geschwindigkeit dem unebenen Untergrund. Hatte sie noch für Millisekunden gehofft, weich zu fallen, wurde sie sofort eines Besseren belehrt. Sie stürzte der Länge nach und stieß sich mit der linken Hand an einem weiteren kleinen Felsen. Zwei ihrer Finger wurden durch den Aufprall ungesund weit nach hinten gebogen. Sie schrie erneut auf, diesmal aber wesentlich verlorener und schmerzgetränkter.

»Ahhh!«

Mit weit aufgerissenen Augen musste sie zusehen, wie ihre geliebte Geige in Sekundenschnelle auf dem harten Stein zerschellte und sich in allerhand Einzelteilen auf der grünen Weide verteilte. Parallel dazu zuckte ein dumpfer Schmerz durch Cherrys Hand. Ebenso taten auf einmal ihre Rippen und ihr Kopf furchtbar weh, mit dem sie nur leicht auf dem Boden aufgekommen war. Trotz der Verletzungen, die Cherry sich augenscheinlich zugezogen hatte, vergaß sie alles um sich herum. Sie starrte angestrengt auf das zerstörte Musikinstrument. Ihre Luftröhre verengte sich, und ihre Lunge versagte ihr den Dienst.

»Nein!« Cherrys Stimme glich einem entsetzten Flüstern. »Das darf nicht sein. Nein!«

Sie wollte sich aufrichten und die Katastrophe in Augenschein nehmen, doch der stechende Schmerz in ihrem Körper hinderte sie an jeglichen Bewegungen. Sie konnte die Finger an ihrer linken Hand kaum rühren, ihr Brustkorb schmerzte höllisch, und ihr Kopf fühlte sich dumpf und pochend an. Mühsam versuchte sie sich aufzusetzen, den Blick weiter auf das zerbrochene Holz und die gerissenen Saiten gerichtet.

»Was hast du dir zur Hölle dabei gedacht, einfach rückwärtszulaufen?!«

Eine erzürnte Männerstimme riss Cherry aus ihrer Trance. Sie sah auf und erkannte einen Mann auf sich zustürmen. Er war augenscheinlich von seinem Gefährt gesprungen und bewegte sich nun wild gestikulierend in ihre Richtung. Er trug eine hellbraune Cargohose, die in olivgrünen Gummistiefeln steckte. Unter seinem offenen Flanellhemd, das mit großflächigen blauen und weißen Karos gemustert war, bemerkte Cherry ein schwarzes Shirt. Darunter zeichnete sich ein muskulöser, aber nicht zu definierter Oberkörper ab. Doch davon ließ sie sich wohlweislich nicht lange ablenken. Ihr Blick glitt höher. Ein energisches Kinn, ebenso deutliche Wangenknochen und ein schmaler Mund zierten das Gesicht des Fremden. Seine blauen Augen blitzten sie an, während er verständnislos den Kopf schüttelte. Seine Haare waren so schwarz wie die Köpfe der immer noch freilaufenden Schafe in der Nähe.

Cherry brach ihre Musterung ab. Stattdessen machte sie ihrem Schock und allen voran ihrer Empörung Luft. Immer noch auf dem Boden sitzend und sich ihre verletzte Hand haltend, erhob sie scharf die Stimme.

»Was mir einfällt?! Du hast mich über den Haufen gefahren! Nachdem deine Schafe mich eingekesselt und deine Hunde mich zu Tode erschreckt haben!«

Der Kerl war inzwischen bei Cherry angekommen und kniete sich neben sie. Eine Spur versöhnlicher fragte er: »Hast du dich verletzt?«

Er wollte nach Cherrys Hand sehen, über die ein paar blutige Kratzer verliefen, doch sie entzog sie ihm.

»Das geht dich gar nichts an!« Mühsam unterdrückte sie einen schmerzgetränkten Aufschrei. Ihr Blick streifte die Geige, die nicht länger als solche bezeichnet werden konnte. Doch bevor sich die tiefe Trauer in ihr äußern konnte, konzentrierte sie sich lieber auf die Wut. Ihre Augen mussten Funken sprühen, so sehr blitzte sie ihr Gegenüber an.

»Ich hoffe, du hast eine verdammt gute Erklärung für diesen Mist!« Sie deutete auf die Schafe, die inzwischen friedlich grasten. Die beiden Hunde liefen weiterhin um die Herde herum, bellten allerdings nicht mehr. Eine eigenartige Ruhe lag über den Tieren. Ganz im Gegensatz zu vorher, noch vor wenigen Minuten.

»Das wollte ich dich eigentlich gerade fragen, …« Der Typ zog die Stirn in Falten und musterte Cherry und die Überbleibsel ihrer Violine. So wie er mit der Stimme am Ende seines Satzes hochging und sie betrachtete, wusste Cherry, dass er nach ihrem Namen fragte. Ohne es konkret auszusprechen.

Widerstrebend antwortete sie. »Cherry. Cherry Storm.«

Ein unwillkürliches Schmunzeln erschien auf seinen Lippen, und Cherry wusste genau, was er dachte. Aber im Gegensatz zu vielen anderen schien er den Anstand zu haben, seine Gedanken vorerst für sich zu behalten. Er tat es ihr stattdessen gleich und stellte sich vor. »Fergus Doyle.«

Ein lautes Blöken ließ Cherry zusammenfahren. Sie riss den Kopf hoch, und entsetzt erkannte sie, was das vielleicht größte Drama an den letzten Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, gewesen war. Eines der Schafe hatte ihr Smartphone entdeckt. Mit der Nase stupste der eigenwillige Vierbeiner das Handy um, und selbst aus der Ferne konnte Cherry erkennen, dass erst durch die Berührung des Tieres der Live-Modus beendet wurde.

Cherry hatte das Smartphone weit genug entfernt aufgestellt, sodass es von dem Überfall verschont geblieben war. Dafür hatte es die bizarren Szenen in die Welt hinausgetragen. Bis zu ebenjenem Moment, als sich der Kerl bei ihr vorgestellt hatte.

O Dio! Das war das Peinlichste, Schlimmste und absolut Schrecklichste, was Cherry jemals passiert war. Die ganze Social-Media-Welt hatte ihren Kampf mit den Schafen live miterlebt. Ebenso ihre Flucht und den darauffolgenden Unfall. Das war eine Katastrophe. Eine riesengroße!

Zwei

Sanft kraulte Fergus den Kopf von Sherlock, einem Australian Shepherd. Der wiederum behielt mit wachsamen Augen sowohl die Schafe als auch die fremde Frau im Blick. Milde lächelnd musterte Fergus den Hund. Der war seiner Meinung nach einer der schönsten, die es überhaupt geben konnte. Sein graues Fell war durchzogen von hellbraunen Flecken. Ein weißer Streifen schlich sich von seiner Stirn zwischen seine Augen bis hinunter zur Schnauze, der die kräftigen blauen Augen umso stärker betonte.

Leise kläffte Sherlock auf, und Fergus folgte seinem Blick. Er beobachtete, wie die junge Frau sichtlich geschockt das Telefon an ihr Ohr presste und sich um eine gedämpfte Stimme bemühte. Doch das war vergebens. Der Wind trug ihre Sätze Wort für Wort zu ihm herüber, nachdem sie endlich jemanden erreicht zu haben schien. Nach einem Moment meinte sie: »Deshalb rufe ich an.« Cherry, wie sie sich bei ihm vorgestellt hatte, suchte nach den richtigen Worten. »Ich fürchte, wir haben ein Problem.«

Stille. Dann folgte der unweigerliche Vorwurf in ihrer Stimme, der sich – auch wenn sie nicht mit ihm sprach – gegen ihn richtete. »Die Welt wurde gerade Zeuge davon, wie mich ein gewisser Fergus Doyle über den Haufen gefahren hat.«

Angespannt wartete Cherry die Reaktion ihres Gesprächspartners ab. Schließlich rief sie verzweifelt: »Sag mir lieber, was ich jetzt machen soll!«

Die überraschende Lautstärke ihrer Äußerung rief einige Schafe auf den Plan. Blökend hoben sie die Köpfe und wollten sich Cherry bereits wieder nähern. Langsam strich Fergus Sherlock ein letztes Mal über das weiche Fell, dann gab er ihm einen kleinen Klaps. Der Hund verstand sofort und lief bellend auf die Schafe zu, um sie von Cherry fernzuhalten.

Die atmete empört ein, starrte zu den neugierigen Schafen und reagierte auf eine Frage am Telefon mit den Worten: »Das kann ich absolut nicht behaupten. Vic, ich ruf gleich wieder an!«

Sie legte auf und schob sich das Smartphone in die hintere Hosentasche, die, wie Fergus bereits bemerkt hatte, gerade so locker saß, dass man noch immer ihre weichen Rundungen erahnen konnte.

Bevor er seine Musterung allerdings fortsetzen konnte, stapfte Cherry erzürnt auf ihn zu. Immer im Blick die Schafe sowie Sherlock und Watson, den schwarzweißen Border Collie, der ebenfalls auf die Herde achtete.

Einen guten Meter von ihm entfernt blieb sie stehen und hob trotzig das Kinn in die Höhe. »Kannst du deine verdammten Viecher bitte von mir fernhalten?«

Fergus unterdrückte ein Grinsen. Denn das wäre wirklich nicht fair gewesen. Stattdessen nickte er verständnisvoll. »Keine Sorge, Sherlock und Watson haben das im Griff.«

Verwirrt betrachtete sie ihn. »Sherlock und Watson?«

Er zeigte auf die Hütehunde. »Die beiden da drüben. Der Graubraune ist Sherlock, der Schwarzweiße ist Watson.«

Entnervt atmete Cherry aus.

»Super. Und wo treibt sich Professor Moriarty herum?« Sarkasmus troff aus ihrer Stimme, während sie versuchte, sie harsch wirken zu lassen. Aber Fergus spürte, dass sie unter enormer Anspannung stand. Deshalb unterließ er den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, und ging auf sie zu.

»Wie geht’s der Hand?« Ungefragt griff er nach den zarten Fingern und nahm sie vorsichtig in seine. Nur widerstrebend ließ Cherry sie dort. Ein deutliches Zucken vermeldete die Schmerzen, die sie haben musste. Langsam hob Fergus die Hand an, um die Verletzung besser betrachten zu können. Die Knöchel ihres Ring- und Mittelfingers schwollen bereits leicht an. Eine rotblaue Färbung breitete sich aus, und einige kleine blutige Kratzer verliefen quer über den Handrücken. »Das sieht übel aus. Wir sollten schleunigst einen Arzt draufschauen lassen.« Er beobachtete sie. »Wo tut’s noch weh?«

»Mir geht es gut.«

Ihr Widerwille zeichnete sich unüberhörbar in ihrer Stimme ab, aber Fergus hatte sie stürzen sehen. Die Hand allein mochte schmerzen, aber er war überzeugt, dass das nicht alles war. Mit hochgezogenen Brauen betrachtete er sie. Streng meinte er: »Sag schon.«

Sie starrte ihn mit schmalen Augen an, doch Fergus war zu weit in seinem Leben gekommen, als dass er sich davon hätte einschüchtern lassen. Wenngleich er ein irritierendes Gefühl in seiner Brust verspürte, während sie ihn anschaute. Er begegnete ihr mit einem maßregelnden Blick, und nach einigen Sekunden – und einem weiteren blökenden Schaf, das sie unruhig werden ließ – erwiderte sie schließlich: »Meine Rippen auf der linken Seite schießen Blitze in alle Richtungen. Und mein Schädel fühlt sich an, als wären deine doofen Schafe drübergetrampelt.«

Der Seitenhieb war unverkennbar, aber in gewisser Weise hatte sie ja recht. Also tat er, als hätte er die spitze Bemerkung nicht gehört.

»Ich fahre dich zum Doc. Er wird sich das ansehen.«

Empört wehrte Cherry seinen Vorschlag ab. »Ganz sicher nicht! Ich fahre jetzt nach Hause und gehe dort zu einem Arzt.«

»Negativ.« Fergus schüttelte den Kopf und wandte sich dann mit einem Pfiff an seine beiden Hunde. Die reagierten sofort auf den ihnen bekannten Befehl und trieben die Herde enger zusammen.

»Negativ?« Cherrys Stimme erklomm schwindelnde Höhen, und Fergus spürte, wie sie ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre.

Doch er ignorierte ihren Ausdruck geflissentlich und angelte sich sein Handy aus der Hosentasche. »Warte einen Moment.«

Warten? Oh, gewiss nicht! Cherry würde nicht warten. Die Zähne zusammenbeißend wandte sie sich von Fergus, wie der Kerl hieß, ab. Sie ignorierte seine tiefe Stimme, die in aller Seelenruhe jemandem etwas erklärte. Cherry nahm die Bedeutung der Worte allerdings kaum wahr. Sie konnte sich nur auf eine Sache konzentrieren. Mühsam blinzelte sie und ließ ihre feuchten Augen über die brachial zerlegte Violine schweifen. Den Schmerz in ihrer linken Hand sowie ihren Rippen aufs Beste beiseiteschiebend, beugte sie sich hinab und fuhr mit der rechten Hand zärtlich über den gebrochenen Hals ihrer Geige. Sie war dahin. Zerstört. Das konnte man nicht mehr reparieren.

Cherry schluckte schwer. Gefühle übermannten sie, von denen sie nicht wollte, dass sie hervortraten. Während der Wind erneut auffrischte, füllten sich ihre Augen mehr und mehr mit Tränen. Doch Cherry weigerte sich vehement, sie ihren Weg antreten zu lassen. Vorsichtig holte sie Luft und wischte sich mit der rechten Hand brüsk über beide Augen. Als würde das etwas ändern.

Dann musterte sie den beschädigten Korpus, den abgerissenen Steg, die losen Saiten und den abgetrennten Wirbelkasten, an dem von vier Wirbeln nur noch einer vorhanden war. Das Griffbrett war in mindestens drei Teile zerbrochen. Der Bogen war ebenfalls nicht mehr ganz und fortan nicht mehr zu gebrauchen. Zitternd langte Cherry nach dem größten Teil des Korpus. Man erkannte noch eines der F-Löcher, das schwungvoll in die Oberfläche gearbeitet worden war. Langsam glitten Cherrys Augen über das besondere Holz und die einzigartige Maserung auf der Oberfläche.

Neben den Tränen, die sie weiterhin energisch zurückhielt, spürte sie die Wut in sich. Allerdings galt die nicht nur den Schafen, Hunden und diesem unmöglichen Kerl auf dem Quad, der hinter ihr immer noch telefonierte. Nein, dieses Gefühl galt vor allem ihr, Cherry. Sie war so naiv und dumm gewesen. Ja, fahrlässig! So oft schon war sie mit der Violine raus in die Natur gefahren und hatte irgendwo im Nirgendwo gespielt. Sie wusste, dass sie das Instrument vorsichtig behandeln musste. Und so hatte sie darauf geachtet, dass sie nie an stark regnerischen oder nebligen Tagen draußen war. Die Feuchtigkeit tat der Geige nicht gut. Auch spielte sie deshalb nie am Meer oder direkt am Ufer eines Sees.

Bei all der Vorsicht war Cherry jedoch immer bewusst gewesen, dass sie ein großes Risiko einging. Aber sie musste raus! Sie musste die Musik spüren. Und sie musste sie auf dieser Geige spielen. Sie war Cherrys Möglichkeit, einem Teil ihres Herzens nah zu sein, obwohl dieser tausende Kilometer entfernt war.

Cherry schüttelte resigniert den Kopf und bereute es sofort. Ein dumpfer Schmerz überkam sie, und sie schloss unweigerlich die Augen. Ein Schwindelgefühl breitete sich in ihr aus. Als es wieder besser wurde, hob sie die Lider und blickte ein weiteres Mal auf die Beweise für ihre Dummheit. Wie hatte sie nur so blöd sein und denken können, es würde nichts passieren? Seit Jahren hatte sie Glück gehabt. Heute nicht. Heute bekam sie die Quittung für ihre Naivität. Vor aller Welt.

Sie hatte vorhin nur einen kurzen Blick auf den Instagram-Kanal der Academy geworfen, doch die Nachrichten und Kommentare überschlugen sich. Die Live-Übertragung ihres Unfalls ließ die Menschen jegliche Zurückhaltung vergessen. Cherry war sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der erste Medienbericht dazu erscheinen würde. Sie mochte noch kein großer Star sein, aber sie war Teil der ersten Kompanie der Academy of Irish Dance. Natürlich würde das Wellen schlagen. Mindestens kleine. Sie hoffte inständig, dass es dabei bleiben würde.

Vic hatte sie gebeten, die Leute an ihrem Alltag teilhaben zu lassen, nicht an einer PR-Katastrophe. Sie sollte unbedingt bei der Social-Media-Managerin der Academy anrufen. Vorhin war sie von dieser dämlichen Schafherde unterbrochen worden. Aber Cherry musste mit Vic besprechen, wie sie nun vorgehen sollte. Dringend.

Sie griff mit der rechten Hand bereits nach ihrem Smartphone, als sie unwillkürlich die Finger an ihrer linken bewegte. Leise schrie sie auf. Diese verdammte Verletzung! Die Angst beiseiteschiebend, hob Cherry vorsichtig ihre Hand und begutachtete die stärker werdende Schwellung. Es schien nichts gebrochen zu sein, dennoch sollte sich das ein Arzt ansehen. Sie musste zurück nach Dublin.

In diesem Augenblick hörte sie Fergus hinter sich. »Okay, wir können gleich los. Komm, wir warten unten an der Straße.«

Verständnislos musterte Cherry den Kerl, der sie umgefahren hatte. »Worauf sollen wir warten?«

»Mein Dad ist auf dem Weg und wird gleich hier sein. Er kümmert sich um die Herde, während ich dich zu unserem Doc bringe.« Er deutete auf Cherrys Hand. »Das muss behandelt werden.«

Ach, wirklich? So weit war Cherry auch schon gewesen. Sie ließ ihren Blick über das strenge, aber attraktive Gesicht des Schäfers gleiten. »Vielen Dank, aber ich brauche deine Hilfe nicht.«

Suchend schaute sie sich um und fand den schmalen Koffer, in dem sie ihre Geige normalerweise zu transportieren pflegte. Mit drei Schritten war sie bei ihm, griff danach, und ein Stöhnen unterdrückend, sammelte sie die Überbleibsel ihrer Violine ein.

Ohne zu fragen, kniete Fergus sich neben sie und half ihr dabei. Sie sagte kein Wort. Dafür war sie viel zu aufgewühlt. Nachdrücklich presste sie die Lippen aufeinander und achtete darauf, keine Bewegung zu machen, die sie vor Schmerz aufschreien lassen würde.

Nach einer Minute des Schweigens fragte Fergus plötzlich leise: »Kann man das wieder reparieren?«

Cherry biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte den Kopf schütteln, doch das würde nur ihre vermutete Gehirnerschütterung daran erinnern, schmerzhafte Signale zu senden. Also entgegnete sie mit rauer Stimme: »Wohl kaum.«

Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Nachdem Fergus den letzten abgebrochenen Wirbel auf das weiche Samt des Koffers gelegt hatte, erkundigte er sich: »Warum spielst du hier draußen? Ist das für eine Geige nicht das falsche Umfeld? Das ist doch –«

»… allein meine Sache!«, unterbrach sie Fergus aufgebracht. Natürlich hatte er recht. Aber das musste sie ihm ja nicht unter die Nase reiben. Wütend funkelte sie ihn an. »Vielleicht solltest du dich lieber fragen, warum du deine Viecher nicht unter Kontrolle hast!« Sie rang nach Luft. »Und wenn du mich mit denen schon alleine lässt, dann hättest du wenigstens die Güte besitzen können, mich nicht über den Haufen zu fahren!«

»Das war nicht meine Absicht. Du bist –«

»Ja, klar! Ich bin dir vor die Räder gelaufen. Ich weiß. Womöglich passt du nächstes Mal einfach besser auf, wenn deine Schafe ausreißen, um unschuldige Wanderer anzufallen!« Cherrys Stimme wurde laut, und mit ihrer gesunden Hand gestikulierte sie wild umher. Gerade so viel, dass sie ihre Schmerzen ertragen konnte. Irgendwie musste sie ihre Anspannung abbauen, und Fergus war nun leider die Person, die sich als Blitzableiter anbot. Selbst schuld, dachte Cherry missmutig.

Sie griff nach dem inzwischen geschlossenen Koffer und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Auto. Jeder Schritt und jede damit verbundene Erschütterung ließen sie beinahe innehalten. Wenn ihr Verdacht zutraf, hatte sie sich neben ihrer Handverletzung eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen und eventuell sogar ein paar Rippen geprellt. So ein Mist!

»Gib mir das Ding.« Fergus tauchte neben ihr auf und nahm ihr das Köfferchen einfach ab. Cherry hatte nicht die Energie, sich dagegen zu wehren. Sie war zu sehr damit beschäftigt zu atmen, ohne dass die Schmerzen sie umbrachten. Außerdem bemühte sie sich krampfhaft, sich die Sorge um ihre Hand nicht anmerken zu lassen. Nein, daran durfte sie nicht denken. Es würde schon alles gut werden. Es musste.

Sie spürte Fergus’ wachsamen Blick auf sich und wurde seiner kräftigen Statur gewahr. Er war sportlich und lief mühelos neben ihr her. Als er bemerkte, wie schwer sie sich tat, hakte er sie kommentarlos bei sich unter und gab ihr auf dem unebenen Wanderweg Halt.

Sie schoss ihm einen sauren Blick zu. »Ich kriege das schon hin.«

Er zuckte mit den Achseln und ließ ihre Pfeilspitzen ungeniert an sich abprallen. »Ich weiß.«

Wäre Cherry nicht so in ihren aufgewühlten Emotionen gefangen gewesen, hätte sie seine Geste zu schätzen gewusst. Aber mit diesem Ereignis oben auf der Anhöhe über dem Guinness Lake hatten sich plötzlich Stürme erhoben, die sie ihre gesamte Zukunft kosten konnten. Und dazu war sie nicht bereit. Zu hart hatte sie an sich gearbeitet.

Wenngleich sie so tat, als wäre all das Fergus’ Schuld, wusste sie, dass sie sich selbst einen enormen Anteil an den Geschehnissen zuzuschreiben hatte. Und das war noch viel schlimmer zu ertragen. Also nahm sie grummelnd hin, dass der Schäfer ihr Hilfe anbot.

Unauffällig warf sie ihm einen Seitenblick zu und wunderte sich ein bisschen. Ja, sein Outfit wirkte wie das eines auf dem Land arbeitenden Mannes. Die Hose verschlissen, die Stiefel schmutzig und um die Augen ein paar winzige Falten, die ihn wirken ließen, als wäre er oft bei Wind und Wetter draußen. Gleichzeitig stimmte dieses Bild irgendwie nicht. Seine Zähne waren zu weiß, wenn er lächelte. Seine Hände waren zwar stark und kräftig, aber nicht im Ansatz so aufgearbeitet, wie Cherry es sich bei einem Mann mit seinem Beruf vorstellen würde. Ebenso irritierte sie seine klare Aussprache. Sie war kein Mensch von Vorurteilen, aber trotzdem hätte sie bei ihm einen stärkeren ländlichen Akzent erwartet. Stattdessen wirkte er wie ein Kerl aus der Stadt in den falschen Klamotten, die ihm dennoch überraschend gut standen. So als würde er gar nichts anderes kennen. Es war seltsam.

Auf halber Strecke fühlte Cherry sich schließlich bemüßigt, Small-Talk zu machen. Sie wunderte sich sowieso schon, dass der Typ so einvernehmlich schweigend neben ihr herlief. Er musste doch sicherlich tausend Fragen haben. Oder Belehrungen, wenn sie an sein strenges Gesicht dachte.

»Also, Fergus Doyle«, sie nannte ihn mit Absicht bei seinem vollen Namen, »was tust du hier draußen, wenn deine Schafe nicht gerade eine unschuldige Wanderin belästigen?« Sie hatte ironisch klingen wollen, aber selbst sie bemerkte, dass ihr Ton schon wieder mit Sarkasmus gefärbt war.

Doch Fergus schien sich daran nicht zu stören. »Ich war eigentlich dabei, die Schafe zu ihrer nächsten Weide zu bringen. Normalerweise klappt das auch ohne Probleme.« Er hob eine Augenbraue und warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Allerdings hat sie wohl etwas abgelenkt.«

»Sag bloß, sie sind es nicht gewohnt, eine Fiddle spielen zu hören?« Cherry bemühte sich um ein Lächeln. Sie sollte wohl ein wenig freundlicher sein. Aber immer noch spürte sie Reste der Panik in ihrem Körper.

Unerwartet lachte Fergus und schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt.«

Cherrys Auto kam endlich in Sichtweite, und sie atmete erleichtert auf. Gleich würde sie aus dieser absurden Szenerie fliehen und sich um die Lösung ihrer Probleme kümmern. Das ließ sie auf einmal innehalten. Fragend hob sie das Gesicht. Fergus war mit seinen mindestens einen Meter fünfundachtzig einen halben Kopf größer als sie. »Solltest du nicht auf deine Schafe aufpassen, statt hier den Wanderführer zu mimen?«

»Sherlock und Watson haben das im Griff.«

Entgeistert starrte sie ihn an. »Du überlässt zwei Hunden gut fünfzig wilde Schafe?«

»Die kennen das nicht anders. Dafür sind sie ausgebildet worden.«

Argwöhnisch musterte Cherry seine aufblitzende Reihe weißer Zähne. »Du verletzt also deine Aufsichtspflicht und schiebst es deinen beiden Hunden zu? Kein Wunder, dass die Viecher außer Rand und Band waren. Wo warst du vorhin? Hast du die Aussicht genossen?«

Sie deutete mit dem Kopf vorsichtig in Richtung Guinness Lake, der sich unterhalb der Straße erstreckte.

»Du bist nicht vom Land, oder?«, fragte Fergus und bedachte sie mit einem spöttischen Blick.

»Ich ziehe geteerte Straßen und hohe Absätze vor. Das hier«, sie nickte zu ihren Wanderschuhen, »ist eine Ausnahme für besondere Anlässe.«

Er schmunzelte. »Nun, dann lass dir gesagt sein, dass es hier ein bisschen anders läuft als bei den feinen Damen und Herren in der Stadt.«

Unwillkürlich lachte Cherry leise auf. Doch der zuckende Schmerz in ihrem Rumpf ließ sie sogleich wieder verstummen. Mahnend hob sie die gesunde Hand. »Bring mich gefälligst nicht zum Lachen. Das tut weh.«

Sofort zog er seine Stirn in Falten. »Wir müssen dich endlich zum Doc bringen.«

»Mein Doc ist in Dublin, und dort werde ich jetzt hinfahren.« Nachdrücklich wies Cherry auf ihr Vorhaben hin und machte sich daran, die letzten hundert Meter zu ihrem Wagen zurückzulegen.

Fergus bot sich wieder als Stütze an, und widerstrebend nahm Cherry seine Hilfe an. Um sich von dem Unheil abzulenken, in das sie heute geraten war, ließ sie ihren Blick noch einmal zu dem dunklen See mit den weißen Schaumkronen und dem hellen Strand am nördlichen Ende gleiten. Die umliegenden Hügel bereiteten sich voller Inbrunst auf das baldige Erwachen des Frühlings vor. Obwohl Cherry überzeugte Städterin war, liebte sie dieses Panorama.

In Cherrys Körper klopfte ein irisches Herz, ebenso wie ein italienisches. Grün, weiß, orange. Grün, weiß, rot. Das waren die Farben in Cherrys Leben. Und sie verehrte sie inständig. Sie war eine etwas wilde Mischung. So besaß sie die irische Herzlichkeit ihres Vaters und war gleichzeitig die Tochter ihrer italienischen Mutter. Aufbrausend, temperamentvoll und ihre Familie ging ihr über alles. Ihre Eltern, besonders ihre Mamma, mochten es ihr nicht immer leicht machen, aber gehörte sich das nicht so? Regelmäßig gerieten sie aneinander, bekamen sich in die Haare, und oft fanden sie keinen gemeinsamen Konsens. Aber bisher hatten sie es noch immer hinbekommen, darüber hinwegzusehen. Bis auf wenige Ausnahmen. Es war ganz gut, dass ihre Eltern sich zurzeit auf einer längeren Reise durch Südamerika befanden. Dann musste sie ihrer Mamma nicht versichern, dass sie nach diesem Unfall auch ohne Hilfe zurechtkommen würde. Cherry stoppte ihr Gedankenkarussell und stellte dankbar fest, dass ihr kleiner Fiat endlich vor ihr stand.

Sie räusperte sich, doch Fergus kam ihr zuvor.

»Ich halte nichts davon, jemandem Vorschriften zu machen. Aber du solltest jetzt nicht Auto fahren.«

Schnell löste Cherry sich von seinem starken Arm und kramte mit der gesunden Hand den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche. »Das geht schon, wirklich.«

Sie zog den Bund klappernd hervor und machte Anstalten den Wagen zu öffnen. Doch der Schlüssel rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Cherry unterdrückte ein Stöhnen und wollte danach greifen, als wieder dieser stechende Schmerz durch ihren Körper jagte. Wohlweislich hatte sie ihre verletzte Hand ruhig gehalten, aber auch hier war klar, dass etwas nicht stimmte.

In Zeitlupe beugte Cherry sich hinab und hob den kleinen Gegenstand auf. Nur mit Mühe schaffte sie es, wieder hochzukommen. Sie meißelte ein trotziges Lächeln auf ihr Gesicht, allerdings half das nicht viel, um Fergus von ihrem vorgeblich guten Zustand zu überzeugen. Kopfschüttelnd brummte er: »Das ist Blödsinn. Schau dich doch mal an.«

Cherry ignorierte ihn und öffnete die Fahrertür. »Mir geht’s gut.«

Sie nahm dem protestierenden Schäfer ihren Geigenkoffer ab und legte ihn vorsichtig in den Kofferraum. Dann, unter immensen Schmerzen, schlug sie die Klappe zu und wandte sich ein letztes Mal an den Mann, der ihr das alles eingebrockt hatte. Neben ihrer eigenen Naivität natürlich.

»Danke für deine Hilfe, aber ab hier komme ich alleine zurecht.« Sie gab sich alle Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen.

Mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen musterte er sie. Seine tiefe Stimme nahm einen ernsten Ton an. »Du hast mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gehirnerschütterung. Allein deshalb solltest du nicht ans Steuer.« Er setzte noch eins drauf. »Du gefährdest damit nicht nur dich, sondern auch andere.«

Insgeheim spürte Cherry, dass er recht hatte. Aber sie wollte es nicht einsehen. Sie wollte weg, zurück in ihre gewohnte Umgebung. Sie wusste, dass schlechte Nachrichten auf sie warteten. Sie musste diese in einer sicheren Blase entgegennehmen. Würde sie das nicht, wusste sie nicht, wie sie reagieren würde. Sie war so kurz davor, ihren größten Traum zu verlieren. Sie war die erste Geige in der Kompanie der Academy und hatte endlich den ersehnten Plattenvertrag in der Tasche. Sie konnte jetzt nicht zu irgendeinem Landarzt gebracht werden, der weder sie noch ihre Ziele kannte und ihr eine halbherzige Diagnose aufdrückte. Womöglich eine falsche! Sie musste absolut sichergehen. Und das konnte sie nur in Dublin.

Angestrengt erhob sie ihre Stimme. »Ich weiß es zu schätzen, dass du dich um mich sorgst, aber ich bin nicht so verantwortungslos, wie du denkst.«

Von wegen, dachte Cherry zynisch.

»Oh, um dich mach ich mir keine Sorgen. Ich habe Angst um die Menschen, die deinen Weg kreuzen.« Fergus’ Tonfall war so trocken, dass es Cherry die Sprache verschlug.

»Na, vielen Dank auch!« Wütend wandte sie sich um, stieg in ihren Fiat und unterdrückte den tosenden Schmerz in ihrem Brustkorb.

Drei

Was hatte diese Frau nur im Sinn? Entgeistert starrte Fergus durch das kleine Fenster auf der Fahrerseite des Fiats. Just in diesem Augenblick hörte er die Hupe eines Range Rovers, der gleich darauf neben ihm in die Parkbucht fuhr.

Cherry versuchte augenscheinlich mit ihrer gesunden Hand weiterhin, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Doch es schien nicht von Erfolg gekrönt zu sein.

Kopfschüttelnd wandte Fergus sich an den älteren Mann, der soeben ausgestiegen war und neugierig auf ihn zukam.

»Na, Junge. Was ist denn hier los?«

Gute Frage, dachte Fergus. In knappen Worten fasste er die Geschehnisse zusammen. Zum Ende hin fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und seufzte. »Sie ist mir direkt vor die Räder gelaufen. So schnell konnte ich gar nicht bremsen. Und jetzt ist sie der Meinung, sie könnte allein nach Dublin zurückfahren.«

Die ruppige Stimme seines Dads, Joseph Doyle, ertönte. »Das sollte sich die Gute lieber zweimal überlegen.«

Sein Vater war erst achtundfünfzig, doch sah er schon fast aus wie Ende sechzig. Man merkte ihm die harten Jahre eines Schafbauern an. Er liebte seine Aufgabe, die seit Generationen weitergegeben wurde. Dennoch war der Job alles andere als ein Zuckerschlecken. Bei Wind und Wetter trieb Joseph die Herde auf die vorgesehenen Weiden. Die vielen Nachtschichten im Stall zur Lammzeit waren ebenfalls ein Garant für einen abgearbeiteten Mann, dem man die Zeichen der Zeit nur zu deutlich ansah.

Sein Gesicht war von Falten durchzogen, seine Wangen ein wenig eingefallen. Josephs Figur war ebenso hochgewachsen wie die seines Sohnes, allerdings begann sich sein Rücken langsam zu einem leichten Buckel zu formen. All das konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Mann eines geblieben war. Die Herzlichkeit. Nach außen mochte er manchmal ein wenig forsch und abweisend wirken. Aber tief drinnen war er einer der wärmsten Menschen, die Fergus kannte.

Jetzt schob Fergus seine Hände in die Hosentaschen und schaute abwartend zu dem immer noch stummen Fiat hinüber. »Ich fürchte, sie hat sogar dreimal darüber nachgedacht.«

Er seufzte eine Spur zu genervt auf und beobachtete, wie die eigenwillige Frau aus Dublin versuchte, mit dem Kopf durch die Wand zu kommen. So wie die Schafe der Doyles, wenn sie mal wieder ihre eigenen Pläne hatten. Fergus war es gewohnt, mit der Sturheit anderer umzugehen. Er selbst konnte manchmal unheimlich engstirnig sein. Doch wusste er meist auch, wie solche Situationen am Ende ausgingen. Also lehnte er sich gegen den Truck seines Dads, winkelte ein Bein an und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Meinst du, sie kommt zur Vernunft?«, fragte sein Dad skeptisch und stützte seine Hände in der Taille ab. Er trug, ähnlich wie Fergus, eine Arbeitshose, Gummistiefel und ein abgenutztes Flanellhemd. Zudem saß auf seinem Kopf eine alte Schiebermütze, die er nun zurechtschob.

Fergus zuckte mit den Achseln. »Sie wird keine andere Wahl haben, als zur Vernunft zu kommen.«

Er senkte kurz den Blick auf seine Armbanduhr. Ein Modell aus der Schweiz. Er hatte es sich erst letzten Monat gegönnt. Etwas, das er äußerst selten tat. Aber auf das gute Stück hatte er schon eine ganze Weile ein Auge geworfen. Und so hatte er sich zu einer Ausnahme hinreißen lassen.

Der akkurate Sekundenzeiger tickte beständig über das Zifferblatt, und Fergus überlegte. Er würde Cherry wohl noch zwei Minuten gewähren. Dann würde sie aufgeben. Mit Sicherheit.

Sein Vater drückte ihm indes den Schlüssel für den Range Rover in die Hand und nickte ihm zu. »Ich kümmere mich dann mal um den Rest.«

Ein schlechtes Gewissen legte sich auf Fergus’ Gesicht, und er löste seine verschränkten Arme. »Tut mir echt leid, Dad. Aber …«

Sein Vater winkte ab. »Mach dir keinen Kopf, Junge.« Er grinste schief. »Sorg lieber dafür, dass die Lady sich nicht noch tiefer in den Schlamassel reitet.«

»Ich fürchte, das hat sie bereits …« Unwillkürlich seufzte Fergus. »Das Quad steht noch oben«, rief er seinem alten Herrn nach, der sich bereits Richtung Wanderweg aufmachte.

Während des Gehens hob er die Hand und bedeutete Fergus, ihn gehört zu haben. Milde lächelnd schaute Fergus seinem Dad hinterher. Der leicht gebeugte Gang, die etwas schlurfenden Schritte und die herabhängenden Hände. Alles an ihm wirkte alt.

Fergus fühlte sich einmal mehr darin bestätigt, dass er regelmäßig nach Hause fuhr und seinen Eltern unter die Arme griff. Sie hatten genug für zwei Leben geschuftet. Zum Glück hatten sie bereits vor einiger Zeit begonnen, regelmäßig Freiwillige auf dem Hof aufzunehmen, die gegen Kost und Logis ein bisschen auf der Farm halfen. So wie Studenten, die Work & Travel in Australien machten, nur eben hier in Irland.

Ein lauter Fluch riss Fergus aus seinen Gedanken. Er schaute auf seine Uhr und unterdrückte ein Schmunzeln. Zwei Minuten und drei Sekunden. Er hob den Blick und beobachtete, wie Cherry sich widerwillig aus dem Fiat schälte. Dabei schmiegte sich die dunkle, locker sitzende Jeans an ihre Hüften. So wie auch ihre blaue Windjacke, die sie offen über einem schlichten grauen Pullover mit engem Bund am Hals trug. Genervt fuhr sie sich mit der unversehrten Hand durch die wilden schulterlangen Locken.

Sie besaßen eine eigenartige Farbe. Das war Fergus schon oben auf dem Hügel aufgefallen. Eigentlich waren sie schwarz. Doch in manchen Augenblicken, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf sie fiel, schimmerte ein roter Glanz auf den widerspenstigen Strähnen. Der Farbton erinnerte Fergus an ein vollmundiges, kräftiges Pint Guinness. Wenngleich viele Leute denken mochten, dass das Gebräu schwarz war, so war es streng genommen tiefrot. Aber eben so dunkel, dass es fast schwarz wirkte. Ja, dieser Glanz war es, an den er denken musste, wenn Cherrys Korkenzieherlocken umherflatterten. So auch jetzt.

Ohne ihn anzusehen, warf sie die Tür des Fiats zu, ließ den Blick über die fabelhafte Aussicht auf den Guinness Lake – wie passend! – gleiten und kam schließlich langsam auf ihn zu. Wieder schob er seine Hände in die Hosentaschen und musterte sie eingehend. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine Flut von Emotionen ab. In ihren Augenwinkeln entdeckte er sowohl Sorge als auch Niedergeschlagenheit, und um ihre vollen roten Lippen machte sich Trotz bemerkbar. Gleichzeitig spürte er, dass sich diese Frau nichts von ihm sagen lassen würde. Mochte er auch noch so recht haben, sie würde ihn vom Gegenteil überzeugen wollen. Aus unerfindlichen Gründen freute er sich auf die Auseinandersetzung, die unweigerlich bevorstand.

Für gewöhnlich war Fergus kein Mensch, der Streit suchte. Vielmehr machte er sich für die Menschen stark, die es selbst nicht konnten. Statt ihnen den Spiegel vorzuhalten, half er ihnen, den für sie passenden Ausweg zu finden, um mit sich ins Reine zu kommen. Er selbst hatte das auf schmerzhafte Art und Weise lernen müssen. Etwas, wovon außer seinem engsten Freund niemand etwas wusste. Nicht mal seine Eltern und denen vertraute er sonst alles an.

Er schob die Erinnerungen an die dunkle Zeit seines Lebens beiseite und fragte sich, warum er bei Cherry plötzlich auf Konfrontationskurs ging – mit einem Lächeln im Hinterkopf!

Er fuhr mit den Lippen übereinander und beobachtete, wie Cherry sich wortlos vor ihn stellte. Ein Blick auf ihre Hand und ihre verdrießliche Miene ließ nichts Gutes erahnen. Er musste an das Telefonat denken, das sie oben auf dem Hügel geführt hatte. Irgendetwas erwartete ihn, und er hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Aber sein Gespür trog ihn nie. Darauf konnte er sich blindlings verlassen. Schon immer. Er war vorausschauend. In allem, was er tat und wahrnahm.

Cherry räusperte sich unglücklich. Trotzig funkelte sie ihn mit ihren braunen Augen an. »Fürs Protokoll: Ich will immer noch zurück nach Dublin.«

Langsam nickte Fergus. »Aber?«

Seufzend erklärte Cherry: »Aber ich fahre ein Auto mit Gangschaltung, und dank deiner Unfähigkeit, ein Fahrzeug zu bremsen, und meinen daraus resultierenden Verletzungen«, vorsichtig hob sie ihre lädierte Hand, »schaffe ich es nicht mal, den ersten Gang einzulegen, geschweige denn den Rückwärtsgang.«

Fergus versuchte sich lässig zu geben, doch sein schlechtes Gewissen drückte ihm empfindlich auf den Magen. Cherry mochte durch ihre Aktion zwar vor sein Quad gesprungen sein und ihm damit kaum eine Möglichkeit zum Bremsen gegeben haben, aber sie hatte nicht ganz unrecht. Er trug durchaus einen Teil der Schuld an dem Unfall. Und so meinte er mit gedämpfter Stimme: »Ich hätte besser aufpassen müssen. Das tut mir wirklich leid.«

Wachsam begegnete Cherry seinem Blick. »Schön. Entschuldigung angenommen.« Sie machte eine kurze Pause und schaute zu Boden. Dann holte sie vorsichtig Luft, schloss für einen Moment die Augen und meinte schließlich leise: »Du kannst mich nicht zufällig zu eurem Doc fahren?« Schnell haspelte sie weiter: »Nur für die Erstversorgung. Anschließend fahre ich mit dem Zug nach Dublin und lasse mich dort richtig untersuchen. Ich …« Sie räusperte sich. »Ich will dir keine Umstände machen.«

Fergus hatte das Gefühl, als hätte Cherry noch etwas sagen wollen, doch sie blieb stumm.

Erleichtert nickte er. Natürlich würde er sie zum Arzt bringen. Das hatte er immerhin von Anfang an vorgehabt.

Langsam öffnete er die Beifahrertür des Range Rover.

»Steig ein.«

Cherry kämpfte sichtlich mit ihrem Stolz, und so gab er ihr einen kleinen Schubs. »Es ist nicht weit zum Doc. Liegt quasi auf dem Weg zum nächsten Bahnhof.«

Sie schluckte. »Okay. Danke.«

Vorsichtig schob sie sich auf den Sitz, und Fergus umrundete den Wagen, um sich hinter das Steuer zu begeben. Er ließ den Motor an und achtete darauf, dass Cherry den Sicherheitsgurt schloss. Dann legte er den Gang ein und bog auf die wenig befahrene Military Road, wie die Landstraße hieß.

Während sie sich auf den Weg zu der kleinen Arztpraxis in Blackslieve machten, ahnte keiner von beiden, welch große Wellen ihre erste Begegnung auf dem Hügel bereits schlug.

Für den Moment war das vielleicht auch besser so.

Fergus würde schon bald merken, dass er die Dinge von diesem Augenblick an nicht mal im Ansatz so unter Kontrolle haben würde, wie er es gewohnt war.

Schmerzen waren subjektiv. Das konnte etwas Gutes sein. Denn das bedeutete auch, dass Menschen mit einer hohen Toleranz besser damit zurechtkamen. Cherry hatte sich stets eingebildet zu diesen Leuten zu gehören. Wenn sie sich als Kind gestoßen hatte oder hingefallen war, war sie wieder aufgestanden und hatte einfach weitergespielt. Die blauen Flecken, die sie als kleines Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, waren für sie vielmehr der Beweis dafür gewesen, dass sie diesen Tag in vollen Zügen ausgenutzt hatte. Später, als sie täglich mehrere Stunden mit der Geige geübt hatte, waren der steife Nacken und die müden Arme ihr wie die Bestätigung vorgekommen, ausreichend hart an ihrem Können gefeilt zu haben.

Also ja, Cherry wusste durchaus mit Schmerzen umzugehen. Sie setzte sie in den richtigen Kontext, und schon fühlten sie sich gar nicht mehr so schlimm an. Manchmal hatten sie sogar einen positiven Sinn, wie sie sich eingeredet hatte. Doch heute war es anders. Ihr Kopf, ihre Rippen und besonders ihre Hand taten höllisch weh. Sie wusste kaum, wohin mit sich. Dass sie es nicht alleine zu einem Arzt geschafft hatte, glich in ihrer Vorstellung dem ersten Schritt des Versagens. Grandiose Voraussetzungen für ihren Umgang mit diesen Schmerzen.

Jetzt saß sie auf einer dieser typisch karamellfarbenen Liegen, auf denen ein weißes Papier ausgerollt war, und versuchte sich auf die Worte des Arztes zu konzentrieren. Die Praxis, zu der Fergus sie gebracht hatte, befand sich in einem schmalen grauen Haus inmitten einer kleinen Gemeinde. Wenn Cherry sich nicht täuschte, hatte sie den Namen auf einem Schild am Ortseingang gelesen: Blackslieve.

Die Räume waren wegen des übersichtlichen Grundrisses länglich gezogen, und so wirkte die Atmosphäre ein wenig beengt. An den Wänden befanden sich ein paar altmodische Regale mit allerhand Verbandsutensilien sowie Material, um Patienten Blut abzunehmen. Rechts von Cherry hing ein hochformatiges Poster an der Wand, auf dem nach unten hin die gedruckten Buchstaben immer kleiner wurden. Vermutlich für einen Sehtest. Einen Schreibtisch oder gar einen Computer gab es nicht, zumindest nicht in diesem Behandlungsraum. Von der niedrigen Decke strahlte ein warmes Licht herab, und ein paar Blumen am Fenster sorgten für ein wenig Wohlfühlatmosphäre.

Der Arzt schien zwar schon auf die sechzig zuzugehen, doch Cherry fühlte sich überraschend gut aufgehoben. Er zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und lächelte sie freundlich an, nachdem er den Blick von der beleuchteten Röntgenaufnahme abgewandt hatte. Er besaß eine angenehm tiefe Stimme, die sie sofort an Albus Dumbledore aus den Harry-Potter-Verfilmungen erinnerte. Anders als der mächtige Zauberer trug Doktor Falling seine Haare allerdings eher kurz, und einem Bart hatte er mit einer gepflegten Rasur abgeschworen. Die hellbraunen Haare mischten sich mit ersten silbergrauen Strähnen, aber sein Gesicht wirkte immer noch freundlich und beinahe attraktiv. Für sein Alter, setzte Cherry in Gedanken hinzu.

Dieser Eindruck wurde allerdings von seinen nächsten Worten vollkommen in der Luft zerrissen. Sie hörte, was er sagte, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Ihr war, als würde Fergus’ Quad diesmal wirklich über sie hinwegrollen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ungeachtet ihrer Träume und Bestrebungen.

»Sie haben Glück. Es ist weder etwas gebrochen, noch scheinen Sehnen betroffen zu sein. Durch den Aufprall kam es in den beiden Fingern zu einer Überdehnung der Bänder, und die Gelenkkapsel scheint ein wenig eingerissen zu sein. Wir richten das mit einer lokalen Betäubung wieder zurecht. Und dann müssen Sie sich auf mindestens zwei Wochen Schonhaltung, am besten drei, einstellen. Wenn Sie die Finger zu früh zu viel Belastung aussetzen, dann kann ich für nichts garantieren.«

Cherrys Mund wurde trocken, und Panik loderte in ihr auf, als der Doc weitersprach.

»Solche Überdehnungen sind nicht untypisch.« Optimistisch erklärte er: »Das Gute ist, dass das von alleine verheilt. Aber eben nur, wenn Sie Ihrem Körper die nötige Zeit geben.« Er wandte sich an das Regal mit Verbandszeug. »Ich werde Ihnen die beiden Finger nachher verbinden. Dann fällt es Ihnen abgesehen von den Schmerzen, die übrigens bald besser werden, auch etwas leichter, daran zu denken, sie zu schonen.«

Cherry wollte etwas erwidern, doch sie konnte kaum sprechen. Also wartete sie, bis der Doc ihre Finger betäubt, vorsichtig hin- und hergezogen und sie schließlich geschickt wieder in ihre natürliche Position gebracht hatte. Erst als er seine Hände wieder zu sich nahm, öffnete Cherry ihre zusammengekniffenen Augen.

Leise krächzte sie: »Was passiert, wenn es nicht wieder verheilt?«

Doktor Falling seufzte und hob die Augenbrauen, während er den weißen Verband um ihr Handgelenk wickelte. »Nun, im schlimmsten Fall werden Sie Ihr Leben lang Einschränkungen in der Bewegung haben, womöglich gar eine Versteifung der Finger.« Er lächelte aufmunternd. »Ich kenne solche Verletzungen. Die passieren schnell, wenn man sich die Finger verrenkt oder überdehnt. Unser Körper ist ein Wunderwerk, was die Regeneration angeht. Ich wiederhole mich, aber wir müssen ihm nur Zeit geben. Dann sollte alles gut werden.«

Er deutete auf ihren Brustkorb. »Gleiches gilt für die Rippenprellung und die leichte Gehirnerschütterung. Sie brauchen jetzt Ruhe, dann sind Sie bald wieder fit und einsatzfähig. Versprochen.« Er zwinkerte ihr zu und prüfte den angelegten Verband noch einmal. Dann erhob er sich. »Haben Sie starke Schmerzen?«

Cherry wollte automatisch verneinen, doch just in dieser Sekunde holte sie zu tief Luft und spürte den stechenden Schmerz durch ihren Körper rasen. Also nickte sie nur.

»Ich schreibe Ihnen ein Schmerzmittel auf. Nehmen Sie davon bis zu drei Tabletten täglich im Abstand von sechs Stunden, je nach Bedarf auch weniger.«

Wie betäubt griff Cherry nach dem handbeschriebenen Papier.

»Was machen Sie beruflich?«, erkundigte sich der Doc bei ihr.

Cherry war kaum in der Lage, es in Worte zu formulieren. Sie starrte auf das Blatt. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und sie spürte, wie sich erneut Tränen in ihnen sammelten. Nein, sie würde nicht weinen. Aus Prinzip. Und weil sie dank ihrer Rippenprellung gar nicht genügend Luft dafür würde aufbringen können. Sie schluckte mehrmals. Dann wisperte sie kaum hörbar: »Ich bin Violinistin bei der Kompanie der Academy of Irish Dance

Der Doc war gerade dabei, die Reste des verwendeten Verbandsmaterials aufzuräumen, als er abrupt innehielt und sich mit großen Augen zu ihr umdrehte. Er erkannte die Tragweite ihrer Verletzung binnen Sekunden. Wenn die Bänder samt Gelenkkapsel an ihrem Ring- und Mittelfinger nicht einwandfrei verheilten, so würde sie nie wieder Geige spielen können. Ihre berufliche Karriere wäre am Ende, bevor sie richtig Fahrt aufgenommen hätte. Von den Aufnahmen für ihr erstes eigenes Solo-Album ganz zu schweigen. All ihre Träume und Ziele wären hinfällig. Gleichzeitig bedeutete ein solcher Ausfall aber auch einen massiven Rückstand für die aktuellen Proben in der Academy. Würde sie diese Lücke nicht rechtzeitig wieder schließen, wäre gar ihre Position in der Kompanie gefährdet. Dabei war sie doch erst ein knappes Jahr dabei!

Cherry wurde bleich. Im Gesicht des Arztes spiegelte sich Mitgefühl, doch das wollte sie nicht sehen. Es verlieh der Situation nur mehr Realität. Es schürte ihre Ängste und Sorgen, und das machte sie verrückt. Ihre gesamte Zukunft stand auf dem Spiel – weil sie leichtsinnig gewesen war. Es war nicht Fergus’ Schuld. Es war allein ihr fahrlässiges Verhalten, das sie in diese Situation gebracht hatte. Sie war das Risiko eingegangen. In wenigen Minuten hatte sie alles über Bord geworfen, was ihr wichtig war, und nun durfte sie nicht hinterherspringen, um zu retten, was zu retten war. Nein, sie musste an Deck dieses manövrierunfähigen Schiffes bleiben und abwarten. Still und leise, während ihre Träume drohten in den schäumenden Fluten unwiderruflich unterzugehen. Wie hatte sie nur so dumm sein können?!

Doktor Falling entsprach diesem typischen Landarzt, der wusste, was in seinen Patienten vorging, ohne dass sie ihn daran mit Worten teilhaben ließen. Er setzte sich neben sie auf die Liege und lächelte ihr ermutigend zu.

»Hören Sie, Cherry. Das mag jetzt alles furchtbar schlimm wirken, aber wenn Sie sich an meine Anweisungen halten, dann sind Sie ruckzuck wieder gesund. Suchen Sie sich eine gute Praxis für Physiotherapie, und dann fangen Sie in drei Wochen sukzessive wieder an zu spielen. Das hier«, er deutete auf den Verband an ihrer linken Hand, »muss nicht das Ende bedeuten. Auch wenn es sich gerade so anfühlt.«

»Ich weiß«, presste Cherry mühsam hervor und nickte. Von wegen! Sie kämpfte die Panik in ihrem Körper herunter. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Irgendwo tief in sich fand sie ein letztes Quäntchen Kraft und erhob sich. Sie gab vor zu lächeln. »Danke für Ihre Hilfe.«

Mit seiner sanften Stimme wehrte Doktor Falling ihre Worte ab. »Nichts zu danken. Passen Sie auf sich auf und melden Sie sich gerne, wenn Sie etwas brauchen.«

Cherry nickte. Bevor sie die Tür des Behandlungsraumes öffnete, drehte sie sich noch einmal um. Sie erinnerte sich plötzlich daran, dass sie sich hier in einem Dorf befand. Und Fergus Doyle, dieser Schäfer, wartete vor dem Haus auf sie, obwohl sie ihn weggeschickt hatte. Sie hatte den kurzen Weg zum Bahnhof selbst finden wollen. Aber dieser Typ schien nie das zu machen, was man ihm sagte. An den Doc gewandt, bat sie leise: »Das bleibt doch unter uns, nicht?«

»Natürlich.«

»Gut.« Wieder nickte Cherry. »Danke.«

Sie war schon fast aus dem Zimmer, als sie erneut die Stimme von Albus Dumbledores Doppelgänger vernahm. »Geben Sie Ihrem Körper Zeit, Cherry. Dann wird das wieder. Versprochen.«

»Ist gut.« Sie würde ersticken. Jetzt. Hier. In diesem Augenblick. Also verließ sie eilig die Praxis und trat blindlings auf die Straße hinaus. Die Nachmittagssonne empfing sie mit den ersten warmen Strahlen des Frühlings, doch Cherry hatte nicht den Nerv, das wertzuschätzen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Panik erfasste ihren gesamten Körper, und noch schlimmer als zwischen den schwarzköpfigen Schafen gefangen zu sein, spürte sie, wie sie zu fallen drohte. In ein tiefes Loch, das nur aus schweigender Dunkelheit bestand.

Mühsam rang sie nach Luft. Sie legte ihre gesunde Hand an den Hals und schloss die Augen. Langsam zählte sie bis drei. Sie spürte, wie eine gefährlich wütende Hitze durch sie hindurchpeitschte und überall schmerzhafte Spuren hinterließ. Es war die Angst. Die Angst vor ihrer Zukunft, die bisher so klar gewesen war.

Mit sieben hatte sie begonnen, Geige zu spielen. Sofort war sie dem Musikinstrument verfallen gewesen. Mit dreizehn Jahren hatte sie vermeldet, eines Tages erfolgreich mit ihrer Violine über die Bühnen der Welt ziehen zu wollen. Sie hatte so hart für ihre Fingerfertigkeit geübt, kein Stück war ihr je zu schwer gewesen. Jede noch so verflixte Tonfolge hatte sie zu beherrschen gelernt. Die Aufnahme an der Academy vor einem knappen Jahr war ihr bis dato größter Erfolg. Und es sollte ihr Sprungbrett sein. Für eine dauerhafte Position in der Kompanie, aber ebenso für eine Solo-Karriere, die sie parallel in Angriff nehmen wollte. Ihre wichtigsten Vorbilder: David Garrett und Lindsey Stirling. Zwei Geigen-Größen, die die Violine in einen modernen Kontext setzten und der Welt einen völlig neuen Klang schenkten.

Cherry war zweiunddreißig Jahre alt. Das war ihr Moment. Ihre Zeit war gekommen. Die nächsten Jahre entschieden über ihren Werdegang. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt zu versagen. Ausgerechnet jetzt!

Die strengsten Kritiker Irlands hatten über ihre ersten Auftritte im Kreise der Academy geschrieben und waren sich einig: Cherry Storm hatte das Zeug, ein dauerhafter Stern am irischen Geigenhimmel zu werden. Sie beherrschte die Fiddle in all ihren Eigenheiten und schenkte den alten Stücken einen erfrischenden Klang. Wenn sie es richtig anstellte, würde sie auf direktem Weg zu einem unersetzlichen Teil der Kompanie werden. Ihr würden weltweit alle Türen offen stehen. Aber nur, wenn sie sich keine Fehler erlaubte.

Fehler. Fehler, wie mit der Geige inmitten eines Wandergebiets zu spielen und von Schafen umzingelt zu werden. Fehler, wie vor ›Shaun‹ und seinen schwarzköpfigen Freunden zu fliehen und direkt unter die Räder eines Quads zu stolpern. Fehler wie jene, die sie heute begangen hatte. Vor aller Welt.

Das erinnerte sie daran, dass sie dringend mit Vic telefonieren musste. Eigentlich war sie dazu gar nicht in der Lage, aber sie musste mit ihr sprechen. Zitternd holte Cherry ihr Smartphone hervor und tippte auf das Display. Hier draußen auf dem Land hatte sie mitunter nur schlechtes bis gar kein Netz. Sie ging in ihre Einstellung, wählte einen anderen Betreiber aus und wartete einen Moment. Plötzlich vibrierte ihr Handy ohne Unterlass. Sie hatte wieder Empfang. All die hängengebliebenen Nachrichten fluteten ihr Smartphone. Sie konnte sie gar nicht so schnell lesen, wie sie auftauchten und von neuen ersetzt wurden. Sie erkannte mehrere verpasste Anrufe ihrer Eltern sowie ihres Bruders. Aber noch eines erkannte sie zwischen dem Strom von Meldungen. Und zwar, dass die Katastrophe, die ihr Leben gerade bestimmte, um Längen größer war, als sie angenommen hatte.

Dringender denn je musste sie sich mit Vic abstimmen! Mit steifen Fingern suchte sie die Nummer heraus und wartete.

»Cherry! Um Gottes willen, wie geht es dir?« Vics aufgeregte Stimme erklang nur wenige Sekunden später in Cherrys Ohren, und sie hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt.

»Entschuldige, dass ich mich erst jetzt wieder melde.«

»Papperlapapp!«, rief Vic. »Das Wichtigste zuerst: Warst du bei einem Arzt? Dieser Sturz sah ja furchtbar aus. Ich habe es mir vorhin nochmal angesehen. Irgendjemand scheint dieses Live-Video ins Netz gestellt zu haben. Ich wusste nicht mal, dass so etwas möglich ist. Aber egal. Also wie geht es dir?«

Cherry hörte die ehrliche Sorge in der Stimme der Social-Media-Managerin und bemühte sich, fröhlich zu klingen. »Alles halb so wild. Der Arzt meint, das wird alles wieder.«

Diese beiden Sätze waren so kurz, und doch fiel es Cherry so schwer, sie auszusprechen. Sie wollte all das einfach nur hinter sich bringen und sich zu Hause verkriechen. Am liebsten würde sie die Bettdecke über ihren Kopf ziehen und erst wieder hervorkommen, wenn alles in gewohnten Bahnen verlief.

»Ein Glück! Das hätte auch ins Auge gehen können.« Vic seufzte erleichtert, und Cherry beneidete sie um diese Gelassenheit. Sie unterdrückte den Gedanken und konzentrierte sich auf das Problem.

»Es tut mir so leid. Ich habe hier wirklich schlechten Empfang und konnte deshalb kaum lesen, was die Medien schreiben. Aber ich weiß, dass ich da scheinbar etwas losgetreten habe. Bitte sag mir, dass es nichts Schlimmes ist …« Sie wollte nicht flehend klingen, wusste aber, dass es so war. Sie schalt sich dafür.

Vic zögerte einen Moment zu lang, bevor sie gewohnt amerikanisch und optimistisch ihre Stimme erhob. »Nun ja, definiere Schlimmes

Cherry schnappte entsetzt nach Luft, aber Vic redete bereits weiter. »Dein Auftritt hat in der Tat für Wirbel gesorgt. Aber soweit ich es einordnen konnte, sind die meisten vor allem beunruhigt. Es wäre also super, wenn wir heute trotz allem noch ein kleines Lebenszeichen von dir senden, damit die Leute sehen, dass es dir gutgeht.«

»Natürlich, das verstehe ich. Absolut. Kein Problem.« Sie wollte das nicht. Sie wollte einfach nicht. Aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte.

»Super!« Vic atmete fröhlich auf. »Und dann wäre da noch etwas, worüber wir sprechen sollten.« Ihr Tonfall änderte sich von einer Sekunde auf die andere.

»Okay.« Angespannt wartete Cherry ab.

»Es betrifft deinen … Unfallteilnehmer«, drückte Vic sich ein wenig ungeschickt aus.

Irritiert horchte Cherry auf. »Fergus?«

»Äh, ja.« Vic räusperte sich. »Du weißt, wer er ist?«

»Fergus Doyle?«, hakte Cherry erstaunt nach. »Er ist irgendein Schäfer hier aus der Gegend. Wieso?«

»Oh …« Vic lachte auf. »Er ist alles andere als ein Schäfer. Und genau deshalb müssen wir schnell handeln.«

Vier

»Fergus Doyle!« Cherrys Stimme schwoll bedrohlich an.

Oh, oh.

Erstaunt stieß Fergus sich mit dem Fuß vom Reifen des Range Rover ab und musterte Cherry, die in stürmischen Schritten zu ihm herüberlief. Ihr Gesicht war abwechselnd blass und rot vor Entrüstung. Hätte sie mehr Luft zum Atmen gehabt, hätte sie ihm bestimmt mehr um die Ohren geworfen als nur seinen vollständigen Namen, dachte Fergus.

Was hatte sie so aufgeregt? Doktor Falling dürfte wohl kaum etwas so Schlimmes über ihn gesagt haben. Er kannte den Doc seit seiner Geburt. Er war der Hausarzt seiner Familie, schon immer. Was also beschäftigte sie?

Fergus hatte um die Ecke geparkt. Er hatte Cherry zunächst in die Praxis begleitet, doch sie hatte vehement darauf bestanden, dass er draußen auf sie wartete. Eigentlich wollte sie gar, dass er sie von hier an in Ruhe ließ, aber dafür kannte sie ihn nicht gut genug. Natürlich würde er bleiben und sichergehen, dass es ihr gutging. Da er keinen öffentlichen Streit mit ihr wollte, fügte er sich und war vorerst zum Wagen zurückgekehrt. Nun lief eine wild gestikulierende Cherry auf ihn zu, und er fragte sich ernsthaft, ob er etwas falsch gemacht hatte. Dabei wusste er definitiv, dass das gar nicht der Fall sein konnte.

»Was ist?«, fragte er deshalb interessiert.

Nach Atem ringend und sich den Brustkorb mit der gesunden Hand haltend, stach sie ihn mit ihrem spitzen Blick auf. Wirklich, er konnte es spüren. Dabei stand sie einen guten Meter von ihm entfernt.

»Du bist gar kein blöder Schäfer!«

Amüsiert zog er die Augen zusammen, und seine Mundwinkel hoben sich leicht. »Das habe ich auch nie behauptet.«

»Das ist nicht witzig, weißt du?!«, echauffierte sie sich. »Du und deine Schafe! Was auch immer das sein soll, aber du bist … Du bist einfach …«

Er sollte nicht lachen. Aber es fiel ihm wahrlich schwer, ihrem entsetzten Gesichtsausdruck mit Ernsthaftigkeit zu begegnen. »Was?«

»Du bist der verdammte CEO von Irish Insurance!«, spuckte sie ihm regelrecht ins Gesicht.

Locker zuckte er mit den Achseln. »Na und?«

»Na und?!«, wiederholte sie beinahe kreischend, nur um kurz innehalten zu müssen und nach Luft zu ringen. Oh Gott, er durfte sie nicht so aufregen. Das war für ihre Verletzungen bestimmt nicht förderlich. Also bemühte er sich, seine Belustigung über ihre Entrüstung herunterzuschlucken und sie zu besänftigen.

» Dann bin ich eben von Irish Insurance. Was macht das für einen Unterschied?« Er wollte ihr eine Hand auf den Oberarm legen, doch sie wehrte ihn ab.

»Oh, das macht einen Unterschied!«, rief sie. »Einen gewaltigen Unterschied.«

Fergus bemerkte, dass es Cherry ernst war, und begann langsam zu erahnen, dass sie in der Tat einen Grund für ihre Empörung hatte. Vorsichtig hakte er nach.

»Cherry, was ist los?«

»Ha!« Sie wandte sich halb von ihm ab und fuhr sich mit der gesunden Hand durch ihre wirren schwarzen Locken. Mehr zu sich selbst murmelte sie: »Er fragt, was los ist. Klar, warum auch nicht?!« Sie drehte sich wieder zu ihm. Um Ruhe bemüht, wählte sie bedacht ihre nächsten Worte. »Oben auf dem Hügel beim Guinness Lake habe ich auf Instagram einen Livestream übertragen. So ein Take-over-Ding. Frag nicht«, wehrte sie seinen angedeuteten Einwand ab und redete einfach weiter. »Das Handy war gerade weit genug vom Geschehen entfernt, dass es diese ganze Schaf-Sache im besten Aufnahmewinkel übertragen hat.« Ihre Augen bohrten sich in seine, und Fergus konnte den Blick nicht abwenden. Leise flüsterte sie: »Inklusive unseres glorreichen Unfalls.«

Er registrierte, was Cherry ihm zu sagen versuchte, doch noch hatte er keinen richtigen Durchblick. Sein Gesicht musste das widerspiegeln, denn Cherry fügte ungeduldig hinzu: »Die Follower der Academy of Irish Dance haben alles einschließlich deiner namentlichen Vorstellung live miterlebt. Und jetzt spricht ganz Irland nur noch über unseren Zwischenfall. Aber während ich dachte, ich wäre einem unfähigen Schäfer vom Land in die Hände gefallen, musste ich gerade von unserer Social-Media-Managerin erfahren, dass du der verdammte CEO von Irlands größter Versicherung bist! Weißt du, was das bedeutet?« Sie ließ ihm gar keine Zeit zu antworten und fuhr ihm über den Mund. »Das bedeutet, dass das ein gefundenes Fressen für die Presse ist.« Schrill zitierte sie eine fingierte Schlagzeile. »CEO überfährt Star-Geigerin – Verschafft sich Fergus Doyle damit seinen schlimmsten Versicherungsfall?«

Matt verstummte Cherry und lehnte sich erschöpft gegen den Range Rover, auf den sie während ihres Vortrags zugegangen war. Immer noch von ihrer schnellen Erzählung überrumpelt, wandte Fergus sich irritiert zu ihr.

»Star-Geigerin?«

Entgeistert starrte sie ihn an.

»Das ist alles, was dich an diesem Schlamassel interessiert?«, fauchte Cherry und blitzte ihn an.

Fergus bemühte sich, Cherrys Informationsflut zu sortieren. Wenn er bei seinen Eltern war, hatte er meistens nur sein privates Handy dabei. Aus verschiedenen Gründen hatte er dort keinerlei Nachrichten-Apps installiert. Er nutzte es lediglich, um mit seinen Eltern und Freunden in Kontakt zu bleiben. Alles, was mit der Außenwelt zu tun hatte, pflegte er auf seinem Arbeitshandy zu behalten. Aber das lag irgendwo in seinem Handschuhfach. Seine Mitarbeiter wussten, wenn er ein, zwei Tage nach Hause fuhr, war er für sie kaum erreichbar. Und bisher war das auch nie ein Problem gewesen.

Als er damals zum CEO berufen worden war, war eine seiner ersten Amtshandlungen gewesen, ein Management aufzubauen, das verantwortungsbewusst handelte und Ahnung davon hatte, wie man mit brenzligen Situationen umging. Dadurch hatte er es geschafft, sich Freiräume zu sichern. Seiner Meinung nach war es für ein Unternehmen dieser Größe unerlässlich, dass es auch lief, wenn der CEO mal nicht sofort greifbar war. Er hielt nicht viel von einer Ein-Mann-Macht-Struktur.

Aber jetzt … Fergus hatte verdammt viele Fragen. Doch als er Cherry näher betrachtete, bemerkte er den blassen Ausdruck auf ihren Wangen. Die Frau neben ihm spielte die Starke, während sie in Wahrheit fix und fertig war. Er durfte sie jetzt nicht überstrapazieren. Also beschränkte er sich auf die wichtigsten Punkte.

»Jetzt nochmal von vorn. Wir waren live?«

Cherry nickte wortlos. »Mit jeder Sekunde dieses schrecklichen Vorfalls.«

»Wie viele haben das gesehen?«

»Zu viele. Tausende. Zehntausende.« Cherrys Gesichtsfarbe nahm einen grünlichen Ton an.

»Und die Leute wissen, wer ich bin?«

Wieder nickte sie. »Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn du bloß ein doofer Schäfer wärst«, murmelte sie und fügte hinzu: »Nichts gegen diesen Berufszweig.«

»Okay.« Fergus überlegte. Er war nicht dumm. Ihm war durchaus bewusst, welche Außenwirkung das haben mochte. Cherry hatte triftige Gründe, sich so aufzuführen. Wenn man dem nicht rechtzeitig beikam, könnte das ein PR-Desaster hoch zehn werden. Nur um sicherzugehen, griff er ein bestimmtes Thema erneut auf.

»Star-Geigerin?« Neugierig sah er Cherry an und entdeckte den Kummer auf ihrem Gesicht, den sie mühsam zu verbergen versuchte.

»Angehende Star-Geigerin. Bis heute Morgen zumindest.« Sie seufzte und starrte an ihm vorbei. »Ich spiele in der ersten Kompanie der Academy of Irish Dance

Fergus’ Blick fiel auf Cherrys verletzte Hand, und ihm wurde übel. Ein schrecklicher Verdacht nagte an ihm. »Was hat der Doc gesagt?«

Eisern presste sie ihre Lippen aufeinander, und seine Übelkeit verstärkte sich.

»Dass es wieder wird.« Cherry mochte einen überzeugenden Ton anschlagen, aber Fergus sah es ihr an. Sie glaubte selbst nicht, was sie sagte. Sie hatte Angst. Enorme Angst.

Vorsichtig streckte er die Finger nach ihrer gesunden Hand aus. Doch als er sie nur kurz berührte – es sollte eine tröstende Geste sein –, wich sie sofort zurück.

Energischer als noch zuvor wiederholte sie: »Das wird wieder.«

Fergus würde nicht darauf herumreiten. Er hatte keine Ahnung, was der Doc wirklich für eine Diagnose gestellt hatte. Aber sein Gespür sagte ihm, dass wesentlich mehr auf dem Spiel stand, als Cherry ihn glauben machen wollte. Er würde es vorerst dabei belassen und ihr Zeit geben. Wenn zutraf, was er vermutete, dann war heute der wohl schlimmste Tag im Leben dieser schönen Frau. Und er war daran mitschuldig. Die Übelkeit rebellierte in seinem Magen, doch er zwang sie herunter. Er atmete tief durch und überlegte einen Moment.

»Was sagt eure Social-Media-Managerin zu dem Ganzen?«

»Dass wir schleunigst reagieren sollten. Gemeinsam.« Cherry wandte ihm langsam das Gesicht zu.

Er nickte. »Hat sie etwas Bestimmtes im Sinn?«

Cherry hob die sorgsam gezupfte Augenbraue. »Oh ja. Sie hat einen ganzen Plan ausgearbeitet.«

Ein Schmunzeln entschlüpfte Fergus. »Fleißige Frau.«

Wortlos wandte

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Madita Tietgen
Cover: Grit Bomhauer
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2023
ISBN: 978-3-96714-303-4

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