Für Mama und Papa.
Weil ihr auf eure Art und Weise immer das Beste für mich wollt und in den wichtigsten Momenten stets für mich da seid.
Und für meine Geschwister.
Weil es zu sechst genauso großartig wie anstrengend sein kann und es sich lohnt, manchmal die Perspektive zu wechseln, um einander besser zu verstehen.
Jetzt bei fast allen bekannten Musikstreaming-Diensten oder auf maditatietgen.com zu hören:
Sean O’Sullivans »Raspberry Love« und »A Wild Girls Heart«.
Trigger-Warnung
In diesem Roman wird ein Thema behandelt, das manche triggern könnte. Um an dieser Stelle nicht zu viel von der Handlung vorwegzunehmen, kannst du unter folgendem Link einsehen, um welches Thema es sich handelt:
www.zeilenfluss.de/trigger
Vorwort
Bevor ihr in die Geschichte von Vic und William eintaucht, möchte ich euch noch etwas mit auf den Weg geben – hoffentlich ohne zu spoilern. Das Schicksal von William ist eines, das mir nicht gänzlich unbekannt ist.
Dem einen oder anderen wird beim Lesen auffallen, dass sich gewisse Gedanken etwas häufiger wiederholen. Das ist nicht dem geschuldet, dass ich als Autorin nicht in der Lage bin, diese zu vermeiden. Es liegt vielmehr daran, dass ich damit etwas deutlich machen möchte. Nämlich, dass uns manche Sorgen so nachhaltig beschäftigen, dass wir uns kaum gegen ihr fortwährendes Auftauchen wehren können. Sie sind einfach da.
Ich hoffe, dass ihr für William Verständnis aufbringen könnt und es ihm nicht übelnehmt, diese Wiederholungen zu begleiten. Vielleicht zeigt es euch vielmehr, wie sehr wir manchmal in unserem Gedankenkarussell gefangen sind. Und wie schwer es ist, daraus auszubrechen und sich einen neuen Weg zu suchen.
Eins
Wenn Träume einer Stadt gleichen würden, so wäre New York City der wohl glitzerndste und schillerndste Traum, den Vic jemals gesehen hatte. Sie lebte schon ihr ganzes junges Leben in der pulsierenden Metropole an der Ostküste der USA, und trotzdem verzauberte sie der Ort jeden Tag aufs Neue. So auch heute an diesem fantastischen lauwarmen Herbstabend, der bereits seinen dunklen Himmel über den Wolkenkratzern ausbreitete und all die Lichter aufschimmern ließ.
Vic legte ihre silberne Clutch neben sich und lehnte sich ein Stück vor, um noch besser aus dem Fenster ihres Ubers sehen zu können. Sie passierten gerade das weltberühmte Flatiron Building, das seinen Namen der Bügeleisenform zu verdanken hatte. Das spitz zulaufende Gebäude mit seinen zweiundzwanzig Stockwerken war ein architektonisches Meisterwerk. Zumindest wenn es nach Vics bescheidenen Kenntnissen ging. Die Spitze auf der einen Seite und nach hinten immer breiter werdend, flankiert von der Fifth Avenue und dem Broadway, unweit des Madison Square Parks – Vic war begeistert. Ein Haus in Manhattan, das sich dem Schachbrettmuster allein durch seinen ungewöhnlichen dreieckigen Grundriss entzog und sich im wahrsten Sinne des Wortes querstellte.
Ein bisschen so wie sie. Vic lächelte, und ihre Stimmung hob sich langsam. Die glitzernden Lichter, die die Straßen und Gebäude durchzogen, taten vermutlich ihr Übriges. Nichts war so funkelnd wie diese Stadt bei dunkler Nacht. Der hupende Verkehr zog an ihnen vorüber, und Vic schaute zu der jungen Frau, die neben ihr auf der Rückbank des Wagens auf ihrem Smartphone eine Nachricht tippte. Charlie.
Sie trug ein teures Outfit in knalligem Rot von Chanel, das ihre feinen japanischen Gesichtszüge perfekt unterstrich. Ihre langen sonnengebräunten Beine, von denen das Outfit äußerst viel preisgab, endeten in eleganten schwarzen High Heels von Louis Vuitton, und ihr glattes schwarzes Haar lag über ihrer rechten Schulter und endete knapp über ihrer Hüfte.
Genervt sah Vics Freundin auf, die sich wie jeden Abend hervorragend zurechtgemacht hatte. »Sind wir bald da?«
Vic wandte den Blick wieder aus dem Fenster. Die niedrigen Häuser von Greenwich Village tauchten vor ihr auf.
»Wie war die Adresse noch?«, fragte Vic.
»56 Greenwich Avenue.«
Sie nickte. »Dann sollten wir gleich da sein.«
Wie aufs Stichwort bog der Wagen nach rechts ab, durchquerte die 11th Street für zwei Blocks und stoppte dann an der Kreuzung zur 7th Avenue. Da sie die Kosten bereits per App beglichen hatten, entfiel der lästige Bezahlvorgang, der sonst am Ende einer Fahrt mit dem Dienst fällig wurde.
Vic winkte dem Fahrer zu. »Danke und schönen Abend noch!«
Der lächelte freundlich. »Ebenso!«
Charlie und sie stiegen aus, und Vic spürte, wie die kühle Stadtluft ihre nackten Beine umhüllte. Ähnlich wie ihre Freundin hatte sie sich heute für ein kurzes Outfit entschieden. Der Novemberabend versprach kalt zu werden, trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, ihr Lieblingskleid anzuziehen. Es reichte ihr bis knapp oberhalb der Knie und funkelte und glitzerte, was das Zeug hielt. Farblich war es wohl eine Mischung aus Weiß und Grau, aber die vielen Pailletten und kleinen eingearbeiteten falschen Diamanten ließen es herrlich auffällig schillern. Der enganliegende Stoff wurde von zwei breiten Trägern gehalten, die sich auf der Wirbelsäule überkreuzten und dadurch Vics hübschen Rücken betonten. Der Ausschnitt an ihrem Hals war dafür bescheidener. Alles konzentrierte sich auf das Funkeln und ihre Rückseite.
An ihren Handgelenken baumelten zueinander passende schmale Armbänder aus dünnem weißen Kunstleder, und ihre brünetten Haare waren frisch geschnitten – in Form eines modernen Bobs, aus dem einzelne freche Strähnen blitzten und ihr Gesicht umschmeichelten. Ihre langen Beine wurden durch die silbernen Sandalen mit einem mörderischen Absatz hervorragend in Szene gesetzt. Ein hellbrauner Mantel schützte sie vor der aufkommenden Kälte.
Vic sah fantastisch aus. Würde sie sich doch nur auch so fühlen. Ihr war heute überhaupt nicht nach Ausgehen zumute, aber danach fragte niemand. Nie.
Sie atmete tief durch, schlug einen fröhlich arroganten Ton an und wandte sich an Charlie. »Ich liebe Greenwich. So viele Bars und Restaurants. Was hat Lucy uns für heute ausgesucht?«
Lucy war die Dritte in ihrem Bunde. Die verrückte Rothaarige war mit achtundzwanzig die Jüngste – wobei Charlie und Vic selbst erst neunundzwanzig Jahre zählten. Aber Lucy erinnerte sie dennoch gerne daran. Trotzdem war Lucy es, die heute bestimmte, wo sie den Abend verbringen würden. Es ging immer reihum. Mal war Lucy dran, dann wieder Charlie und schließlich Vic. Da Vic aber Mühe hatte, ihre Motivation auf den schmutzigen wie glitzernden Straßen New Yorks zusammenzukratzen, war sie froh, nicht auch noch einen fancy Club vorschlagen zu müssen.
»Warte, sie hat geschrieben …« Charlie scrollte durch den Chatverlauf auf ihrem Smartphone. »The Fiddlestick.«
»Fiddlestick?« Vic hob skeptisch ihre Augenbraue in die Höhe. »Was soll das denn sein?«
Charlie zuckte mit den Schultern und warf ihr schönes schwarzes Haar zurück. Sie klimperte mit ihren auffälligen Wimpern und hakte sich bei Vic unter.
»Keine Ahnung, aber Lucy hat es ausgesucht. Also wird es großartig. So wie immer!«
Vic wünschte, sie könnte Charlies Enthusiasmus teilen. Allmählich ging ihr ihr Leben gehörig auf die Nerven. Aber sie sah keine richtige Perspektive, der sie hätte folgen können. Das einzige Ziel, das sie verfolgte, war, ihrem Vater das Leben möglichst schwer zu machen. Und das konnte sie. Immerhin eine Sache, die sie fabelhaft zu verrichten wusste. Gleichzeitig war es vermutlich unfair, schließlich finanzierte er ihren gut gefüllten Kleiderschrank, ihr Apartment in Manhattan und ihre ausgiebigen Partynächte in der glitzernden Stadt. Es war der Preis dafür, dass er ihr vor fünf Jahren gesagt hatte, sie solle sich endlich Freunde suchen.
Gesagt, getan. Obwohl Charlie und Lucy mehr gute Bekannte waren, statt richtiger Freundinnen. Seit nunmehr fünf Jahren zogen die drei gemeinsam durch die Bars und Clubs und besuchten die begehrtesten Partys Manhattans. Jeder, der in New York etwas auf sich hielt, setzte die drei auf seine oder ihre Gästeliste. Vic war ein Partygirl. Sie verstand es, ohne viel Mühe gute Stimmung aufkommen zu lassen, die Leute mit aufregenden Geschichten zu amüsieren, und gemeinsam mit Charlie und Lucy wurde jeder Abend legendär.
Anfangs war Vic aufgeblüht. Sie hatte sich lebendig und frei gefühlt. Ihr Dad war zwar nicht glücklich über ihren Lebensstil, doch bis auf regelmäßige Vorhaltungen ließ er sie weitestgehend gewähren. Was hätte er auch unternehmen sollen? Ihr seine Liebe entziehen? Vic die kalte Schulter zeigen? Das tat er beides bereits, solange Vic denken konnte. An dieser Stellschraube war also nichts mehr zu machen. An Vics Ehrgefühl appellieren? Oh, bitte.
Frances Malone war ein engstirniger amerikanischer Geschäftsmann, der zwei – oder waren es inzwischen drei? – Firmen besaß. Vic verlor manchmal den Überblick über seine Geschäfte. Na ja, jedenfalls besaß ihr Dad mindestens zwei Unternehmen, die erfolgreich an der Börse etabliert waren. Gleichzeitig investierte er in vielversprechende Start-ups. Kurzum, er war steinreich. An finanziellen Mitteln hatte es ihnen nie gemangelt. Aber wo so viel Geld zuhause war, blieb nicht viel Platz für aufrichtige Liebe. Zumindest nicht im Hause Malone. Aber all der Reichtum konnte selbst die käuflichste Frau nicht halten. Ein Stich durchfuhr Vics Brust. Sie schüttelte die trüben Gedanken ab und konzentrierte sich auf den heutigen Abend.
Sie wusste, wenn der richtige Song gespielt wurde, würde ihre Motivation schon wiederkehren. So war es in den letzten Wochen noch immer gewesen. Auf dem Weg zur Party wünschte Vic sich, einfach nach Hause zu gehen und sich mit einer Folge Bridgerton vor dem Fernseher verkrümeln zu können. Doch sobald sie da waren, die strahlenden Lichter über ihre Köpfe tanzten und dieses eine Lied kam, dann war Vic wieder in Stimmung. Dann verbannte sie die schlechten Gedanken und genoss einen weiteren unbekümmerten Abend in New York City. Zumindest so lange, bis sie am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen und einem fahlen Geschmack im Mund allein in ihrem Apartment am Central Park aufwachte.
Plötzlich blieb Charlie neben ihr stehen. »Da sollen wir rein?!«
Vic blickte überrascht auf. »Was?«
Ihre Freundin streckte den schlanken Arm aus und zeigte auf ein rotes Backsteingebäude. Das vierstöckige Haus zierte im Erdgeschoss eine tannengrüne Fassade. Eine Tür aus weißem Holz markierte den Eingang, quer über dem Gehsteig davor baumelte eine Lichterkette mit alten nackten Glühbirnen, die ein warmes Licht ausstrahlten.
Misstrauisch betrachtete Vic das weiße Schild mit den roten Buchstaben über dem Eingang. Fiddlestick – Bar & Grill. Dann schaute sie zu Charlie.
»Sicher, dass das die richtige Adresse ist?«
Ihre Freundin nickte. »Die hat Lucy mir geschickt.«
In diesem Moment wurde die Tür des Lokals aufgerissen, laute Musik drang nach außen, und eine schlanke rothaarige Schönheit tippelte in goldenen High Heels auf den Gehweg hinaus.
»Da seid ihr ja endlich!« Lucys Parfumwolke umnebelte die beiden, während sie Charlie und Vic ein Küsschen links, ein Küsschen rechts auf die Wange hauchte – oder besser gesagt in deren Luftraum. Niemals würden ihre Lippen riskieren, das sorgfältig aufgetragene Make-up ihrer Party-Freundinnen zu ruinieren.
Charlie machte ihren Zweifeln sofort Luft. »Lucy, was machen wir hier? Was ist das bitte?«
Sie zeigte mit ihrem perfekt manikürten Fingernagel auf das Lokal, aus dem Lucy soeben gekommen war.
Aufgeregt klatschte die wiederum ihre Hände zusammen und hüpfte, so gut es ihre Absätze zuließen, auf und ab. »Oh, es ist großartig. Ich weiß …« Sie sah streng in die Gesichter ihrer Freundinnen. »Eigentlich ist so ein Pub nicht unser Stil, aber das wird ein phänomenaler Abend. Ich verspreche es. Lasst euch heute Abend für eine halbe Stunde darauf ein.« Sie hob den Zeigefinger und setzte einen verschwörerischen Blick auf. »Wenn es euch dann immer noch nicht gefällt, gehen wir woandershin. Ehrenwort.«
Vic schmunzelte und hakte sich bei Charlie unter, die immer noch kritisch dreinsah. »Gib dir einen Ruck, Charlie.« Sie musterte die Fassade. »Vielleicht treffen wir ja auf ein paar hübsche Seemänner, die du um deinen Finger wickeln kannst.«
Vic lachte.
»Ich wickle niemanden um den Finger. Die kommen alle von ganz alleine zu mir.« Schließlich grinste Charlie. »Also gut, eine halbe Stunde.«
Vic nickte bekräftigend. »Eine halbe Stunde.«
Lucy lief vor und öffnete die Tür. Über die hinausdringende Musik rief sie: »Rein mit euch!«
Gemeinsam traten die drei Frauen ein, und Vic wehte der überraschende Geruch von frischen Kräutern und Gewürzen entgegen. Im Inneren zogen sich die roten Backsteinmauern fort, ebenso rustikale Lichterketten mit großen nackten Glühbirnen, die in jedem Winkel des Pubs für schummriges Licht sorgten.
Während Stühle und Barhocker mit schwarzen Ledersitzen um alte Holztische angeordnet waren, zog sich die Bar gegenüber vom Eingang einmal quer durch den gesamten Laden. Aus alten Holzplanken gearbeitet, verlieh die Theke inklusive der rustikalen Regale dahinter, auf denen sich zahlreiche Spirituosenflaschen aneinanderreihten, dem Pub ein elegantes und gleichzeitig gemütliches Flair. Für die meisten Besucher. Vic hingegen empfand den Raum eher als altbacken und historisch. Selbst das Fahrrad, das an der Backsteinwand auf der linken Seite hing, besaß mit Sicherheit bereits Denkmalschutz, so alt wie es zu sein schien.
Vic ließ ihren Blick durch den gut gefüllten Raum schweifen. Die Musik, die sie bereits auf der Straße vernommen hatte, wurde von einem DJ zusammengestellt, der sich abseits der Bar über ein professionelles Pult beugte und moderne Songs mit Irish Folk mischte. Musik, die Vic normalerweise nie hörte, doch es klang gar nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte.
Lucy zog sie durch die Menschenmenge zu einem Tisch, an dem bereits eine Handvoll Leute saßen. Gut gelaunt nickten sie Charlie und Vic zu, und Lucy stellte einen nach dem anderen vor. Doch Vic hörte nur halb hin und sah sich lieber noch ein wenig um. Kellner servierten Burger, Kartoffeln, die in Spiralen geschnitten waren, und knackig frische Salate. Dazu allerhand bunte Cocktails. Nach nur wenigen Tellern, die an Vic vorübergetragen worden waren, merkte sie, dass es hier vielleicht bodenständiges Essen geben mochte, dieses allerdings in höchster Präzision und mit einem gewissen Anspruch zubereitet wurde. Sie waren in einem Pub, aber er schien alles andere als ein Nullachtfünfzehn-Laden zu sein. Ein weiterer rosafarbener Drink kam Vic unter die Augen. Vielleicht war es hier doch nicht so schlecht, überlegte sie. Aber nur vielleicht.
Fragend wandte sie sich nach der Vorstellungsrunde an Lucy. »Warum ausgerechnet das hier?«
Sie breitete die Arme aus und sah ihre Freundin irritiert an.
Die fuhr sich schwungvoll durch die roten Haare. »Ich habe auf Instagram davon gelesen. Und ein paar Freunde waren schon mal hier. Ich glaube, das hier wird der nächste Place to Be!«
Argwöhnisch musterte Vic erneut den Pub. Der nächste Place to Be? Na ja, das war vielleicht ein bisschen weit hergeholt. Ihr Blick fiel auf ein Schild hinter der Bar. ›Established 1997‹. Okay. Der Laden hatte bereits mehr als fünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel. Vic seufzte und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Ihre Augen glitten über ein großes Bild an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigte eine Schwarz-Weiß-Fotografie von einer ihr unbekannten Stadt. Ähnlich wie Vic es eben auf der Straße von außen gesehen hatte, zierte das Foto eine Häuserwand mit einer Holzfassade, die aufwendig mit Geranien bepflanzt war. Ein kleines Fenster gewährte Einblick in ein Lokal, doch auf der Fotografie erkannte man nicht viel. Es musste sich ebenfalls um einen Pub handeln, so viel war klar. In großen Lettern standen über dem Eingang auf dem Bild die Worte ›The Temple Bar‹.
»Du bist Vic, oder? Lucy hat so viel von dir erzählt!« Ein junger Mann suchte ihre Aufmerksamkeit, und in gewohnter Manier setzte Vic ein strahlendes Lächeln auf und widmete sich dem Small Talk. Im Hintergrund nahm sich der DJ Shut up and Dance von Walk the Moon vor, und Vic spürte, wie sich ihre Stimmung ganz langsam hob.
Sie waren erst spät im Pub angekommen, und jetzt ging es bereits auf Mitternacht zu, Vic unterdrückte ein Gähnen. Wider Erwarten hatte Charlie sich schließlich auch auf diesen neuen Ort eingelassen, und so waren die drei Partyköniginnen an diesem Sonntagabend nicht in einem Tanzclub, sondern tatsächlich in diesem Pub gestrandet. Vic fühlte sich einerseits wohl, andererseits konnte sie mit dem Konzept immer noch nichts so recht anfangen. Es war rustikal, aber irgendwie auch elegant. Es war bodenständig, aber irgendwie auch abgehoben. Wer bitte montierte denn ein Fahrrad an die Wand? Der DJ kreierte einen nicht nachvollziehbaren Mix aus Charts und Irish Folk, und Vic tat sich sichtlich schwer, all das einzuordnen.
Immerhin hatte sie wieder halbwegs gute Laune. Auch wenn sie die Gespräche beinahe zu Tode langweilten. Es war doch immer der gleiche Small Talk mit nichtssagenden Gesichtern, die man am nächsten Tag sowieso wieder vergessen hatte. Für einen Abend hatte man gemeinsam Spaß, trank Wein, Champagner und Cocktails, und am nächsten Morgen ging jeder seinem eigenen Leben nach. Einzig Charlie und Lucy waren eine Konstante in Vics Leben. Keine verlässliche, so wie Freundinnen es normalerweise waren. Aber in Vics Augen kamen die beiden einer Freundin noch am nächsten.
Sie entschuldigte sich bei ihrem Gesprächspartner, einem gutaussehenden Hipster, der doch tatsächlich an der Börse arbeitete – New York brachte immer wieder seltsame Erscheinungen hervor –, und begab sich zur Bar. Sie brauchte eine Pause von diesen bedeutungslosen Gesprächen. Sie strich ihr funkelndes Lieblingskleid glatt, fuhr sich durch ihren fransigen Bob und steuerte auf eine Lücke an der Theke zu. Der DJ entschied sich nach Ophelia von The Lumineers nun tatsächlich für Vics absoluten Lieblingssong. A Wild Girl’s Heart von Sean O’Sullivan. Noch während die ersten Töne erklangen, durchfuhr Vic der bekannte Launenwechsel. Sie lief plötzlich aufrechter, ihre Augen fingen an zu leuchten, und ein ehrliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ab jetzt würde es ein guter Abend werden. So war es in den letzten Wochen fast immer gewesen. Mit Sean O’Sullivan im Ohr konnte nichts schiefgehen.
Überschwänglich lehnte Vic sich an die Bar und begutachtete die Getränkekarte.
»Was darf’s sein?« Der Barkeeper trug ein schwarzes Shirt mit dem Logo des Pubs. Einem flauschigen Pudel, der an einem Weinglas – oder war es ein Bierglas? – nippte. Herrlich! Vic konnte sich ein ehrliches Lächeln nicht verkneifen. Wie kam man auf so ein Logo? Unentschlossen betrachtete sie den jungen Mann hinter der Theke.
»Was kannst du empfehlen?«
Er musterte sie. »Cocktail?«
Vic hatte bereits zwei schicke rosafarbene Getränke auf ihrem Konto zu verzeichnen. Ihr war nach etwas anderem. Aber wonach? Sie zuckte mit den Schultern.
»Nicht wirklich.«
Der Barkeeper ließ seine Augen über die Gäste und Getränke, die sie in Händen hielten, schweifen, dann musterte er Vic einen kurzen Moment und grinste. »Ich weiß da vielleicht was.«
Er bückte sich, holte aus dem Kühlschrank, der unter der Theke zu sein schien, eine Flasche heraus, öffnete sie und goss den Inhalt in ein Pintglas, das er zuvor mit Eiswürfeln gefüllt hatte.
Vic bezahlte direkt mit ihrem Smartphone und beäugte das gelbliche Getränk misstrauisch. Kohlensäure stieg auf, und eine kaum erkennbare Schaumkrone verschwand in der Flüssigkeit. Es sah ein bisschen aus wie Bier. Na super, Vic hasste Bier.
»Was ist das?« Argwöhnisch hob Vic den Blick.
»Irisches Gold.« Der Barkeeper lachte und kümmerte sich um den nächsten Gast.
Unzufrieden blieb Vic zurück und musterte ihren Überraschungsdrink. Na ja, was sollte es? Sie hob das Glas, nahm einen Schluck und wurde von dem Geschmack reifer spritziger Äpfel überrascht. Ein wenig herb, und gleichzeitig süß und vollkommen. Ein bisschen wie Apfelschorle, nur viel besser. Und mit Alkohol.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Vielleicht hatte der Barkeeper eine gute Wahl für sie getroffen.
Mehr zu sich selbst murmelte sie: »Irisches Gold, so so.«
Plötzlich ertönte eine tiefe Stimme neben ihr. »Eigentlich ist es einfach nur Cider.«
Irritiert hob Vic den Kopf und blickte auf. Der Mann, der rechts neben ihr auf einem Barhocker saß, lächelte ihr freundlich zu. Er war nicht viel älter als sie, wirkte aber wesentlich erwachsener.
»Cider?« Wiederholte Vic neugierig.
Der Fremde nickte. »Jep. Cider.«
Vic setzte sich ebenfalls auf einen Barhocker. »Und was genau ist Cider?«
»Simpel ausgedrückt: fermentierter Apfelsaft. Durch den Gärungsprozess und die hinzugegebene Hefe wandelt sich der Fruchtzucker schließlich in Alkohol um.« Er deutete auf ihr Glas. »Und das ist dann Cider.«
Vic musterte den Mann interessiert. Er war nicht von hier. Eindeutig. Sein Akzent war irgendwie … nicht amerikanisch. Aber auch nicht britisch. Vic wusste, wie die Briten sprachen. Das hier klang anders. In dem schummrigen Licht konnte sie seine Gesichtszüge nicht genau erkennen, doch es war eindeutig, dass es sich um ein gutaussehendes Exemplar von wo auch immer handeln musste.
Freundlich streckte Vic ihre Hand aus. »Ich bin Vic.«
Der Mann lächelte und drückte ihre Hand, während er seinen Blick über sie gleiten ließ. Als er wieder in ihre Augen sah, hielt er noch immer ihre Finger in seinen. Es hätte sich unangenehm anfühlen müssen, doch Vic spürte vielmehr ein aufregendes Kribbeln auf ihrer Haut.
»Vic?« Fragend gab er ihre Hand frei, beobachtete sie jedoch weiterhin.
Sie schmunzelte. Es war ihm aufgefallen. Also setzte sie zur Erklärung an. »Eigentlich Victoria. Aber mein Vater hasst die Abkürzung. Also liebe ich sie.«
Der Fremde nickte, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »William.«
»Du bist nicht von hier«, stellte Vic fest und nahm einen weiteren Schluck von dem für sie neuen Getränk. Sie spürte die Kohlensäure in ihrem Hals sprudeln und wie die Äpfel ihren intensiven Geschmack in jedem Winkel ihres Mundes ausbreiteten.
William nickte erneut. Doch statt zu antworten, stellte er eine Gegenfrage. »Woran merkt man das?«
Vic schlug die Beine übereinander und straffte den Rücken. Dann musterte sie ihn eingehend und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Fangen wir mit dem Offensichtlichen an. Dein Akzent.« Sie zwinkerte ihm zu. Dann blieb ihr Blick an seinem Kopf hängen. Sie deutete mit den Fingerspitzen auf ihn. »Wir sind hier zwar in New York, wo es so gut wie jeden Modestil auf der Straße zu sehen gibt, aber hier trägt trotzdem niemand eine … Was ist das überhaupt? Eine Schiebermütze?«
Vic betrachtete den graumelierten Stoff, der sich flach über Williams Kopf zog, hinten leicht abgerundet und nach vorne mit einem schmalen Vorsprung versehen. Es erinnerte sie an den Kleidungsstil einer Serie, die sie letztens erst geguckt hatte. Sie spielte in den Zwanzigerjahren in Birmingham … Nur, dass Williams Modell etwas moderner geschnitten war.
In vorgegebener Entrüstung nahm William seine Schiebermütze ab. »Was ist verkehrt daran?«
»Ich sage ja nicht, dass es verkehrt ist. Du hast gefragt, woran man merkt, dass du nicht von hier bist. Also …« Sie schnappte sich die Mütze aus Williams Fingern und begutachtete sie. »Also, aus welchem fremden Land kommst du?«
Vic lachte, legte das Accessoire auf die Theke und bediente sich an einer kleinen Schüssel mit gebrannten Mandeln, die eine salzige Ummantelung besaßen. Eine geschmackliche Überraschung, wie Vic sie bisher nur selten erfahren hatte. Gleich darauf langte sie erneut zu.
»Irland.« William, der neben der Schiebermütze in einem schlichten schwarzen Hemd und dunklen Jeans unterwegs war und dessen Haar nun ein wenig unordentlich wirkte, sprach dieses Wort mit einer eigenartigen Stimme aus.
»Irland?«, wiederholte Vic deshalb.
»Irland.« Er lächelte zurückhaltend und nahm einen Schluck von dem Guinness, das vor ihm stand. Natürlich. Guinness. Das irischste aller Biere. Vic hatte keinerlei Verbindung zu diesem Land. Sie war zwar jedes Jahr auf der wohl größten St.-Patrick’s-Day-Party New Yorks eingeladen, aber wirklich viel hatte das mit Irland vermutlich nicht zu tun. Doch dann kam ihr ein Gedanke.
»Es heißt, auf der Grünen Insel ist das Glück zuhause.«
William wog den Kopf hin und her. »Das mag sein, aber es zu finden, darin besteht die Herausforderung.«
Vic schmunzelte und schob sich eine weitere salzig gebrannte Mandel in den Mund. »Gesprochen wie ein Dichter.«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Samuel Beckett wäre enttäuscht von mir.«
Erfreut, dass Vic mit dem Namen etwas anfangen konnte, dachte sie einen Moment lang nach. Dann zitierte sie den berühmten irischen Schriftsteller: »Moralisten sind Menschen, die sich dort kratzen, wo es andere juckt. Nichts ist komischer als das Unglück – natürlich anderer. Unsere Zeit ist so aufregend, dass man die Menschen eigentlich nur noch mit Langeweile schockieren kann. Wir fragen immer nur, ob es ein Leben nach dem Tode gebe.«
Erstaunt hob William seine Brauen in die Höhe. »Haben wir hier etwa einen Fan?«
Lachend schüttelte Vic den Kopf. »Nur eine verlorene Seele mit Abschluss in Literaturwissenschaften.«
Zwei
»Sorry, Leute, aber wir machen Schluss für heute.« Der Barkeeper klopfte auf den Tresen, und William bemerkte zum ersten Mal in dieser Nacht, dass er die Zeit vergessen hatte. Die Frau, deren Kleid ihn an einen glitzernden Schneesturm erinnerte, hatte es doch wahrhaftig geschafft, ihn in ein zweistündiges Gespräch zu verstricken und von seinen deprimierenden Gedanken abzulenken. Zugegeben, ihre direkte Art, das herzliche Lachen und ihre gesamte Erscheinung taten ihr Übriges. Es war seltsam.
William hielt normalerweise nicht viel von Frauen, die sich übermäßig zurechtmachten und eindeutig auf Aufmerksamkeit aus waren. Er bevorzugte eher den stilleren Typ, die Schönheiten, die nicht von sich selbst eingenommen waren, sondern sich einer Sache verschrieben hatten und einer Leidenschaft nachgingen. Insofern wunderte es ihn ehrlich, dass er sich heute Abend so gut amüsiert hatte.
Vic erschien ihm äußerlich wie ein High Society Girl, das keine Party ausließ. Doch je länger sie sich unterhielten, desto weniger gewann er den Eindruck, dass sie tatsächlich das war, was sie vorgab zu sein. Welches It-Girl konnte Samuel Beckett zitieren? Er fragte sich unwillkürlich, wie alt sie wohl sein mochte. Sie hatte einen Master in Literaturwissenschaften, doch sie wirkte so jung und zerbrechlich. Sie musste Ende zwanzig sein. Niemals über dreißig. Aber wozu machte er sich einen Kopf? Morgen ging sein Flug nach Chicago. Und von dort reiste er in den nächsten Wochen weiter quer durchs Land. Er war lediglich für einen Zwischenstopp in New York.
William beglich ihre gemeinsame Rechnung beim Barkeeper – unter Vics Protest. Noch so etwas. Sie pochte darauf, ihre Getränke selbst zu bezahlen. Ließen sich Frauen wie sie sonst nicht lieber einladen?
Tadelnd betrachtete sie ihn, als sie schließlich auf die Straße hinaustraten. Es war dunkel, doch die zahlreichen Lichter der Stadt erhellten jeden Fleck um sie herum. Selbst hier in dem weniger von Wolkenkratzern umgebenen Greenwich Village. William mochte den Flair, den das Viertel ausstrahlte. Das Fiddlestick unterschied sich zwar von den Pubs zuhause in Irland, aber es gab ihm dennoch das Gefühl von Geborgenheit. Das konnte er derzeit gut gebrauchen. William hatte heute mit einem seiner Brüder telefoniert. Sean. Er war ein Kämpfer und nur wenige Jahre älter als William. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken daran zusammen, und wieder spürte er diese innere Wut. Die Welt war ungerecht. Egal, wie sehr man das Gegenteil zu beweisen versuchte.
Zeitgleich spürte William das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Er sollte zuhause in Irland sein. Bei Sean und dem Rest seiner Familie. Nicht hier auf der anderen Seite des Erdballs. Sein Bruder brauchte ihn. Doch als er bei dem Telefonat erneut davon angefangen hatte, hatte Sean ihm vehement widersprochen. Wie die vielen Male zuvor auch schon. Immerzu sagte er, William könne auch nichts an der Situation ändern. Und Sean wüsste, dass sein Bruder im Herzen bei ihm war.
Lachend hatte er im Sommer bereits gemeint: ›Lilly und Mom wuseln sowieso schon die ganze Zeit um mich herum. Du würdest nur im Weg stehen, Will. Bleib, wo du bist, und mach unseren Schwager stolz.‹
Also hatte William nachgegeben und war Ende August in die Staaten gereist. Er war dankbar, dass Sean in diesem Sommer auf Lilly getroffen war. Diese beiden Menschen waren füreinander geschaffen, und obwohl William sie nur kurz kennengelernt hatte, hatte er erkannt, dass sein Bruder keine bessere Frau für sich hätte finden können. Und so wusste er Sean in guten Händen und konzentrierte sich auf seinen Job.
William gehörte, wie sein Bruder Sean, zu den O’Sullivans. Ihre Familie zählte zu den einflussreichsten Brauerei-Dynastien Irlands. Doch anders als das Cider-Unternehmen seines Schwagers James Arthur Byrne vertrieben die O’Sullivans ihre Produkte lediglich auf der Grünen Insel. Der Mann seiner ältesten Schwester Clare O’Sullivan Byrne hingegen besaß die größte irische Brauerei, die auch international Geschäfte machte. Seit Jahren schon etablierte sich die Marke weltweit und zog in den Pubs und Getränkemärkten rund um die Welt ein.
Nachdem William sein Studium in Betriebswirtschaft und Markenkommunikation abgeschlossen hatte, war er vom O’Sullivan’schen Familienbetrieb in das Unternehmen seines Schwagers gewechselt. Gemeinsam mit dem besten Freund seines Schwagers hatte er die Markenkommunikation von Byrnes Cider optimiert und war nun für den Bereich USA und Kanada zuständig. Vor mehreren Wochen schon war er in New York angekommen, hatte neue Verträge mit lokalen Pubs sowie einer US-weiten Getränkekette unter Dach und Fach gebracht. Anschließend war er durch das ganze Land gereist, um nun wieder Station in New York zu machen. Morgen würde er weiter nach Chicago reisen und Byrnes Cider in die dortigen Pubs tragen beziehungsweise die bereits bestehenden Verbindungen kräftigen.
Immer noch fühlte er sich schuldig, weil er hier war und nicht bei Sean, dem es nicht gutging. Aber nach den eindringlichen Worten seines Bruders heute war William letztlich geblieben, wo er war. Mit einem schrecklichen Gewissen, verzweifelt und wütend. Um den Stimmen in seinem Kopf zu entfliehen, war er schließlich durch die abendlichen Straßen New Yorks gelaufen und hier im Pub versandet. Wo sonst würde ein Ire landen, wenn er sich einsam fühlte?
»Du hättest mich nicht einladen müssen.« Vic zupfte ihre Frisur zurecht und riss ihn aus seinen Gedanken. Er musterte den frechen Kurzhaarschnitt, der ihren zarten Wangenknochen schmeichelte. Ihre Augen erinnerten William an schmelzendes Karamell und rissen ihn zu seinen nächsten Worten hin.
»Hast du heute noch etwas vor?«
Wachsam hob Vic ihren Kopf. Das Prickeln, das sie in den letzten Stunden bei jedem von Williams Worten begleitet hatte, verstärkte sich und machte es sich in ihrem Schoß gemütlich. Beinahe verschluckte sie sich, als sie ihre Stimme leise erhob.
»Das kommt darauf an.«
William ließ seine grünen Augen über sie gleiten.
»Worauf?« Der seidig sanfte Ton strich über Vics Haut hinweg.
Vic war nicht so eine. Sie mochte von Party zu Party ziehen, doch so gut wie nie ließ sie sich auf einen One-Night-Stand ein. Sie war vermutlich die prüdeste Neunundzwanzigjährige, die New York zu bieten hatte. Dass die Leute das Gegenteil von ihr dachten, verdankte sie ihren schauspielerischen Fähigkeiten. Die Menschen glaubten, was sie glauben wollten. Bestärkte man sie darin auch nur ein wenig, schrieb sich die Geschichte bereits von selbst. Ihr lag nichts daran, als Aufreißerin abgestempelt zu werden. Es gehörte irgendwie zu dem Image, das sie unbewusst etabliert hatte. Und war es einmal gefestigt, ließ es sich kaum aufhalten. Und so hatte sie wenigstens stets eine Geschichte, hinter der sie ihr eigentlich so zurückhaltendes Sexualleben verstecken konnte.
Gewiss, sie war keine Jungfrau mehr. Aber als sonderlich erfahren würde sie sich auch nicht beschreiben. Und doch verspürte sie heute Abend einen eigenartigen Abenteuerdrang. Waren es diese irischen Augen, die sie an die verbotene Frucht denken ließen?
Charlie und Lucy hatten sich längst verabschiedet. Schon vor einer Stunde waren sie in den nächsten Club weitergezogen. Aber Vic hatte keine Lust gehabt. Lächelnd hatte sie ihren Freundinnen viel Spaß gewünscht und das Gespräch mit William fortgeführt. Wohl wissend hatten die beiden ihr zugezwinkert. Aber war Vic darauf aus gewesen? Nein, eigentlich nicht. Sie hatte die Gesellschaft von William überraschend genossen. Er war ein ruhiger, unaufgeregter, aber irgendwie doch sympathischer Typ, der erstaunlich weltgewandt war.
Abwartend betrachtete der Ire sie nun.
Vic überlegte, schließlich meinte sie: »Ob es dort, wo wir hingehen, diesen … wie hieß er noch? Cider?«
William nickte schmunzelnd.
»Ob es dort, wo wir hingehen, Cider gibt.« Vic grinste und umfasste ihre Clutch ein bisschen fester.
Ein Lächeln legte sich auf Williams Gesicht. »Praktischerweise gibt es das tatsächlich.«
Vic unterdrückte ein nervöses Lachen. Trotz der vergangenen zwei Stunden, die von einem intensiven Austausch gespickt waren, wusste sie rein gar nichts über diesen Mann vor sich. Nur, dass er aus Irland stammte, vor einer langen Reise durch die Staaten stand und irgendwas mit Cider zu tun hatte. Doch abgesehen davon hatten sie über alles und nichts und vor allem Literatur und die New Yorker Museen gesprochen. Durfte sie es wagen? Durfte sie sich auf ein Abenteuer einlassen, obwohl sie nicht für Abenteuer gemacht war?
Die intensive grüne Farbe in Williams Augen ließ Vic an den Central Park denken. Ein Ort der Ruhe mitten in der pulsierenden Stadt und trotzdem immer für einen spannenden Tag im Großstadtdschungel zu haben. War es mit William vielleicht ähnlich? Er würde sie von ihren trüben Gedanken für eine Nacht ablenken, und am nächsten Morgen würde wieder jeder seiner Wege gehen.
Das Feuer in ihrem Schoß entfachte sich. Ein aufregendes Flattern durchfuhr ihren Bauch, und ihre Atmung wurde schneller. Sie hatte sich entschieden. Sie wollte diesen Mann, unter dessen schwarzem Hemd sich ein definierter Oberkörper verbarg und dessen kräftige sehnige Unterarme mitsamt der großen, starken Hände geradezu nach ihrer Berührung riefen. Hier draußen konnte Vic seine Erscheinung endlich viel besser begutachten. Ihr Urteil war eindeutig. Ihr gefiel, was sie sah.
Vic biss sich auf die Unterlippe, dann lächelte sie. »Also gut, wo geht’s lang?«
Fünfzehn Minuten später öffnete William die Tür zu seinem Hotelzimmer. Vic roch den typischen Duft der Lufterfrischer, wie sie in hochkarätigen New Yorker Hotels verwendet wurden. Eine Mischung aus Mandelblüten und Flieder. Ihre hohen Absätze versanken in dem dicken Teppich, als sie zögernd den Raum betrat. Das hier war neu für sie. Neu und aufregend. Aber irgendwie auch beängstigend. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, und ihr Mund wurde trocken. Sie wollte das. Sie hatte sich dafür entschieden, aber dennoch fühlte sie sich wie eine Anfängerin. Und sie hasste es, unsicher zu sein.
Leise ertönte Williams Stimme hinter ihr, als er das gedämpfte Licht einschaltete.
»Alles in Ordnung?« Er musste ihre Zweifel bemerkt haben.
Vic setzte ein, wie sie hoffte, überzeugendes Lächeln auf. »Bei mir schon.« Dann fiel ihr Blick unwillkürlich auf einen mittelgroßen offenen Karton, in dem ein gutes Dutzend Flaschen verstaut war. Cider. William hatte nicht gelogen. Herausfordernd funkelte sie ihn an. »Wie steht’s mit dir?«
Langsam kam er auf sie zu und musterte sie begehrlich von oben bis unten. Dann schüttelte er schmunzelnd den Kopf. »Eigentlich mache ich so was nicht.«
Vic verspannte sich. »So was?«
William nickte und griff nach ihrer linken Hand. Sanft legte er seine Finger um ihre.
»Eine fremde Frau in einer fremden Stadt in einem fremden Pub anzusprechen und sie …« Er verstummte, dann fügte er hinzu: »Das ist für gewöhnlich nicht mein Stil.«
Ein unerwarteter Strom von Wärme durchflutete Vic. William konnte viel erzählen, doch aus einer naiven Laune heraus glaubte sie ihm.
Kaum hörbar flüsterte sie: »Meiner auch nicht.« Dann auf einmal fiel Vic etwas ein und sie zog sich ein Stück zurück. »Ich … Also ich nehme die … Aber …« Sie stammelte unsicher und ärgerte sich über ihre zitternde Stimme.
Doch wider Erwarten schien William sie längst zu verstehen. Sanft lächelte er. »Ich hätte sowieso verhütet. Sicher ist sicher.«
Erleichtert schluckte Vic und spürte, wie William sich ihr beständig näherte. Keinen Moment lang ließ er sie aus den Augen. Ihr war, als würde er auf den Grund ihrer Seele blicken. Sie wünschte, er würde ihr sagen, was er dort sah, denn sie selbst hätte es zu gern gewusst. Sie befand sich auf einem Weg, von dem sie nicht wusste, wo er sie hinführte. Ohne Ziel. Ohne Wegweiser. Ohne Navi. Es gab keine Blocks oder Straßenkreuzungen, an denen sie sich orientieren konnte. Sie lief und lief und lief und kam doch nie an.
Dank der Absätze ihrer High Heels war sie beinahe genauso groß wie William. Noch immer hielt er ihre Hand. Jetzt ließ er sie los und fuhr langsam mit den Fingerspitzen über ihren Arm hinauf zu ihrer Schulter. Ihren Mantel hatte sie zuvor auf einen der Sessel gelegt. Seine liebkosende Berührung hinterließ glitzernde Funken auf Vics Haut, wie die strahlenden Lichter der nächtlichen New Yorker Skyline.
Vorsichtig neigte er den Kopf zu ihr. Bevor seine Lippen auf ihre trafen, murmelte er heiser: »Das trifft sich hervorragend.«
Vics Herz klopfte rasend schnell. Ihr Blut, angereichert mit einer Überdosis Adrenalin, salzig süßen Mandeln und herbem Cider, pulsierte durch ihre Adern und versetzte ihren Verstand in eine Art Ohnmacht. Sie ließ sich fallen und trat ihr Abenteuer an.
Unüberlegt überwand sie die letzten Millimeter und spürte Williams weiche Lippen auf ihren. Zunächst zurückhaltend öffnete sie ihren Mund und gewährte ihm Zutritt. Bedacht und vorsichtig nahm er ihre zögerliche Einladung an. Ihre Zungenspitzen trafen sich, lernten einander kennen, und Vic spürte, wie sie sich entspannte. Ein berauschendes Gefühl nahm Besitz von ihr und ließ sie mutiger werden.
Unbedacht fiel ihre Clutch zu Boden, während sie ihre Füße aus den High Heels befreite. Sie lehnte sich William entgegen, verlangte nach mehr und erkundete mit ihren Händen, was er ihr bieten würde. Angefangen bei den muskulösen Schultern, dem ebenbürtigen Oberkörper und den Hüften, die Vics Geschmack zufolge genau richtig waren.
Während sie sich noch in ihrem ersten Kuss ineinander verloren, Grenzen austesteten und ihre Zurückhaltung zunehmend ablegten, begann William seinerseits Vics Körper zu erkunden. Seine Hände strichen über die nackte Stelle an ihrem Rücken, fanden den Reißverschluss ihres Kleides, und binnen Sekunden stand Vic in einem Hauch von Nichts vor ihm. Victoria’s Secret sei Dank, zierte nur mehr ein weißer Spitzenslip, der diesen Namen gar nicht verdiente, Vics gebräunte Haut. Einen BH gab es nicht – es hätte nicht zum Rückenausschnitt ihres Outfits gepasst.
William beendete den Kuss unfreiwillig und lehnte sich ein Stück zurück, um Vics Erscheinung zu würdigen. Erneut überzog Vic ein Schatten der Unsicherheit. Sie musste sich keinesfalls für ihren Körper schämen. Doch eine solch intensive Betrachtung rief, wie bei so vielen Frauen, Zweifel in ihr hervor. War William zufrieden mit dem, was er sah?
Er sagte kein Wort und ließ nur seine grünen Augen über ihren Körper tanzen.
Nach einer schier endlosen Zeit beschloss Vic, nichts auf sein Urteil zu geben. Jede Frau war schön. Egal, wie sie aussah. Und ebenso war Vic eine schöne Frau. Sie hatte nie Bedenken gehabt, und sie würde auch jetzt nicht damit anfangen. Sie würde William nach dieser Nacht nie wiedersehen. Deshalb hieß es ja One-Night-Stand. Es ging in den nächsten Stunden nicht darum, ihm zu gefallen. Es war Vics Abenteuer. Sie nahm sich, was sie begehrte. Zumindest redete sie sich das tapfer ein, um ihre aufflammende Unsicherheit in die Schranken zu weisen.
Williams Wispern riss sie aus ihren Bedenken.
»Beinahe so schön wie ein gefallener Stern.«
Ruckartig hob sie den Kopf und starrte ihn mit großen Augen an.
William stöhnte leise und legte eine Hand um ihren Hinterkopf. Dann zog er sie liebevoll an sich. Sein Daumen strich zärtlich über ihre Wange.
»Schau mich nicht so an …«
Mehr sagte er nicht. Stattdessen machte er dort weiter, wo sie zuvor aufgehört hatten, und rief in Vic ein heißes Verlangen hervor. Ihre Küsse verloren an Unschuld. Sie schmeckten nach süßem Begehren, salziger Lust und ehrlicher Verzweiflung. Sie waren zwei Fremde, die in einem unüberlegten Moment aufeinandergetroffen waren. Jeder mit seinen eigenen Sorgen und Problemen, an denen man den anderen nicht teilhaben ließ. Und doch spürten sie eine Verbundenheit zueinander, und alles, was sie von ihren Gedanken abbringen konnte, war das körperliche Verlangen nach dem anderen.
Schnell entledigte sich William seiner Kleidung, streifte sich ein Kondom über und zog Vic auf das Kingsize-Bett, das das Hotelzimmer beherrschte. Vic spürte die kühlen Laken auf ihrer Haut, doch brachten sie ihr nicht die Frische, die die sich ausbreitende Hitze in ihr hätte eindämmen können. Williams Körper war so vielversprechend, wie sie ihn sich unter seiner Kleidung vorgestellt hatte. Und obwohl es plötzlich so schnell ging, hatte Vic das Gefühl, als würde er sich Zeit lassen und sie nicht überrennen wollen. Er hielt sich zurück, liebkoste sie, streichelte sie und bewunderte sie. Sie stand ihm in nichts nach, gewann wieder an Mut und erkundete, was diese Nacht ihr gehörte.
Gemeinsam stachelten sie sich zärtlich auf und reizten einander, bis sie es beide schließlich nicht mehr länger aushielten. Kraftvoll und behutsam zugleich nahm William sich seinen zugewiesenen Platz zwischen Vics feuchten Schenkeln. Ein kurzer Schmerz ließ Vic zusammenzucken. Es war eben doch schon lange her seit dem letzten Mal. Doch William verstand damit umzugehen. Unter aller Anstrengung gab er ihr Zeit. Langsam und sanft nahm Vic ihn schließlich auf, und schon bald suchten sie Halt aneinander, fanden einen gemeinsamen Rhythmus und blendeten alles aus, was sie voneinander hätte ablenken können. Es gab nur noch sie beide. Und das brennende Verlangen, das sie antrieb.
Immer schneller, energischer und mit allen Sinnen berauscht erklommen sie gemeinsam den Wolkenkratzer, blickten über die Skyline dieser pulsierenden Stadt und schleuderten sich gegenseitig über all die menschlichen Grenzen hinaus.
Ein Zittern durchfuhr Vic. Wärme und Lust strömten durch ihren Körper, und ein kehliger Laut entging ihr. Das war es, was sie suchte. Ihr Abenteuer. Für eine Nacht.
Ein lautes Vibrieren riss William aus dem Schlaf. Irritiert hob er den Kopf und registrierte, wie die Novembersonne an diesem Morgen in sein Hotelzimmer fiel. Er griff nach seinem Handy und tippte auf die Schlummerfunktion. Dann legte er sein Smartphone zurück auf den Nachttisch und sah sich suchend um.
Er war allein. Vic war weg. Ebenso ihre Sachen, die wenige Stunden zuvor noch quer über dem Teppich des Hotelzimmers verteilt gewesen waren. Lediglich ein paar Pailletten, die von ihrem Kleid stammen mussten, funkelten in der Sonne auf dem Boden. Sein Blick fiel auf den Karton neben der Kommode. Eine Flasche fehlte, und von außen haftete ein Notizzettel an der braunen Pappe.
Danke für den Cider. Irland wird mir in guter Erinnerung bleiben, V.
William schüttelte den Kopf und ließ sich seufzend in die Kissen zurückfallen. Eigenartig. Seit Wochen hatte er nicht mehr schlafen können. Und der One-Night-Stand mit Vic war mehr gewesen, als der Begriff es beschrieb. Zwei Mal waren sie heute Nacht ineinander versunken und hatten gemeinsam das Unerreichbare vollbracht. Oh ja, es war gut gewesen. William schmunzelte unwillkürlich. Danach waren sie beide eingeschlafen. Selbst William. Der es inzwischen gewohnt war, die Nächte mehr wach als schlafend zu verbringen.
Und obwohl er diese Nacht nur wenige Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich so ausgeruht wie lange nicht mehr. Lag es am Sex? War es so einfach? Nein, das konnte es wohl kaum sein.
Erneut ertönte sein Wecker auf dem Handy. Er musste sich beeilen. Sein Flug nach Chicago wartete auf ihn. Wieder fiel ihm die Kiste mit Byrnes Cider ins Auge, und erneut dachte er an Vic. Abgesehen von dem Zettel, hatte sie sich ohne ein Wort des Abschieds verzogen. Aber womöglich war es besser so. Es war berauschend gewesen, aber eben nur ein One-Night-Stand.
William fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und hakte die letzte Nacht ab. Ohne zu ahnen, dass sie ihn wesentlich länger verfolgen würde, als er je für möglich gehalten hätte.
Drei
Kurz vor vier. Morgens. Draußen war es noch dunkel, und William wälzte sich unruhig in den weißen Laken hin und her, immer auf der Suche nach einer guten Schlafposition. Er hatte noch nie Probleme mit Hotelbetten gehabt. Nein, daran lag es nicht. Hier in Toronto war er in einem fantastischen Hilton untergekommen. Seit insgesamt zweieinhalb Monaten war er in den Staaten auf Geschäftsreise für Byrnes Cider unterwegs. Und bis auf die Zeit, die er mit der fremden Frau in New York verbracht hatte, war jede Nacht ein Alptraum gewesen. Er konnte nicht schlafen. Es ging einfach nicht.
Beinahe jede Nacht hatte er sich sein Smartphone oder den Laptop geschnappt, einen Artikel nach dem anderen im Internet gelesen und gehofft, irgendwo etwas zu finden, das ihm Linderung verschaffen würde. Er brauchte eine Lösung. William war so schrecklich verzweifelt auf der Suche. Er wusste inzwischen viel zu viel über das Schicksal seines älteren Bruders Sean, sodass er zunehmend unruhiger wurde. Zu wissen oder auch nur zu erahnen, wie die Zukunft von Sean schlimmstenfalls aussehen könnte, brachte ihn um den Verstand. Es ließ William verzweifeln, mit dem Schicksal hadern und seine Besorgnis in schwindelnde Höhen steigen.
Immer wieder fragte er sich, warum ausgerechnet Sean? Warum hatte es seinen Bruder getroffen? Er fand keine Antwort darauf, und Ohnmacht überfiel ihn. Erneut drehte er sich auf die andere Seite. Angestrengt atmete er aus, und die unkontrollierbaren Gefühle, die ihn Nacht für Nacht verfolgten, breiteten sich hartnäckig in seinen Gedanken aus.
Was würde er nicht alles tun, um Sean zu helfen oder ihm gar abzunehmen, was er fortan zu schultern hatte? Es machte ihn rasend, dass er nichts an der Situation ändern konnte. Seit Monaten wusste er um das Schicksal seines Bruders, doch während seine restliche Familie allmählich ihren Frieden damit fand, schien es für William von Tag zu Tag unerträglicher zu werden. Er konnte es nicht akzeptieren. Er wollte nicht. Er durfte nicht. Unmöglich.
William hatte Angst. Verzweiflung und Wut erfüllten ihn – und Bitterkeit. Sean selbst schien inzwischen gut klarzukommen. Sein Beharren auf Williams Amerika-Reise bewies es. Im Gegensatz zu William hatte er seine Zukunft angenommen. Komme, was wolle. Er würde nicht aufgeben. Einerseits war William froh darüber. Sein Bruder sollte das Leben genießen, solange er nur konnte. Und doch verspürte William auch einen Anflug von Ärger. Wie war es Sean bloß möglich, dieses Urteil zu akzeptieren? Wie, verdammt? Und warum schafften das scheinbar alle anderen auch? Nur er, warum kam William nicht damit klar?
Wieder tippte er auf das Display seines Smartphones, das zur Abwechslung auf dem Nachttisch lag, statt in seinen Händen. Vier Uhr acht. Es lagen noch so schrecklich viele Stunden vor ihm, bis er endlich aufstehen konnte. Genervt fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und drehte sich auf den Rücken. Missmutig, besorgt und gleichzeitig frustriert starrte er an die Decke.
Unerwarteterweise musste er auf einmal lächeln. In seinen Gedanken tauchte die Frau aus New York auf. Vic. Mit ihrem glitzernden Kleid, den goldenen Augen und dem ansteckenden Lachen. Seit ihrer Begegnung schlich sie sich wiederholt ungefragt in seinen Kopf. Er konnte zwar trotzdem nicht schlafen, aber immerhin lenkte sie ihn ein wenig von seinen Sorgen ab. Gleichzeitig ließ sie ihn auch grübeln.
Die Nacht, die er mit ihr verbracht hatte, war die einzige seit Langem gewesen, in der er tatsächlich hatte schlafen können. Wie war das nur möglich? Was hatte sie an sich gehabt, das ihn nicht nur in Ekstase versetzt, sondern im Anschluss tief und ruhig hatte schlafen lassen?
Es war ihm ein Rätsel, doch er konnte sie kaum fragen. Sie war nach der gemeinsamen Nacht still und heimlich verschwunden – und sie hatten keinerlei Kontakte ausgetauscht. Er würde sie also vermutlich nie wiedersehen. Die Erkenntnis deprimierte ihn, und schon driftete er wieder in den Teufelskreis, der ihn schon so lange gefangen hielt. Er dachte an Sean. An das Schicksal seines Bruders. Und an die Wut auf sich selbst, nicht fähig zu sein, dem etwas entgegensetzen zu können.
Vier Uhr dreizehn. Noch drei Stunden, bis er endlich aufstehen und den nächsten Tag in Toronto in Angriff nehmen konnte. Seine Reise war nun fast zu Ende. In wenigen Tagen würde er nochmal nach New York fliegen, bevor er dann pünktlich zur Weihnachtszeit wieder nach Irland zurückkehren würde. Zu seiner Familie. Zu seinem Bruder, der ihn viel dringender brauchte und doch darauf bestanden hatte, dass William diesen lang geplanten Geschäftstrip antrat.
Vier Uhr vierzehn. Er fügte seiner imaginären Liste einen neuen Strich hinzu. Wieder eine schlaflose Nacht. Wann würde sich das endlich ändern?
Wenige Tage später segelte eine Schneeflocke herab und landete auf Vics Nasenspitze. In jedem anderen Moment hätte sie darüber gelacht und ihr Gesicht einmal mehr dem Schneetreiben, das New York dieses Jahr bereits in der Vorweihnachtszeit heimsuchte, entgegengestreckt. Doch heute, an diesem zwölften Dezember, während die schönste Stadt der Welt einmal mehr bewies, wie funkelnd und schillernd sie sein konnte, unter all den Weihnachtsdekorationen, Lichterketten und diesem Zauber, der diese samt Schneemassen umgab – an diesem Tag fühlte Vic die volle Härte des Lebens in sich.
Sie unterdrückte die Tränen, die sich erneut ihren Weg bahnten und sie nur daran erinnerten, wie oft sie in der letzten Zeit geweint hatte. Ärgerlich wischte sie sich einen Tropfen fort, von dem sie sich einredete, dass es eine weitere Schneeflocke gewesen sein musste. Sie wollte keine Tränen mehr vergießen. Sie war es leid. Schon jetzt. Und doch spürte sie, wie sich ein Schluchzen nach oben arbeitete.
Emsig zog Vic die Schultern ein und lief in ihren gefütterten Schneestiefeln, dem dicken beigefarbenen Mantel und der gelben Wollmütze sowie dem dazu passenden Schal durch die Straßen von New York. Sie war irgendwo in der Upper West Side losgelaufen. Ohne Orientierung irrte sie nun durch die kalten Schleusen, die die Wolkenkratzer bildeten.
Vor einer guten Stunde hatte sie eine schreckliche Entscheidung getroffen. Eigentlich hatte sie diese abgewehrt und das Gegenteil getan. Und dennoch fühlte es sich völlig anders an. Eine verkehrte Welt.
Ihr Handy klingelte. Sie wollte nicht rangehen. Doch sie musste. Sie würde es ihrem Vater sowieso sagen müssen. Daran führte kein Weg vorbei.
»Dad.«
»Ist es vorbei?« Sein Ton war sachlich. Geschäftlich. Mit einer Spur Ungeduld.
Zitternd atmete Vic ein. »Nein.«
»Herrgott, Victoria! Wir haben darüber gesprochen! Was ist in dich gefahren?«
Mit feuchten Augen blickte Vic gen Himmel in das graue Treiben der Schneewolken.
»Ich konnte es nicht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Mühsam rang ihr Vater um Fassung. »Wir hatten eine Abmachung.«
Wut schoss in Vics Herz. »Scheiß auf die Abmachung!«
Frances Malone räusperte sich. Auf einen Moment der Stille folgten schließlich die Sätze, die Vic zwar erwartet hatte, die sie aber dennoch überrumpelten.
»Dann bist du ab sofort auf dich gestellt, Victoria. Du musst lernen, für dich selbst Verantwortung zu übernehmen – und für dich zu sorgen. Anders weiß ich mir nicht mehr zu helfen.« In jedem seiner Worte spürte Vic die Enttäuschung ihres Vaters. Er hatte sie besser erziehen wollen, aber sie hatte sich geweigert. Sie hatte ihr eigenes Spiel gespielt, stets um ihn zu reizen und zu provozieren. Nun war sie unabsichtlich zu weit gegangen. Sie hatte es keineswegs darauf angelegt. Im Gegenteil.
»Dad, lass uns darüber reden. Bitte!« Ihr bettelnder, verzweifelter Ton widerstrebte ihr. Verachtung stieg in ihr auf.
»Es gibt nichts mehr zu besprechen. Ab Januar musst du selbst für deine Unkosten aufkommen, Victoria. Ich werde das nicht länger finanzieren. Bis du zur Besinnung kommst.«
»Besinnung nennst du das?« Vic schrie in ihr Smartphone. Einige Passanten drehten sich nach ihr um, doch sie waren in New York. Gefühlsausbrüche waren auf diesen Straßen an der Tagesordnung. Also wandten die Menschen sich bald darauf wieder ab und gingen ihrer Wege. Vic hingegen stand einsam auf dem Bürgersteig und starrte geradeaus, während ihr Vater eisern widersprach.
»Ich werde das nicht erneut mit dir diskutieren. Du weißt, wo du mich findest, wenn du dich richtig entschieden hast.« Nach einer kalten Pause fügte Frances Malone hinzu: »Pass auf dich auf, Kleines. Ich will doch nur dein Bestes.« Er legte auf.
Vic ließ das Handy sinken. Tränen strömten über ihre Wangen. Ihr Magen verkrampfte sich, und ihr wurde übel. Nach Halt suchend lehnte sie sich gegen die nächstbeste Hausmauer. Sie sank in die Knie und barg das Gesicht in ihren eiskalten Fingern.
Wie hatte ihr Leben nur so aus den Fugen geraten können? Eben noch war sie mit Charlie und Lucy um die Häuser gezogen, hatte sich theatralisch über ihre Ziellosigkeit im Leben beschwert, und im nächsten Augenblick brach der Winter über New York herein, und Vic … Vic stand zwölf Tage vor Weihnachten in einer renommierten Praxis in der Upper West Side und meldete sich zu ihrem vereinbarten Termin für … eine Abtreibung.
Vic war schwanger. In der siebten Woche. Sie verstand immer noch nicht, wie es dazu hatte kommen können. Obwohl sie kein ausschweifendes Sexleben hatte, nahm sie die Pille und bestand bei ihren potenziellen Partnern zusätzlich auf Verhütung. Wie groß konnte der Zufall sein, dass eines der Kondome nicht dichtgehalten und sie trotz Pille schwanger geworden war? Wie, verdammt nochmal?!
Vier Wochen nach der gemeinsamen Nacht mit William war es ihr aufgefallen. Normalerweise konnte sie die Uhr nach ihrer Periode stellen. Sie war exakter als ein Schweizer Uhrwerk. Deshalb hatte Vic den Test gemacht, sobald er es überhaupt nachweisen konnte, dass sie schwanger sein könnte. Sie hatte es nicht geglaubt, trotzdem sichergehen wollen. Umso stärker hatte ihr das positive Ergebnis des Tests den Boden unter den Füßen weggerissen.
Sie. Schwanger. Vic bekam doch ihr eigenes Leben schon nicht auf die Reihe, wie sollte sie da Verantwortung für ein Kind übernehmen?
Ihr Vater war natürlich der gleichen Meinung. Wieder beschlich Vic das Gefühl der Reue. Sie hätte es ihm nie erzählen dürfen. Natürlich war er erzürnt über die Nachricht. Er betrachtete es als weiteren Affront gegen sich. Als hätte Vic es darauf angelegt, ihm ein uneheliches Enkelkind zu bescheren. Von wegen.
In seiner vermeintlich väterlichen Fürsorge galoppierte er genau in die entgegengesetzte Richtung, nach der Vic sich schmerzlich sehnte. Statt mit Unterstützung und Verständnis für ihre Situation überfiel er sie mit schrecklichen Vorwürfen, die letztlich in der Forderung nach einer Abtreibung endeten. Erpressen wollte er sie. Wenn sie weiter auf seine finanzielle Unterstützung zählen wollte, würde sie abtreiben müssen. Er verkaufte es ihr wie ein Geschäft, das für beide Seiten eine Win-Win-Situation ergeben würde. Wenn sie denn das Richtige tat.
Sie ersparten sich einen kleinen Bastard – ja, ihr Vater war trotz erfolgreicher Unternehmensführung noch immer nicht in diesem Jahrhundert angekommen. Vielmehr steckte er irgendwo in den Fünfzigerjahren fest und war der Meinung, Kinder durften nur in kirchlich geschlossenen Ehen geboren werden. Dass es tausende alleinerziehende Mütter auf dieser Welt gab, war ihm unverständlich.
Vic selbst war schrecklich unsicher. Sie hatte nie Kinder gewollt. Wie denn auch? Welches Vorbild hatte sie denn? Ihre Mutter hatte ihren Vater nie richtig geliebt. Sie war hinter seinem Geld her gewesen. Als die hartnäckige Jenny ihren Frances schließlich nicht anders an die Angel bekommen hatte, hatte sie ihm ein Kind untergeschoben. Vic war durchaus das leibliche Kind ihres Dads – nur war sie alles andere als gewollt und geplant gewesen.
Womöglich ein Grund, weshalb ihr Vater nicht gut auf uneheliche Kinder zu sprechen war. Seine Ehre war verletzt und sein Vertrauen missbraucht worden, doch um den Schein zu wahren, hatte er ihre Mutter geheiratet. Eine Vernunftehe.
Das Problem: Vics Mutter war nicht dafür gemacht, Mutter oder Ehefrau zu sein. Sie liebte ihre Freiheit zu sehr, die Unabhängigkeit und das unkomplizierte Leben. Sie hatte zwar Frances und sein Geld gewollt. Aber schon nach den ersten Monaten war ihr klar geworden, dass sie Frances’ Zuneigung mit ihrer Aktion verspielt hatte. Er war äußerst nachtragend. Und auch ihre Tochter schien es auf sie abgesehen zu haben. Vic war kein einfaches Kind gewesen. Koliken, Fieberschübe und Nächte voller Geschrei hatten das Herz ihrer Mutter nicht besonders für die kleine Vic erwärmen können. Jenny Malone war trotz des Geldes, das ihr nun zur Verfügung stand und weshalb sie Vic überhaupt gezeugt hatte, in schwere Depressionen verfallen. Doch anstatt sich Hilfe zu holen, hatte sie ihren Frust an Vics Vater ausgelassen. Über Jahre hatte er das immer anstrengender werdende Verhalten seiner Frau geduldet, offensichtliche Affären ignoriert, Seitensprünge und die Vernachlässigung der gemeinsamen Tochter. Dass er Jenny hätte helfen müssen, erschloss sich ihm bis heute nicht. Dabei hätte ihre Mutter so dringend seine Unterstützung gebraucht. Doch Frances Malone hatte sich in seiner Arbeit vergraben und Jenny und Vic sich selbst überlassen. Er hatte den verzweifelten Hilferuf seiner Ehefrau nicht verstanden.
Als ihre Mutter Vic eines Tages jedoch mit nur vier Jahren unbeaufsichtigt gelassen hatte, um sich wieder einmal im Gästezimmer mit dem jüngsten Männerbesuch zu vergnügen, und Vic sich beim Spielen verletzt hatte, hatte Frances Konsequenzen gezogen. Er hatte Jenny zu einem Psychologen gebracht. Endlich. Aber statt der Therapie hatte ihre Mutter eine weitreichendere Entscheidung gewählt. Sie war davongelaufen. Für immer.
Fortan war Vic allein bei ihrem Vater aufgewachsen, der sich von allem und jedem betrogen fühlte und das letzte bisschen an Emotionen aus seinem Leben verbannte. Kindermädchen und Au-pairs aus aller Welt hatten Vic großgezogen, später war sie in ein Internat gekommen. Ihr Vater hatte sie auf Abstand gehalten, mit allem versorgt, was sie benötigte, nur nicht mit dem, was Vic so dringend gebraucht hätte. Die aufrichtige Liebe eines Vaters.
Von ihrer Mutter hatte sie in den ersten Jahren noch Geburtstagskarten bekommen, doch auch die wurden bald vergessen. Die Scheidung ihrer Eltern hatte sich über Jahre gezogen, denn Jenny wollte nicht auf das Geld verzichten, das ihr ihrer Meinung nach zustand. Für die schrecklichen Zumutungen in der Ehe mit Frances. Freiwillig überließ sie ihm dafür das alleinige Sorgerecht für Vic.
Ohne die Liebe ihres Dads und sich mehr oder weniger selbst überlassen, hatte Vic als Kind inständig nach Halt gesucht. Im Internat hatte sie das erste Mal in ihrem Leben eine Freundin gefunden. Halle. Sie war die Tochter liebevoller Eltern, großherzig und Vics beste Freundin. Als die Immobilienkrise über die USA herfiel, hatte Halles Familie allerdings ihr gesamtes Vermögen verloren.
Folglich hatten sie die Internatskosten nicht mehr begleichen können und waren in den Süden des Landes gezogen. Für Vic war eine Welt zusammengebrochen. Trotz aller Mühen, den Kontakt zu halten, öffneten sich zwischen Vic und Halle unüberwindbare Gräben. Sie spielten fortan in unterschiedlichen Ligen. Vic hatte versucht, das Geld nicht zwischen sie kommen zu lassen, doch für Halle war es schwer zu sehen, wie Vic weiterhin ihr exquisites Leben auf dem Internat führte und sie selbst in einer bis dato unbekannten Armut gefangen war. Nach einigen Monaten hatte sie den Kontakt zu Vic abgebrochen. In einem letzten Brief hatte sie sich dafür entschuldigt, aber Vics Herz war bereits gebrochen, ihre Seele unwiderruflich verletzt.
Wieder war sie verlassen worden. Wieder war Geld der Grund. Wenngleich es diesmal anders war.
Nach der Highschool hatte Vic oft überlegt, auf ihre Mutter zuzugehen und ihr eine neue Chance zu geben. Doch das erste und einzige Aufeinandertreffen – vor dem ihr Vater sie gewarnt hatte – war gar nicht gut verlaufen. Ihre Mutter war abgestürzt. Sie weigerte sich, ihre Fehler einzugestehen oder gar anzuerkennen, dass sie Vic emotional schwer verletzt hatte. Und so hatte Vic beschlossen, dass es besser für sie war, sich von Jenny fernzuhalten.
All diese Erlebnisse hatten Vic gelehrt, auf sich selbst zu achten. Nie wieder ließ sie jemanden an sich heran. Die Trennungen in ihrem Leben waren zu schmerzhaft gewesen. Sie fing an zu rebellieren, wurde aufmüpfig, benahm sich daneben. Irgendwie hatte sie es geschafft, das College und die Uni hinter sich zu bringen. Aber sie hatte kein bestimmtes Ziel. Sie liebte die Literatur, aber wozu sollte sie einen Beruf ergreifen? Ihr Dad finanzierte ja sowieso alles.
Als ihr Vater nach der Uni schließlich gemeint hatte, sie solle sich doch endlich einmal Freunde suchen, in der Hoffnung, ihr ausuferndes Verhalten würde sich dadurch bessern, war Vic auf Charlie und Lucy getroffen. Sie hatte sie auf einer Party im New Yorker Stadtteil Soho kennengelernt, war von den beiden als ebenbürtig eingestuft und in ihr Duo aufgenommen worden. Seitdem waren sie gemeinsam unterwegs, machten aus dem Leben eine einzige lange Party, und Vic gab weiter das Geld ihres Vaters aus. Der ließ sie gewähren. Bis vor einer Woche. Als sie ihm eröffnet hatte, schwanger zu sein.
Vermutlich riss sie alte Wunden bei ihm auf. Aber was war mit ihren seelischen Verletzungen? Was war mit ihr?
Unfähig zu entscheiden, was gut für sie oder das Kind war, hatte sie auf ihren Vater gehört und einen Abtreibungstermin vereinbart. New York war zu diesem Zeitpunkt einer der letzten Bundesstaaten in den USA, in denen das überhaupt noch möglich war. Die Gesetze waren in den vergangenen Jahren massiv verschärft worden. Und heute, vor einer Stunde war dieser Termin. Aber als Vic von einer Arzthelferin aufgerufen wurde, war sie zu Eis erstarrt.
Es wäre richtig gewesen. Sie war nicht fähig, für sich, geschweige denn für ein Kind zu sorgen. Schon gar nicht, wenn ihr Vater ihr die finanziellen Mittel versagte. Sie war eine verzogene junge Frau ohne Job, wie sollte sie dem Kind jemals etwas bieten?
Trotz all der berechtigten Einwände, die sie immer wieder durchging, schaffte sie es nicht. Vic kam sich vor wie eine Mörderin. Dabei würde sie das nicht sein. Das kleine Wesen in ihrem Bauch war in der siebten Woche, es war gerade dabei, ein Mensch zu werden. Und doch brachte Vic es nicht über sich. Ohne ein weiteres Wort war sie aus der Praxis geflohen, hinaus in den kalten Dezember. Hinaus auf die anonymen Straßen dieser riesigen Stadt.
Draußen wurde sie von umherwimmelnden dicken Schneeflocken und golden leuchtenden Lichterketten, die zu Sternen geformt waren und über der Straße hingen, empfangen. Auf dem Asphalt stieg dicker weißer Rauch aus einem Gullydeckel empor. In der Nähe verkaufte einer dieser typischen Straßenstände gebrannte Mandeln. Der süßliche Duft schwebte zu Vic herüber, aber der Zauber, den sie normalerweise verspürte, wenn die Adventszeit in New York anbrach und ebenjener Geruch die Luft erfüllte, war für sie kaum wahrnehmbar. Ihr Leben glich einer Katastrophe. Wie sollte sie nur weitermachen?
All diese Gedanken rasten Vic durch den Kopf, als sie in dem kalten Schneetreiben an der Hauswand irgendwo in Manhattan kauerte, Tränen auf den Wangen und unendlich viele Zweifel und Ängste im Herzen.
Sie starrte in die dicker werdende Schneedecke vor sich, als sie plötzlich eine männliche Stimme vernahm.
»Miss, ist alles in Ordnung?«
Mühsam rappelte Vic sich auf. Ihre Finger waren so steif, sie schaffte es kaum, sich die Tränen fortzuwischen. Scheu nickte sie. Mit erstickter Stimme erwiderte sie: »Ja, danke.«
Besorgt legte der Mann eine Hand auf ihren Oberarm. »Sind Sie sicher?«
Etwas an seiner Stimme ließ Vic aufhorchen. Sie kam ihr bekannt vor. Dieser Akzent … Diese Wärme … Oh Gott. Vic erstarrte. Langsam, ganz langsam hob sie den Blick. Ihr Herz blieb stehen. Konnte dieser Tag denn noch schlimmer werden? Ihre Lunge fror ein, kleine Kristalle bohrten sich in ihre Luftröhre, sie konnte nicht mehr atmen. Ihre Hände zitterten. Eine Eiseskälte legte sich über die sowieso schon verfrorenen Finger. Und die hatte nichts mit dem Schneetreiben und den winterlichen Temperaturen um sie herum zu tun. Nein. Nicht damit.
Denn … William stand vor ihr.
»Vic?!«
Ja, war das denn die Möglichkeit? William schaute erstaunt in das gerötete Gesicht der jungen Frau, die er eben schluchzend und gekrümmt auf dem Gehsteig entdeckt hatte. Unter der dicken Mütze und dem Schal hatte er sie zunächst nicht erkannt, doch jetzt bemerkte er ihre karamellfarbenen Augen und die zarten Wangenknochen, die sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten. Sie sah schrecklich aus. Sorge breitete sich in ihm aus.
»Vic, was ist passiert?«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, unfähig zu sprechen. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und versuchte es erneut.
»Wie lange sitzt du schon hier? Du musst völlig verfroren sein.« William legte den Arm um ihren zitternden Körper und sah sich um. Schnell fand er, wonach er gesucht hatte. Er deutete auf die nächste Straßenkreuzung.
»Lass uns dort drüben in das Café gehen, dann wärmst du dich auf und erzählst mir, was los ist.«
Plötzlich kehrte Leben zurück in Vics blasses Gesicht. Vehement schüttelte sie den Kopf.
»Nein, alles gut. Wirklich.« Sie winkte ab und bemühte sich, eine lässige Fassade aufzusetzen. Es gelang ihr kaum. »Ich muss auch schon wieder weiter. Ich … Ein Friseurtermin.« Sie stotterte, und William glaubte ihr kein einziges Wort.
Sie wandte sich ab und wollte loslaufen, doch er stellte sich ihr in den Weg.
Mit sanfter Stimme meinte er: »Du bist eine kluge Frau, aber lügen kannst du nicht.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Das spricht für dich.«
Vic lachte nervös auf, doch sofort füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen.
William hatte kein Problem mit emotionalen Frauen, trotzdem hätte er Vic nicht unbedingt als solche eingeschätzt. Andererseits … Er hatte einen Abend lang mit ihr gesprochen und eine Nacht mit ihr verbracht. Was wusste er schon über sie?
Sie hat dich endlich wieder schlafen lassen, wisperte eine leise Stimme in seinem Kopf. Es war wahr. Vermutlich war Vic deshalb immer wieder in seinen Gedanken aufgetaucht, während er von Chicago nach Seattle, San Francisco oder Toronto geflogen war. Immer noch grübelte er darüber, was es gewesen war, das ihn in dieser Nacht endlich wieder hatte zur Ruhe kommen lassen. Der Sex allein konnte es nicht gewesen sein. Oder? Immer wieder hatte er sich diese Frage gestellt. Gleichzeitig hatte er nicht das Bedürfnis verspürt, es mit einer anderen auszuprobieren. Also hatte er sich auf seine Arbeit für Byrnes Cider konzentriert.
Und jetzt? Er war für einige letzte Termine von Toronto nach New York zurückgekehrt, doch niemals hätte er erwartet, auf Vic zu treffen. Wie viele Menschen lebten in dieser Stadt? Wie wahrscheinlich war es, dass er sie ausgerechnet heute wiedersah?
Vorsichtig ging er auf Vic zu. Sie wirkte, als läge ihre gesamte Welt in Trümmern. Was konnte sie wohl so aus der Bahn werfen? Ein abgebrochener Nagel würde es wohl kaum sein. Auch wenn das in ihrem Leben sicherlich zu einem ernsten Problem zählen würde. Nein, er war unfair. Besorgt musterte er sie.
»Was ist los, Vic?«
Angespannt starrte sie ihn an. Er konnte ihr Hirn regelrecht unter der gelben Wollmütze arbeiten sehen. Ihre Augen verdunkelten sich, so als würde ein Schneesturm aufziehen und sich darauf vorbereiten, eine Lawine loszutreten. Ihr Körper erzitterte, als sie tief Luft holte.
»Ich …«
Ermutigend nickte er ihr zu, als sie nicht weitersprach.
Ihre Augen zuckten nervös, während sie ihn betrachtete. Sie biss sich auf die kalte Lippe und kämpfte wieder gegen einen Schwall Tränen an.
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Madita Tietgen
Cover: Grit Bomhauer
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2023
ISBN: 978-3-96714-302-7
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