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Leseprobe

 

 

Limettenfieber

Madita Tietgen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Alexandra.

Weil es viel Mut bedarf, sich dem echten Leben zu stellen,
und du viel mehr davon besitzt, als du womöglich weißt

 

 

 

1

 

 

»Haben wir noch gefüllte Kirschherzen?« Rachel steckte den Kopf in die Küche des kleinen Cafés und sah ihre Chefin fragend an.

Mara blickte sich suchend um. »Nein, die sind aus. Vertröste sie doch mit einem Erdbeerplunder.«

»Gute Idee!« Rachel lief zurück hinter die große Holztheke im Gastraum und lächelte die wartende Kundin entschuldigend an. »Die Kirschherzen sind aus. Aber wenn Sie es fruchtig mögen, kann ich Ihnen unseren noch warmen Erdbeerplunder empfehlen.«

Die Kundin sah zunächst skeptisch drein, ließ sich dann aber von den großen roten Erdbeeren auf den knusprigen Blätterteigtäschchen überzeugen. Nachdem Rachel auch die beiden nächsten Gäste bedient hatte, nutzte sie die freie Zeit und räumte hinter der Theke auf. In ein paar Minuten würde das Café schließen.

Rachel liebte diesen Ort. Seit nunmehr fast sieben Jahren stand sie an der Seite von Mara Maguire, frühere McMillan, und hatte von ihr die Backkunst von der Pike auf erlernt.

Mary’s Café, wie das gemütliche Lokal hieß, hatte es nicht leicht gehabt. Nachdem Maras Großmutter Mary unerwartet verstorben war, hatte Mara das Café geerbt. Kurz darauf hatte Rachel für sie zu arbeiten begonnen. Zuvor war sie für Cliff Maguire, Maras heutigen Ehemann, im Cassidy’s, dem Pub gegenüber dem Café, tätig gewesen. Zweimal hatte es im Café gebrannt, seit Mara es führte. Beim zweiten Mal war das Gebäude bis auf die Grundmauern zerstört worden. Es war furchtbar gewesen. Rachel bekam heute noch Bauchschmerzen, wenn sie daran zurückdachte.

Damals war Mara, die nicht nur Rachels Chefin, sondern inzwischen auch ihre beste Freundin geworden war, im Café gewesen, als es lichterloh in Flammen gestanden hatte. Man konnte von Glück sprechen, dass sie mit ein paar leichten Verbrennungen davongekommen war. Ein Gutes hatte es aber auch gehabt, dachte Rachel lächelnd. Mara und Cliff hatten endlich zueinandergefunden. Rachel schmunzelte bei dem Gedanken, während sie die sauberen Kaffeetassen neben der Espressomaschine stapelte. Jeder hatte damals gesehen, dass sie füreinander bestimmt waren, nur die beiden hatten ewig gebraucht, um es zu kapieren. Heute hatten sie eine fünfjährige Tochter, Joan Mary, und einen zweijährigen Sohn, Andrew, und waren genauso verrückt nacheinander wie am ersten Tag.

Rachel hingegen hatte in Mara nicht nur eine Freundin auf Lebenszeit gefunden. Nein, die vier Maguires waren Rachels Familie. Die einzige, die sie hatte. Und sie liebte sie aus tiefstem Herzen. Würde Rachel eine Liste erstellen mit all den Dingen, die sie Mara und Cliff verdankte, so würde diese einmal quer durch Irland, von der Ost- zur Westküste reichen.

Cliff hatte sie einst von der Straße geholt, ihr ein Dach über dem Kopf gegeben und Rachel ihren ersten richtigen Arbeitsplatz in seinem Pub verschafft. Schon bald hatte sie sich bewiesen und war mit Führungsaufgaben betraut worden. Schließlich war Mara in ihr Leben getreten und hatte ihr nicht nur einen neuen Job angeboten, sondern Rachel auch ihre Bestimmung gezeigt. Wenn sie in der Küche den weichen Teig für Zimtschnecken oder Vanillehörnchen zwischen ihren Fingern spürte und im Verkauf die Freude in den Augen der Kunden aufflammen sah, ging ihr das Herz auf. Heute war sie glücklich. Meistens zumindest.

Rachel wischte ein paar Krümel von der Theke, dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Zwei Minuten nach sechs. Die letzten Tischgäste hatten bereits vor einiger Zeit das Café verlassen. Sie lief nach vorn, um das Lokal zu schließen, und steckte den Schlüssel ins Schloss, als plötzlich ein Mann in dunklem Anzug an das Glasfenster klopfte. Erschrocken hob Rachel den Kopf. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit.

»Tut mir leid, wir machen gerade zu. Kommen Sie doch morgen nochmal vorbei.« Sie lächelte und wollte sich schon wieder zurückziehen, als der Mann freundlich, aber bestimmt dagegendrückte. Er war um die vierzig, trug einen teuren Maßanzug und edle Lederschuhe. An seinem Handgelenk schimmerte eine Rolex, und unter seinem Arm klemmte eine Aktentasche von Burberry. Alles an ihm wirkte teuer und etwas überkandidelt.

»Warten Sie doch bitte einen Moment.« Mit selbstbewusster Stimme widersprach er ihr und zog ein Kuvert aus seiner Tasche. »Sind Sie Rachel Cole?«

Überrascht musterte Rachel ihn. »Wieso wollen Sie das wissen?«

»Weil ich einen wichtigen Brief für sie habe und ihn persönlich übergeben muss.«

Langsam öffnete Rachel die Eingangstür zum Café, sodass nichts mehr zwischen ihr und dem Fremden stand. Sie nickte.

»Ja, ich bin Rachel. Wer sind Sie?«

Der Mann reichte ihr die Hand. »Anthony Black. Ich habe ein persönliches Schreiben von Angus O’Neill für Sie, Miss Cole.«

Verwundert nahm Rachel den Brief entgegen. »Angus O’Neill?«

»Ja, er lädt Sie auf sein Anwesen an den Cliffs of Moher ein. Es wird vermutlich Zeit, dass Sie ihn endlich kennenlernen.«

»Cliffs of Moher? Ich … Was geht hier vor sich, Mister Black?« Rachel konnte nichts mit dem Namen O’Neill anfangen, geschweige denn verstehen, warum dieser Mann, von dem sie noch nie gehört hatte, sie zu sich ans andere Ende des Landes einladen sollte.

»Lesen Sie den Brief, Rachel. Darin steht alles, was Sie wissen müssen.« Er kramte in seinem teuren Jackett nach einem kleinen silbernen Etui, fischte mit seinem Zeigefinger eine Visitenkarte heraus und hielt sie ihr entgegen. »Rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben zu kommen. Ich schicke Ihnen einen Wagen, der Sie abholen wird.« Er sah auf seine Rolex. »Entschuldigen Sie mich, ein Mandant wartet auf mich.« Er lächelte ihr zu und eilte sogleich die Straße entlang Richtung Temple Bar, dem Pub-Viertel im Stadtzentrum von Dublin.

Verwirrt trat Rachel hinaus auf den Gehweg und schaute ihm hinterher. Als er um die Ecke verschwunden war, begutachtete sie die edle Visitenkarte in ihrer Hand. Anthony Black & Partner, Anwalt.

»Alles in Ordnung?« Mara tauchte hinter ihr auf.

Rachel steckte den Brief und die Visitenkarte in ihre Schürze und drehte sich lächelnd zu ihrer Freundin um. »Ja, sicher. Ich wollte gerade abschließen.«

Aufmerksam musterte Mara sie, dann schmunzelte sie. »Gute Idee. Nicht, dass du zu spät zu deinem Date kommst.«

Rachel lachte. »Recht hast du. Ich habe gehört, der Typ kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen.«

»Wem sagst du das?« Mara verdrehte grinsend die Augen, bevor sie wieder ernst wurde. »Aber Spaß beiseite. Ich bin wirklich froh, dass du heute den Babysitter für Andrew spielst. Sosehr der Kleine auch in seine Schwester vernarrt ist, der heutige Abend gehört ihr.«

Rachel schloss die Tür zum Café, und gemeinsam gingen sie in die Küche.

»Ist Joan schon aufgeregt?«

»Aufgeregt?« Mara lachte. »Sie ist die Ruhe in Person.«

Rachel grinste. Sie war Joans Patentante und sozusagen schuld daran, dass die Kleine nicht mehr aus den Steppschuhen rauszukriegen war. Zu Joans viertem Geburtstag hatte Rachel sie zu der Irish-Dance-Show My Lonely Irish Heart von der Star-Tänzerin und Choreografin Aeryn Fitzgerald mitgenommen, und seitdem drehte sich alles in Joans Leben ums Tanzen. Mara und Cliff hatten keine Chance gegen den Sturkopf ihrer Tochter gehabt und sie schließlich in einer irischen Tanzschule angemeldet. Schon oft hatte Rachel sie seitdem zu kleineren Veranstaltungen begleitet. Auch heute wollte sie im Publikum sitzen, wenn Joan ihren großen Auftritt bekam, doch Andrews Babysitter hatte kurzfristig abgesagt. Also sprang Rachel ein, damit Mara und Cliff ihrer Tochter applaudieren konnten.

»Ich hoffe, Joan verkraftet es, wenn ich einmal nicht im Publikum sitze.«

»Ich musste ihr versprechen, dass sie dafür demnächst ein ganzes Wochenende lang bei dir übernachten darf … Ich hoffe, das ist okay für dich.« Mara sah sie mit dem Hauch eines schlechten Gewissens an.

Aber Rachel lachte. »Natürlich! Wenn es nach mir ginge, würde sie sowieso immer bei mir schlafen.«

»Wir wussten schon, warum du die Richtige für den Job als Patentante bist.« Mara legte eine Hand auf Rachels Arm. Dann sah sie auf die Uhr. »Ach herrje, wir müssen uns beeilen. Sonst kommen wir wirklich noch zu spät.«

Zügig räumten sie die Küche auf und fuhren mit dem Auto Richtung Sandymount Strand. Dort, in der Bucht von Dublin, stand das Haus von Mara und Cliff. Rachel war so oft bei den beiden, dass sie das Gefühl hatte, es wäre inzwischen auch ihr Zuhause. Und das hatte einiges zu bedeuten, denn Rachel war ein Waisenkind. Als Baby hatte man sie vor der Saint Patrick’s Cathedral in Dublin abgelegt. Seither war sie von Heim zu Heim gezogen und hatte sich nie irgendwo wirklich geborgen gefühlt. Das große Haus der jungen Maguire-Familie war der erste Ort, der einem Zuhause für Rachel am nächsten kam.

Mara parkte das Auto in der Einfahrt, und als Rachel ausstieg, flog ihr auch schon ein kleiner Wirbelwind in die Arme.

»Tante Rachel! Ich hab’ dich ja so vermisst!«

Mit beiden Armen hielt Rachel ihr Patenkind fest und hob es lachend hoch. »Vermisst? Wir haben uns doch erst gestern gesehen.«

Auch wenn sie Joan Mary widersprach, fühlte sie es ebenso. Sie hatte die Kleine so sehr in ihr Herz geschlossen, dass sie am liebsten jeden Tag mit ihr zusammen wäre. Die beiden verband von Beginn an eine besondere Beziehung. Selbst Mara und Cliff konnten sich nicht erklären, wie es dazu gekommen war.

»Aber gestern ist doch schon eeeeewig her!«, rief Joan, während ihre kupfernen Locken fröhlich um ihren Kopf herumwippten. Sie sah ihrer Mutter schrecklich ähnlich. Rachel stellte es Mal um Mal wieder fest.

»Freust du dich denn schon auf den Auftritt?«

Joan strahlte sie an. »Oh ja! Das wird superspitze!«

Das war Joans neuestes Lieblingswort. Einfach alles war immer superspitze.

»Und du bist gar nicht aufgeregt?«

»Wieso denn? Ich geh doch nur tanzen.« Erstaunt ruhten Joans große Kinderaugen auf Rachel, als die sie wieder auf dem Boden absetzte. »Das macht doch Spaß! Da muss man nicht aufgeregt sein.«

Mara kam ums Auto herum und strich ihrer Tochter liebevoll durch die Haare. »Siehst du, Rachel. Keine Spur von Nervosität. Das hat sie bestimmt von Granny Mary …«

»Umso besser.« Rachel nahm Joans Hand, und zu dritt gingen sie die steinernen Stufen zum Haus hinauf. Bevor Rachel den beiden Maguire-Frauen folgte, drehte sie sich auf der obersten Stufe um und genoss den Ausblick auf die blaue Bucht. Cliff hatte richtig gehandelt, als er dieses Anwesen damals spontan von einem der Stammgäste des Cassidy's gekauft hatte, dachte Rachel. Sie sog die salzige Meeresluft in ihre Lungen und ging schließlich ins Haus, wo eine ungeduldige Joan Mary und ein aufgedrehter Andrew auf sie warteten.

 

Zwei Stunden später saß Rachel mit einer heißen Tasse Tee auf der ledernen Couch im Wohnzimmer der Maguires und holte den Brief aus ihrer Handtasche, den ihr der Anwalt am frühen Abend überreicht hatte. Zunächst noch zögernd öffnete sie das Kuvert und zog ein fein säuberlich gefaltetes Papier heraus. Neugierig nahm sie das Blatt schließlich auseinander und las die schwungvollen Zeilen.

 

Die Menschen suchen seit jeher nach dem richtigen Moment. Dabei wissen wir doch alle, dass es diesen einen passenden Zeitpunkt nicht gibt. Und dennoch sehnen wir uns danach und nutzen die Suche nach ihm als Ausrede, wenn es schließlich zu spät ist.

Ich hoffe inständig, dass es für uns noch nicht zu spät ist. Wir sind deine Familie, und es ist an der Zeit, dass wir uns endlich kennenlernen. Deshalb lade ich dich herzlich zu uns nach O’Neill Craig an die Cliffs of Moher ein. Du wirst viele Fragen haben, die ich dir geduldig beantworten werde – so gut ich kann. Immer in der Hoffnung, meine verlorene Nichte endlich nach Hause zu holen.

In froher Erwartung, dein Onkel.

Angus O’Neill

 

Rachels Puls beschleunigte sich. Wieder und wieder ließ sie ihre Augen über die schnörkelige Schrift gleiten. Konnte es wirklich sein? Würde sie ihre leibliche Familie kennenlernen? Auch wenn der Brief von ihrem Onkel zu sein schien – würde sie vielleicht endlich erfahren, wo sie herkam? Warum man sie weggegeben hatte?

Der altbekannte bittere Geschmack kehrte zurück. Wie so viele Heimkinder fühlte auch Rachel sich stets wie eine Last für andere. Man hatte sie ganz offensichtlich nicht gewollt und einfach auf den Treppen einer Kirche abgelegt. Welch größere Ablehnung konnte es für einen Menschen geben, wenn die eigenen Eltern einen nicht haben wollten? Sie hatten Rachel keine Chance gegeben. Nie hatte sie diese bedingungslose elterliche Liebe, die ein Kind verdient hatte, zu spüren bekommen. Sicher, die Schwestern und Betreuer in den Heimen hatten ihr Bestes gegeben. Die meisten zumindest. Trotzdem war es nicht das Gleiche gewesen.

Und nun? Würde sie ihre Familie treffen? Warum meldeten sie sich ausgerechnet jetzt? Wie hatten sie sie gefunden? Und warum war es ihr Onkel, der ihr schrieb – wenn er es denn tatsächlich war? Tausende Fragen rasten durch Rachels Kopf. Sie ließ den Brief sinken und schloss die Augen. Warum jetzt? Rachel hatte eine Familie gefunden. Cliff, Mara, Joan Mary, der kleine Andrew. Die Maguires hatten sie ungefragt aufgenommen. Sie war selbst in den Augen von Cliffs Eltern ein unverzichtbares Mitglied der Familie. Sie besaß, wonach sie sich ein Leben lang gesehnt hatte. Wozu sollte sie jetzt jemanden besuchen, den sie überhaupt nicht kannte? Sie mochten vielleicht blutsverwandt sein, aber keiner von ihnen hatte sich bisher für sie interessiert. Und nun sollte sie springen, wenn man nach ihr rief?

Rachel war hin- und hergerissen. Sie legte den Brief beiseite und nahm die Visitenkarte von Anthony Black in die Hand. Sie drehte sie zwischen Daumen und Mittelfinger und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Das tat sie immer, wenn sie überlegte. Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie, schmiegte den Kopf an die Sofalehne und starrte hinaus in die dunkle Nacht.

Seit sie denken konnte, quälten sie immer wieder dieselben Fragen. Schmerzlich erinnerte sich Rachel daran, wie sie oft sehnsüchtig am Fenster des Kinderheims gestanden hatte. Immer in der Hoffnung, ihre Eltern hätten es sich doch anders überlegt und würden sie abholen kommen. Jahrelang war sie immer wieder dort gestanden, ganz egal, in welcher Einrichtung sie gerade untergebracht war. Doch nie war jemand für sie gekommen. Mit vierzehn hatte sie schließlich aufgegeben. Etwa einen Monat lang hatte sie rebelliert, bei jeder Möglichkeit einen Streit vom Zaun gebrochen, die Betreuer provoziert und sich geweigert, in den Schulunterricht zu gehen. Nach knapp fünf Wochen hatte sie der Heimleiter zu sich ins Büro zitiert.

Rachel zitterte. Sie wollte nicht daran denken. Doch danach hatte sich alles für sie geändert. Sie hatte sich mehr und mehr zurückgezogen, andere Kinder gemieden und sich bei jeder Gelegenheit in der Bibliothek vergraben. Sie hatte wieder den Unterricht besucht, doch war mit den Gedanken meist woanders gewesen. Nie wieder hatte sie am Fenster gestanden und gehofft, jemand würde sie holen. Sie war auf dem harten Boden der Realität gelandet. Niemand wollte sie. Einfach niemand. Sie, Rachel, war ein Niemand. Ein Nichts. Dessen war sie sich nun bewusst, und sie würde es nie vergessen.

Erst als sie mit Anfang zwanzig auf Cliff Maguire getroffen war, er sie in seinem Pub angestellt und vorübergehend in seinem Loft überm Cassidy’s hatte schlafen lassen, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, so etwas wie einen Freund zu haben. Knapp drei Jahre später war plötzlich Mara aufgetaucht, hatte das Café ihrer Großmutter übernommen und ungewollt dafür gesorgt, dass sich Dublins Weiberheld Cliff in sie verliebte. Rachel hatte sie vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen. Mara war so leidenschaftlich und humorvoll ehrlich gewesen – und sie hatte sich gegen ihre Ängste durchgesetzt und sich von niemandem ihren Traum nehmen lassen. Nicht einmal, als sie beinahe bei einem Brandanschlag auf das Café getötet worden wäre. Sie gab nie auf, und dafür bewunderte Rachel sie jeden Tag. Cliff und Mara waren ihre Familie. Ihre Vorbilder. Sie gehörte zu ihnen. Doch sosehr die beiden sie auch liebten, eine quälende Frage hatte sich in Rachels Herz gebrannt. Warum hatte sie damals niemand abgeholt?

Rachel seufzte leise. Sie war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, sie wollte dieses Kapitel ihres Lebens endlich abschließen. Vielleicht war dies der Moment, damit zu beginnen.

Plötzlich riss ein herzhaftes Brüllen aus dem Obergeschoss Rachel aus ihren Gedanken. Andrew musste schlecht geträumt haben. Ohne weiter über den Brief nachzudenken, erklomm Rachel die Stufen in den ersten Stock und lief in Andrews Zimmer. Der Kleine hob sofort die Arme, als er sie sah, und Rachel nahm ihn hoch.

Beruhigend flüsterte sie: »Schhh … Du bist in Sicherheit. Du hast nur schlecht geträumt, mein Schatz.«

Sacht strich sie ihm über den zitternden Rücken und spürte, wie sich Andrew an ihre Schulter kuschelte. Nach nur wenigen Sekunden war er wieder eingeschlafen, und sie legte ihn zurück in sein Bettchen. Liebevoll musterte sie den Jungen. Anders als seine Schwester war Andrew ein sehr in sich gekehrtes Kind. Er lachte viel, und doch schien er oft in einer Traumwelt zu schweben. Während Joan Mary stets die Aufregung suchte, beschäftigte sich Andrew am liebsten mit seinen Kuscheltieren oder einem Bilderbuch.

Eine Gänsehaut überzog Rachels Unterarme. Ihr Herz quoll über vor Liebe, wenn sie den schlafenden Zwerg vor sich sah, und sie konnte sich nicht eine Sekunde lang vorstellen, wie jemand es über sich bringen konnte, ein Kind vor einer Kirche abzulegen und sich selbst zu überlassen.

Eine Träne rollte über ihre Wange. Rigoros wischte sie sie mit dem Handrücken weg. Sie hatte schon lange aufgehört, deshalb zu weinen. Was brachte das schon? Rein gar nichts, denn es änderte nichts an der Tatsache. Sie ärgerte sich, dass sie wieder in alte Muster verfiel. Behutsam verließ sie Andrews Zimmer und begab sich wieder hinab ins Erdgeschoss.

 

Knapp zwei Stunden später trommelte der Regen an die Fenster des Doppeldeckerbusses. Rachel beobachtete die runden Tropfen, die Wettrennen darum veranstalteten, welcher als Erstes die Scheibe von rechts oben nach links unten überqueren würde. Draußen war es längst dunkel, und in regelmäßigen Abständen leuchteten orangene Straßenlaternen auf.

Rachel lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und schloss die Augen. Vor einer halben Stunde waren Mara und Cliff mit einer müden, aber überglücklichen Joan Mary nach Hause gekehrt. Die Aufführung war ein voller Erfolg gewesen, und das Mädchen war mächtig stolz auf ihre Tanztruppe. Völlig erledigt hatte sie jedoch noch darauf bestanden, dass Rachel sie gemeinsam mit ihrer Mom ins Bett brachte. Kurz darauf war Rachel aufgebrochen – ohne den Brief von ihrem Onkel erwähnt zu haben. Die Informationen über ihre vermeintliche Familie waren noch zu frisch und zu dürftig, um mit Mara und Cliff darüber zu sprechen. Rachel brauchte Zeit für sich.

Die Fahrt mit dem Bus bis zu ihrer Wohnung dauerte gut eine Dreiviertelstunde, aber das machte Rachel nichts aus. Sie saß im Oberdeck, vorne links. Ihr Lieblingsplatz. Als Teenager hatte sie es geliebt, stundenlang mit dem Bus durch Dublin zu fahren. Es fühlte sich an, als würde sie eine Weltreise unternehmen, ganz oben im Ausguck des Schiffes sitzen und immer zuerst erfahren, wenn Land in Sicht kam. Das Land war in ihrem Fall der Phoenix Park, das Trinity College, der Park von Saint Stephen’s Green oder das Hafenviertel von Dublin. Rachel liebte diese Orte. Wann immer es ihr möglich war, nutzte sie den Bus, um aus ihrem Alltag zu fliehen. Sie mochte es, die Stadt aus einer anderen Perspektive zu beobachten. Die vielen Menschen, die von A nach B fuhren, jeder mit einem anderen Ziel, und doch trafen sie alle im Bus aufeinander.

Manchmal hatte Rachel sich vorgestellt, eine dieser Frauen könnte ihre Mutter sein. War der Mann mit Hut und Regenschirm womöglich ihr Vater gewesen? Doch Rachel hatte schnell gemerkt, dass diese Vorstellung ungesund für sie war. Sie deprimierte sie nur. Und sie hasste Selbstmitleid. Also ließ sie es sein. Der Blick aus dem Bus lenkte sie schließlich ab und half ihr, in ihre Traumwelt abzutauchen. In dieser Hinsicht waren Andrew und sie sich gar nicht so unähnlich. Oft hatte Rachel sich Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen und sie im Bus gelesen. Sie war vor der harten Realität geflohen.

Wenn sie heute darüber nachdachte, hatte sie vermutlich die meiste Zeit ihres Teenagerlebens in den Dubliner Bussen verbracht. Irgendwie seltsam, und trotzdem … Sie würde es vermutlich wieder so machen. Selbst heute fuhr sie lieber mit dem Bus als mit dem Auto. Der Bus gab ihr eine verkappte Art von Geborgenheit und gleichzeitiger Anonymität, wie sie es gern mochte. So hatte sie sich, obwohl sie einen Führerschein besaß, bis heute kein Auto gekauft.

Folglich würde sie an die Cliffs of Moher wohl mit dem Zug oder einem Überlandbus fahren müssen. Rachel ertappte sich dabei, wie sie bereits auf ihrem Handy nach passenden Verbindungen suchte. Hatte sie sich etwa schon entschieden? Würde sie es tatsächlich wagen und ins kalte Nass springen?

Rachels Augen huschten über die vorbeiziehenden Lichter der Stadt. Vor ihr lag die O’Connell Bridge, doch der Bus bog am Ufer des Liffey nach links in den Aston Quay ab und passierte die Nordseite von Temple Bar, dem berühmten Pub-Viertel der Stadt. Rachel beobachtete, wie eine Gruppe fröhlicher Frauen und Männer die Stufen vom Merchants Arch hinablief, einem Pub, der zum Liffey hin lag. Schon oft war Rachel in dem Pub zu Besuch gewesen. Sie mochte ihn. Auf zwei Etagen konnte man gemütlich sitzen, und jeden Abend gab es gute Musik und leckere Burger. Während Rachel für Cliff im Cassidy’s gearbeitet hatte, hatte sie ihre Begeisterung für die Pub-Kultur entdeckt. Widersprüchlich, wenn man bedachte, dass sie sonst eher eine Einzelgängerin war. Doch im Pub blühte sie inmitten der vielen Menschen aus unerfindlichen Gründen auf.

Der Bus hielt am Zebrastreifen und ließ die jungen Leute passieren, die auf der anderen Straßenseite über die alte, weiße, gusseiserne Ha’Penny Bridge spazierten. Die schmale Brücke gehörte zu den Wahrzeichen Dublins. Früher hatten Fußgänger die Maut von einem halben Penny entrichten müssen, um sie überqueren zu dürfen. Daher auch der Name. Heute war die Brücke frei zugänglich und gehörte zu den meistfotografierten Plätzen der irischen Hauptstadt. Auch Rachel hatte dutzende Fotos aus allen Jahreszeiten auf ihrem Smartphone. Ein weiterer Lieblingsort von ihr.

Rachel drehte den Kopf wieder zu ihrem Fenster und musterte die leuchtenden Buchstaben des Pub-Schildes über dem gebogenen Eingang des Merchants Arch. Direkt neben dem Pub führte rechts eine schmale steinerne Gasse mitten ins Geschehen von Temple Bar. Ein altes Whiskeyfass lud Besucher ein, für eine kurze Zeit draußen zu verweilen. Das kategorische Guinness-Schild warb für das bekannte irische Bier und strahlte in der Nacht. Rachels Blick folgte jedoch dem Licht, das aus den Fenstern links neben der Eingangstür des Pubs schimmerte. Drinnen spielte eine Band, und Rachel erkannte, dass der Pub, wie so oft, gut gefüllt war. Die lange Bar mit dem großen Spiegel und den vielen Whiskeyflaschen wirkte wie ein Blick in eine andere, bessere Welt. Schließlich ruckelte es, und der Bus fuhr wieder los, immer entlang des dunklen Flusses, Richtung Westen.

Westen … In dieser Richtung lagen auch die Cliffs of Moher, dachte Rachel unwillkürlich. Der Ort, an dem ihr vermeintlicher Onkel auf sie wartete. Obwohl die meterhohen Klippen zu Irlands bedeutendsten Naturschauspielen gehörten, war Rachel noch nie dort gewesen. Überhaupt hatte sie Dublin bisher nie wirklich verlassen. Wie auch? Das Geld dafür hatte sie nie gehabt.

Sie schob den Gedanken an ihre Teenagerzeit von sich und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Im Grunde war sie in den letzten Jahren gut zurechtgekommen. Anders als früher hatte sie sich nicht ständig gefragt, wo sie herkam oder warum man sie weggegeben hatte. Sie hatte es akzeptiert und gut damit gelebt. Doch der Brief ihres Onkels erschütterte ihre sorgfältig aufgebaute Welt. Rachel spürte es. Sie war verunsichert. Zwischen Angst und Hoffnung gefangen, überlegte sie, was sie tun sollte.

Wie von selbst entsperrte sich ihr Smartphone, und sie starrte auf die Busverbindung. Sie konnte von Dublin direkt hinfahren, ohne umzusteigen. Knapp dreieinhalb Stunden dauerte die Fahrt einmal quer über die grüne Insel. Rachel atmete tief durch. Sie hatte auf der Straße gelebt, sich selbst über Wasser gehalten, als die Sozialsysteme sie mit achtzehn Jahren hatten fallen lassen, und sich in einem Pub voller betrunkener Männer als Rausschmeißerin behauptet. Wie viel schlimmer konnte es werden? Rachel war vielleicht nicht besonders groß, gerade mal einen Meter sechsundsechzig, aber sie wusste, wie man dem Leben und seinen Herausforderungen entgegentrat. Und was hatte sie zu verlieren? Sie würde jederzeit nach Dublin zurückkehren können und bei Mara und Cliff eine Familie haben, die auf sie wartete. Jederzeit bereit, sie in ihre Arme zu schließen und alte Wunden zu heilen.

Aufgeregt atmete Rachel aus. Sie hatte sich entschieden. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer des Anwalts. Die Mailbox sprang an. Natürlich, es war mitten in der Nacht.

Rachel räusperte sich über das Brummen des Busses hinweg. »Hi, hier ist Rachel Cole. Sie haben mir heute einen Brief übergeben, und … äh … Sie wissen vermutlich, was drinstand. Ich möchte das Angebot annehmen und meinen … meinen Onkel treffen.«

Rachel hinterließ ihre Nummer und beendete den Anruf. Mit klopfendem Herzen legte sie das Handy beiseite. Sie würde ihren vermeintlichen Onkel treffen. Schon bald. Und dann würde sie ihm all ihre Fragen stellen und anschließend endlich einen Schlussstrich unter diese Zeit in ihrem Leben ziehen.

 

Zwei Tage später, Rachel verzierte gerade einen Limetten-Cheesecake mit gezuckerten Limettenscheiben in der Küche von Mary’s Café, stellte sich Mara vor sie und musterte sie neugierig.

Rachel legte die Limettenscheibe, die sie in der Hand hielt, zurück in die Schüssel und sah ihre Freundin interessiert an. »Was ist?«

»Ich frage mich, was ich verpasst habe.«

»Verpasst?« Rachel konnte nicht folgen.

»Ja. Draußen steht ein geheimnisvoller Anwalt in einem superteuren Anzug mit einer limitierten Rolex am Handgelenk und will dich sprechen.« Mara grinste. »Und jetzt frage ich mich, was mir entgangen ist.«

Rachel starrte sie an. »Er ist hier?«

»Wer ist er? Und was will er von dir?« Mara lehnte sich an den Küchenschrank und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das ist …« Rachel überlegte, doch dann fiel ihr der Name ein. »Das ist Anthony Black.«

»Und?«

»Und er ist der Anwalt meines … Onkels.« Es fühlte sich so falsch an, das auszusprechen.

»Deines Onkels? Seit wann –«

Rachel schnitt Mara das Wort ab, obwohl diese hunderteintausend Fragen zu haben schien. Doch die hatte Rachel auch. Und sie hatte keine Antworten darauf. Noch nicht.

»Der Anwalt hat mir einen Brief von ihm übergeben. Er lädt mich zu sich ein. Er will mich kennenlernen … und meine Fragen beantworten.« Unsicher zupfte Rachel ihren Pferdeschwanz zurecht.

»Wie kommt er ausgerechnet jetzt dazu?« Mara verbarg ihren Argwohn nicht.

»Keine Ahnung. Das habe ich mich auch schon gefragt.«

»Was wirst du dem Anwalt sagen?«

Rachel seufzte. »Dass ich die Einladung annehmen werde. Die Gelegenheit sollte ich wohl kaum ausschlagen, oder?«

Mara nickte ihrer Freundin zu, doch ihr Blick blieb skeptisch. »Was weißt du über deinen angeblichen Onkel? Hat dir der Anwalt etwas über ihn erzählt?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«

»Und dennoch nimmst du die Einladung an?«

»Was wäre denn die Alternative?« Rachel wusste, dass ihre Freundin sich nur Sorgen um sie machte. Trotzdem wünschte sie sich etwas mehr Zuspruch. Sie war sowieso schon unsicher und von der plötzlichen Kontaktaufnahme überrumpelt.

Mara schwieg und beobachtete sie besorgt. Dann fragte sie liebevoll: »Bist du auch wirklich bereit dafür?«

War sie das? Konnte man für so etwas überhaupt bereit sein? Rachel wusste es nicht, sie hoffte es und nickte zögernd. »Ich glaube schon. Ich will endlich damit abschließen. Und vielleicht ist das genau der richtige Augenblick dafür.«

Es war Januar. Das neue Jahr hatte eben erst begonnen, vielleicht sollte es so sein.

Mara lief um die Kücheninsel herum und nahm Rachel in den Arm. Sie drückte sie fest und flüsterte: »Egal, was er dir erzählt – du hast hier für immer eine Familie, die dich von ganzem Herzen liebt. Lass dich nicht beirren, okay?«

Rachel erwiderte die Umarmung gerührt. Schließlich lösten sie sich voneinander, und Rachel atmete tief ein. »Dann wollen wir mal sehen, was der geheimnisvolle Mister Black mir zu sagen hat.«

Sie zupfte ihren Pferdeschwanz erneut zurecht, strich sich die Schürze glatt und ging hinaus in den Gastraum. Sie entdeckte den Anwalt sofort. Mit seinem edlen Anzug und den teuren Schuhen stach er aus ihrer üblichen Kundschaft deutlich heraus. Er hob den Kopf, sah sie und kam ihr entgegen.

»Miss Cole, schön, dass Sie sich gemeldet haben.« Er reichte ihr die Hand und lächelte freundlich, aber distanziert.

Rachel nickte, und sie setzten sich an einen freien Tisch im Café. Black ließ seinen Blick durch den Gastraum schweifen und schaute Rachel fragend an. »Mister O’Neill ist sich natürlich bewusst, dass Sie hier eingebunden sind, aber wie schnell könnten Sie nach O’Neill Craig reisen?«

Rachel zögerte. »Was meinen Sie mit wie schnell

»Nun, Mister O’Neill hat viel Zeit auf die Suche nach seiner Nichte verwendet. Es ist nur verständlich, dass er Sie sobald wie möglich kennenlernen möchte.«

Unruhig rutschte Rachel auf ihrem Stuhl herum und wischte einen Krümel vom Tisch. Sie überlegte. Heute war Donnerstag. Sie ließ Mara ungern übers Wochenende allein. Freitag und Samstag waren die umsatzstärksten Tage im Café.

»Ich könnte frühestens Sonntag anreisen.«

Black tippte auf seinem Smartphone herum und nickte. »Das passt gut.« Er steckte sein Handy wieder weg und sah zu ihr auf. »Ich lasse Ihnen einen Wagen schicken, der Sie abholt und nach O’Neill Craig, dem Anwesen Ihres Onkels, bringt. Sagen wir, gegen neun Uhr?«

»Oh, das ist nicht nötig. Wirklich nicht.« Rachel schüttelte den Kopf. Sie wollte niemandem Umstände bereiten. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie nichts von ihrem vermeintlichen Onkel annehmen, bevor sie nicht mehr über ihn wusste. Rachel war stolz darauf, dass sie ihr Leben selbst in der Hand hatte und von niemandem abhängig war. Und daran würde sich nichts ändern.

»Mister O’Neill wird darauf bestehen.« Damit schien für den Anwalt das Gespräch beendet zu sein, denn er erhob sich bereits.

Rachel folgte ihm bis zur Tür des Lokals. Bevor er hinaustrat, drehte er sich zum Abschied noch einmal zu ihr um, und Rachel nutzte die Gelegenheit, um ihm ins Wort zu fallen.

»Richten Sie Mister O’Neill bitte aus, dass ich keinen Wagen benötige. Ich kümmere mich selbst um meine Anreise.« Ihr Ton war freundlich, aber bestimmt. Black bedachte sie zunächst mit einem prüfenden Blick. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Ihr Onkel wird nicht erfreut darüber sein, wenn Sie sein Angebot ausschlagen.«

Rachel bemühte sich um ein Lächeln. »Er wird darüber hinwegkommen. Es geht schließlich nur um meine Anreise.«

Wenn ihr Onkel es nicht vertrug, dass sie ihre eigenen Entscheidungen traf, wäre es sowieso fraglich, wie harmonisch sich die Beziehung zwischen ihnen entwickeln würde. Rachel schob den Gedanken beiseite. Sie wollte unvoreingenommen in diesen neuen Lebensabschnitt gehen. Sorgen konnte sie sich später immer noch machen.

Black widerstand einem Kommentar und entgegnete lediglich: »Wie Sie wünschen. Ich schicke Ihnen die Adresse.«

 

Drei Tage später saß Rachel im Bus Richtung Westen. Obwohl sie Irland komplett von Ost nach West durchquerte, war sie nur wenige Stunden unterwegs. Rachel lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und starrte auf die vorbeiziehenden grünen Wiesen, für die Irland so bekannt war. Obwohl sie auf die dreißig zuging, hatte sie diesen Teil des Landes noch nie zuvor besucht. Daher war die Reise an die Westküste für sie nicht nur in Bezug auf ihre neuentdeckte Familie ein Abenteuer. Rachel dachte an die letzten Tage. Seitdem der Anwalt von Angus O’Neill das letzte Mal im Café gewesen war, wuchs ihre Nervosität von Stunde zu Stunde. Sicher, sie hatte sich für den Kontakt entschieden. Aber hatte sie die richtige Wahl getroffen? Einen ganzen Abend lang hatte Rachel die Optionen mit Mara bei einer Flasche Cider durchgekaut. Ihre beste Freundin war weiterhin äußerst skeptisch, hatte Rachel aber dennoch Mut gemacht. Rachel war dankbar für ihre herzlichen Worte.

Trotzdem schossen ihr so viele Fragen durch den Kopf. Was würde Angus O’Neill ihr über ihre Vergangenheit und ihre leibliche Familie erzählen? Was, wenn ihr das, was er ihr sagen würde, nicht gefiel? Und würde sie sich mit ihrem Onkel verstehen? Nachdem sie seinem Anwalt im Café mitgeteilt hatte, sie würde allein anreisen, hatte dieser sie noch zweimal angerufen und versucht, sie zu überzeugen, doch einen Wagen zu nehmen. Aber sie hatte sich geweigert. Manch einer mochte das vielleicht für kleinlich halten. Allerdings lag Rachel viel daran, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Sie wollte von niemandem etwas. Und sich extra einen Wagen samt Chauffeur schicken zu lassen, erschien ihr ziemlich übertrieben. Also hatte sie abermals abgelehnt. Sehr zum Missfallen von Mister Black. Aber das war ihr egal. Mit ihm musste sie sich nicht verstehen. Er war lediglich der Überbringer der Nachrichten.

Wenn Rachel es recht bedachte, fand sie es eigenartig, dass die gesamte Kommunikation über den Anwalt lief. Kein einziges Mal hatte sie bisher mit ihrem Onkel gesprochen. Lediglich der Brief, den sie vom Anwalt bekommen hatte, schien seine Handschrift zu tragen. Mara war so neugierig wie misstrauisch gewesen, was die Kontaktaufnahme anging, und Rachel hatte ihr versprechen müssen, sich regelmäßig bei ihr zu melden, damit Mara wusste, dass es ihr gutging.

Rachel hatte mit Absicht nicht in den Tiefen des Internets nach dem Namen ihres Onkels gesucht. Der Name O’Neill war keine Seltenheit in Irland, und sie wollte verhindern, dass sie mit einer falschen Vorstellung auf ihren Verwandten traf. Sie wollte, so gut es eben möglich war, unvoreingenommen in diese neue Situation hineingehen. Zugegeben, es war ihr schrecklich schwergefallen. Zu schnell hatte man heutzutage das Smartphone in der Hand und durchforstete das Internet. Doch diesmal hatte Rachel sich am Riemen gerissen. Vorzeitige Spekulationen würden ihr nicht helfen. Es würde sie vielmehr verunsichern und ihre Gedankenspiele unterstützen, die bereits ohne Pseudoinformationen aus dem Netz schlimm genug waren.

Grübelnd sah sie hinauf in den Himmel. Die Wolken zogen sich immer dichter zusammen, und bald glichen sie einem großen grauen Teppich. Noch während sie hoffte, das Wetter würde bis zu ihrer Ankunft trocken bleiben, schlugen die ersten Tropfen gegen das Busfenster. Gleichzeitig kündigte der Fahrer den nächsten Halt an: Ardwellheart. Ihre Station.

Rachel kannte nur wenige irische Begriffe, wusste jedoch, dass die Silbe Ard für ›große Höhe‹ stand. Passend, wenn man bedachte, dass der Ort nur wenige Meter von den steilen Klippen entfernt lag.

Eilig sammelte sie ihre Sachen zusammen, schlug den Kragen ihrer gefütterten Lederjacke hoch, schlang sich ihren Schal um den Hals, und nur fünf Minuten später stand Rachel am Straßenrand und blickte sich suchend nach einem Taxi um. Die anfänglich vereinzelten Tropfen schlossen sich zu einem ernsten Regenschauer zusammen, und dank des aufkommenden Windes hätte selbst ein Schirm nichts geholfen. Obwohl Ardwellheart von der Nähe zu den berühmten Cliffs of Moher profitierte und zahlreiche Touristen hierherströmten, waren die Straßen heute geradezu leergefegt. Womöglich lag es an der Jahreszeit. Im Januar war es in Irland vorrangig grau, bitterkalt und nass. Kein besonders urlaubstaugliches Wetter.

Rachel holte ihr Smartphone aus der Jackentasche und versuchte sich zu orientieren. Sie stand vor einer Reihe bunt bemalter Häuser. Das Gelb und Pink an den Steinmauern leuchtete im grauen Regen. Bevor sie ausgestiegen war, hatte der Bus einige kleinere Hotels und Bed and Breakfasts passiert. Rachel hievte ihre Reisetasche auf die Schulter und hoffte, sie würde vor einem der Hotels ein Taxi finden. Nach den ersten Schritten wandelte sich der Regenschauer plötzlich in einen ausgewachsenen Platzregen. Als Rachel eine Pfütze auf dem Weg mit einem großen Schritt umgehen wollte, verlor sie den Halt und stürzte. Großartig, dachte sie und verdrehte die Augen, wenn das kein Omen war …

 

2

 

 

Quietschend kämpften die Scheibenwischer gegen die prasselnden Wassermassen. Wieder einmal nahm John sich vor, sie endlich zu erneuern. Ein Wunder, dass sie ihm ihren Dienst noch nicht vollständig versagten. Er fuhr sich mit der Hand müde über die Augen und konzentrierte sich auf die Straße, als er am Wegesrand plötzlich eine junge Frau stürzen sah. Mühsam rappelte sie sich wieder hoch und hielt tapfer dem stärker werdenden Regen stand, doch ihre klatschnassen Haare und die dunkle Jeans zeugten von den Wassermassen, denen sie sich bereits hatte aussetzen müssen. Kopfschüttelnd trat John auf die Bremse. Wann würden die Touristen endlich lernen, den Regen abzuwarten, bevor sie sich wieder auf den Weg zu den Klippen machten? In Irland regnete es ständig und unerwartet, aber genauso schnell verzogen sich die Wolken meistens wieder. Öffneten sich die Schleusen, war es das Klügste, noch ein Pint zu bestellen und anschließend den Weg fortzusetzen.

Johns dunkler Jeep rollte langsam neben der vermeintlichen Touristin her, als er das Fenster hinabgleiten ließ.

»Brauchen Sie Hilfe?« Er nickte ihr zu.

Überrascht sah sie auf, und ihre blauen Augen richteten sich auf ihn. »Ähm … nein. Danke. Das geht schon.«

»Sicher?« John war nicht erpicht darauf, ihre Bekanntschaft zu machen, doch seine Erziehung zwang ihn sicherzugehen, dass es ihr gutging.

Die junge Frau blieb stehen und grübelte. Schließlich seufzte sie. »Lassen Sie mich raten, ich werde heute kein Taxi mehr finden, oder?«

Unwillkürlich lachte John. »Taxi? Nein. Das wird so schnell nichts. Wo wollen Sie denn hin?«

Während sie mit einer Hand die Riemen ihrer ledernen Tasche umklammerte, wischte sie sich mit der anderen eine nasse Strähne aus dem Gesicht. »Sagt Ihnen O’Neill Craig etwas?«

Noch während sie sprach, brannten sich die Worte in sein Trommelfell. Grober als beabsichtigt erwiderte er: »Was wollen Sie dort?«

Abschätzend musterte sie ihn. Nach einer kurzen Pause meinte sie: »Schon gut. Ich komme klar. Fahren Sie ruhig weiter.«

Als sie sich wieder ihrem Weg zuwandte, riss plötzlich der Riemen ihrer Reisetasche, und ehe sie sich versah, plumpste diese auf den nassen Teer. John beobachtete die Szene und schlug mit der flachen Hand gegen sein Lenkrad. Verdammt!

Er zog den Kopf ein, öffnete die Wagentür und lief zu ihr hinüber. Er griff nach der Tasche, bevor sie Zeit dazu hatte, und warf sie auf den Rücksitz des Jeeps. Dann öffnete er die Beifahrertür. »Na los, steigen Sie schon ein.«

Zügig rutschte sie auf den Sitz. John umrundete das Fahrzeug und schwang sich hinter das Steuer. Er war keine zwei Minuten draußen gewesen und trotzdem klitschnass. Wie musste es seiner neuen Beifahrerin nur gehen? Mit einem langen Arm griff er nach seiner Collegejacke, die auf dem Rücksitz lag. Sie würde ihr viel zu groß sein, trotzdem war sie besser als das durchgeweichte Lederding, das die Fremde umklammerte. Er warf ihr den grauen Stoff auf den Schoß.

»Ziehen Sie die an. Sonst holen Sie sich noch eine Lungenentzündung.« Sie wollte etwas entgegnen, doch er unterbrach sie. »Das Krankenhaus ist noch weiter weg als das nächste Taxi. Also diskutieren Sie gar nicht erst.«

Widerwillig gab sie nach, entledigte sich ihrer triefenden Lederjacke, legte sie auf den Rücksitz und schlüpfte in seine viel zu große Collegejacke. Beinahe hätte er gegrinst, weil ihr diese bis auf die Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Doch er hielt sich zurück. Sie schloss den Reißverschluss und zog die Ärmel über ihre kalten Finger. Er bemühte sich, eine freundliche Miene aufzusetzen, als er die nächste Frage stellte.

»Sie wollen also nach O’Neill Craig?«

Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihn trotzig an. »Das war zumindest der Plan, als ich heute Morgen aufgestanden bin.«

Sie schien nicht damit zufrieden zu sein, dass er sie aufgelesen hatte. Schön, dann waren sie ja schon mal zu zweit.

John legte den Gang ein und fuhr widerstrebend Richtung O’Neill Craig. Nach einigen Minuten des Schweigens – sie schien keinerlei Konversation anzustreben – erhob er seine Stimme. »Machen Sie hier Urlaub?«

Sie überlegte, bevor sie antwortete. »Nein, kein Urlaub. Obwohl das sicherlich eine gute Idee wäre.«

»Aber von hier sind Sie auch nicht, oder?«

»Wieso? Erkennt man das?«

John musterte sie abschätzend. »Wären Sie von hier, hätten Sie ein Auto und wüssten, dass Taxis eher rar gesät sind.«

Sie nickte. »Wohl wahr.« Mehr sagte sie nicht, stattdessen beobachtete sie die Regentropfen, die an der Fensterscheibe hinunterglitten. Nach einer Pause ergänzte sie: »Ich besuche jemanden.«

John schaute sie verstohlen an. Wenn sie nach O’Neill Craig wollte, war es klar, wen sie besuchen würde. Er kämpfte gegen die aufsteigende Abneigung in sich an. John war niemand, der vorschnell über jemanden urteilte, doch was die Familie O’Neill anging, konnte er nicht anders. All der Hass, den er für diese Leute empfand, bahnte sich seinen Weg. Tapfer schluckte er ihn hinunter. Die junge Frau neben ihm entsprach nicht dem gewöhnlichen Stil der O’Neillschen Gäste. Statt feiner Designerteile trug sie dunkle Jeans, eine alte Lederjacke, einen dicken Schal und halbhohe Schnürstiefel. John fiel auf, dass sie äußerst schmal gebaut war, und er war sich sicher, dass ihr ein paar zusätzliche Kilos nicht schaden würden. Außerdem war sie ziemlich klein. Höchstens einen Meter fünfundsechzig. Sie schien sportlich zu sein, aber trotzdem nicht der Typ, der peinlich genau darauf achtete, wie viele Kalorien er zu sich nahm. Ihr Gesicht war ebenso schmal, doch ihre eisblauen Augen und die überraschend schwungwollen Lippen machten aus ihr so etwas wie eine versteckte Schönheit. Die nassen dunkelbraunen Haare hatte sie sich über die rechte Schulter gelegt und hinter das Ohr gestrichen. Hätte John raten müssen, er hätte sie für ein Galway Girl gehalten. Ganz wie in dem bekannten Song. Blaue Augen, dunkle Haare und grazile Gesichtszüge. Etwas an ihr kam ihm bekannt vor, doch er konnte es nicht einordnen.

Er riss den Blick von ihr los und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Noch immer prasselten dicke Tropfen vom Himmel, und die Scheibenwischer quietschten nach wie vor unzufrieden vor sich hin.

»Dann sind Sie Gast der O’Neills?« Er sollte aufhören, sie auszufragen. Doch Johns natürliche Neugier war schon immer stärker gewesen als seine Zurückhaltung.

Die Unbekannte nickte. »Kennen Sie sie?«

Fragend wandte sie ihm das Gesicht zu.

Kennen? ›Verachten‹ würde es wohl besser treffen. John biss sich auf die Zunge. Wie wenig er auch von den O’Neills halten mochte, es stand ihm nicht zu, schlecht über sie zu reden. Schon gar nicht vor jemandem, der offenbar zu ihnen gehörte.

»Sozusagen.« John betätigte den Blinker. »Jeder hier in der Gegend kennt sie«, antwortete er ausweichend.

»Sie sagen das, als wäre das etwas Schlechtes.« Sie formulierte es nicht als Frage oder Vorwurf, sondern stellte es lediglich fest. Trotzdem ärgerte sich John. Er hatte sich um einen neutralen Ton bemüht, doch sie schien ihn durchschaut zu haben.

»Woher kommen Sie?« Er versuchte, das Thema zu wechseln.

»Dublin.« Ihr Blick war starr aus dem Autofenster in den Regen hinaus gerichtet.

John verstand den Wink und stellte den Smalltalk ein. Womöglich war es sogar besser so. Je weniger er über die Frau wusste, desto eher vergaß er vielleicht, dass er sie auf direktem Wege in die Hölle brachte, und ersparte sich ein schlechtes Gewissen deshalb.

 

Rachel war nervös. Ihre Hände waren feucht, doch nicht von dem nassen Regen, der noch bis vor Kurzem auf sie niedergeprasselt war. In ihrer Speiseröhre stieg Magensäure auf und kratzte bis hinauf in ihren Rachen. Sie würde in wenigen Minuten auf ihre leibliche Familie treffen. Zumindest auf ihren vermeintlichen Onkel. Sie fühlte sich irgendwie nicht bereit dafür. Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.

Seitdem sie ins Auto des Fremden gestiegen war, konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Ruhig bleiben war die Devise. Da sich in ihrem Kopf alles um das bevorstehende Aufeinandertreffen drehte, hatte sie bei aller Freundlichkeit keinen Nerv für Smalltalk. Der Mann neben ihr schien das wohl inzwischen verstanden zu haben und ließ sie in Ruhe.

Mit kalten Fingern kuschelte sie sich tiefer in die flauschige Jacke und verfolgte die vorbeiziehenden grünen Wiesen. Eine Herde Schafe trotzte dem grauen Platzregen und machte es sich an einer der typischen Steinmauern bequem, die Irland durchzogen wie ein Spinnennetz. Zwei Farben dominierten den heutigen Tag. Grün und Grau. Während der Himmel immer dunkler wurde und der Regen immer stärker, leuchteten die Wiesen und Felder.

Die frisch geteerte Straße hob sich schwarz aus dem weitläufigen Grün empor, und die weißen Markierungen grenzten den Weg deutlich zu jeder Seite hin ab. Je weiter sie fuhren, desto besser erkannte Rachel durch den strömenden Regen, dass sie sich der Küste näherten. Tosend peitschte der Wind über die See und ließ die Wellen in ungeahnte Höhen steigen.

Rachel kannte die überraschend kurzweiligen Regenschauer, für die Irland so bekannt war. Aber das hier schien sich zu einem ungemütlichen Unwetter zu entwickeln.

Großartig, dachte Rachel. Besser könnte ihr Start wohl kaum ausfallen. Sie hoffte erneut, dass das Wetter kein Vorgeschmack auf ihren Aufenthalt sein würde.

Wie aufs Stichwort verließen sie die Landstraße. Rumpelnd bog der Jeep in eine gekieste Allee ab. Rechts und links säumten dicke alte Eichen den Weg, während sie auf ein großes altes Herrenhaus zusteuerten. Rachel hätte beeindruckt sein sollen. Stattdessen breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihr aus. Das Haus glich einem überdimensionalen rechteckigen Kasten aus massiven grauen Steinen, inklusive spitz zulaufenden Daches aus dunklen Ziegeln. Das Erdgeschoss wie den ersten Stock zierte eine Reihe hochkantiger Fenster, die wiederum in viele kleine Fensterscheiben unterteilt waren. Unwillkürlich überlegte Rachel, wie lange man wohl brauchte, um all diese Glasscheiben zu putzen. Und wie groß der Frust war, wenn man endlich fertig war und dann ein Unwetter wie heute darüber hereinbrach.

Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Typisch Rachel. Sobald es ernst wurde, spielten ihre Gedanken ein Katz-und-Maus-Spiel und lenkten sie vom Wesentlichen ab.

Schweigend steuerte der Mann neben ihr über die breite Auffahrt und hielt vor den grauen Treppenstufen, die zu einer großen schweren Eingangstür führten.

Er stellte den Motor ab. »Da wären wir.«

Nervosität stieg in Rachel auf.

»Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?« Auf einen Irrtum hoffend, sah sie zu dem Fremden am Steuer.

Der nickte allerdings bestätigend.

Für einen kurzen Moment verließ Rachel der Mut. Sie hätte es sich denken können, schließlich hatte ihr angeblicher Onkel über seinen teuren Anwalt mit ihr kommuniziert. Außerdem hatte er extra einen Wagen schicken wollen. Offensichtlicher hätten die Hinweise nicht sein können, dass es sich bei ihm nicht nur um einen einfachen Arbeiter handelte. Damit wäre Rachel vermutlich besser zurechtgekommen. Man hätte sich auf einer Ebene treffen können. So fühlte Rachel sich mehr wie ein verwaistes Lamm, das von den großehrwürdigen Landbesitzern inspiziert wurde. Mit aller Macht wehrte sie sich dagegen. Sie war eine erwachsene und unabhängige Frau. Egal, wer diese Menschen sein mochten, und egal, wie viel Geld sie vielleicht besaßen, sie waren deshalb nicht mehr wert als Rachel mit einem einfachen Job und einer zu kleinen überteuerten Wohnung.

Das Räuspern ihres Fahrers riss Rachel aus ihren Gedanken.

»Ich will Sie ja nicht rausschmeißen, aber Sie müssen schon aussteigen, wenn Sie da reinwollen.« Er deutete auf das mächtige Gebäude.

Sie schaute zu ihm hinüber. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Unbehagen. Seine Stirn durchzog eine Falte, und er kniff seine dunkelbraunen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Seine Hände umfassten das Lenkrad so fest, dass Rachel die Fingerknöchel hervortreten sah. Auch wenn er wohl versuchte, es nicht zu zeigen, machte der Unbekannte ihr sehr deutlich, dass er nur widerwillig hierhergefahren war. Fabelhaft, dachte Rachel. Was sagte das über ihren potenziellen Onkel aus?

Sie zerrte ihre Tasche vom Rücksitz und klemmte sie sich unter den Arm. Rachel wollte die Zeit des Fremden nicht länger in Anspruch nehmen. Es war ihr sowieso schon unangenehm, dass er sie überhaupt den ganzen Weg hier raus gefahren hatte.

»Was bin ich Ihnen schuldig?« Sie zückte ihren Geldbeutel.

Entgeistert starrte der Mann sie an.

»Sie waren gewissermaßen mein Taxi. Also, was bekommen Sie dafür?«

Er winkte ab. »Das passt schon. Kein Problem.«

Rachel blieb hartnäckig. Er hatte sich Umstände wegen ihr gemacht, es war das Mindeste, dass sie dafür aufkam. »Doch, bitte. Ich bleibe ungern etwas schuldig. Also?«

»Steigen Sie endlich aus. Damit sind wir quitt.« Seine Stimme klang schroff, und Rachel begann, ihn nicht zu mögen. Gleichzeitig war sie froh, dass sie nicht den ganzen Weg hatte laufen müssen. Besonders bei diesem Wetter.

»Wie Sie wollen.« Sie tat, als würde sie nachgeben, und nestelte an ihrer Tasche herum.

Der Fremde wandte den Blick ab und sah auf seine Uhr. Währenddessen öffnete Rachel schließlich die Autotür und stieg aus. Bevor sie sie wieder schloss, legte sie unauffällig einen Zwanzigeuroschein auf den Beifahrersitz.

»Danke nochmal fürs Mitnehmen«, sagte sie und schlug die Wagentür zu. Durchs Fenster nickte ihr der Mann zu, warf den Motor an und lenkte das Auto durch die Eichenallee zurück zur Straße. Während die Rücklichter des Jeeps im Regen verblassten, drehte Rachel sich um und musterte das Anwesen.

Just in diesem Augenblick wurde die schwere dunkle Tür geöffnet, und ein Mann in schwarzem Anzug kam eilig mit einem großen, ebenfalls schwarzen Regenschirm auf sie zugelaufen. Er musste wohl um die fünfzig sein, hatte schwarzgraues, kurzgeschnittenes Haar und ein freundliches Gesicht.

»So stehen Sie doch nicht im Regen, Miss«, rief er und winkte sie zu sich.

Rachel lief dem Herrn entgegen und überlegte, ob das vielleicht besagter Angus O’Neill war. Doch schnell klärte der Mann sie auf.

»Mein Name ist David. Ich bin Butler auf O’Neill Craig.« Er hielt den Regenschirm über sie und nahm ihr ungefragt die kaputte Reisetasche ab.

Rachel musste sich verhört haben. Butler? Es gab hier einen Butler? Wo war sie gelandet? Auf Downton Abbey? Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Bevor sie jedoch nachhaken würde, beeilten sie sich, ins trockene Haus zu kommen. Nach einer Handvoll Stufen ließ David ihr den Vortritt, schüttelte draußen den Regenschirm aus und folgte ihr dann ins Innere des Gebäudes. Eine Halle, die fast so groß war wie ihre gesamte Wohnung, empfing Rachel. Die Mauern waren mit dunkelgrüner Tapete überzogen, und wertvolle Gemälde, die verschiedene Jagdszenen darstellten, zierten die Wände. Dazwischen hingen altmodische Wandleuchter. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch aus dunklem Holz. Die Beine waren mit aufwendigen keltischen Schnitzereien versehen. Auf dem Tisch selbst hieß eine breite Vase mit einem üppigen Blumenbouquet aus weißen Rosen und Schleierkraut die Besucher willkommen. Hätte Rachel es nicht besser gewusst, hätte sie es für einen überdimensionalen Brautstrauß gehalten. Der gesamte Raum wurde von dem Duft der Rosen erfüllt.

Das goldene Licht des Kronleuchters breitete sich auf dem hellen Marmorboden aus. Vor der Eingangstür lag ein dicker roter Teppich, um den Schmutz von draußen abzufangen.

David erschien hinter ihr. »Darf ich Ihnen den …« Er musterte sie und suchte nach dem passenden Begriff. »… Mantel abnehmen?«

Rachel sah an sich hinunter und wurde sich plötzlich bewusst, dass sie noch immer die Jacke des Fremden trug, der sie hergebracht hatte. Und nicht nur das, sie hatte ihre Lederjacke bei ihm im Auto vergessen! Genervt schloss Rachel die Augen und atmete tief durch. Als sie ihre Lider wieder hob, lächelte David sie an. Er wartete weiterhin darauf, ihr den Mantel abzunehmen.

»Die gehört mir eigentlich gar nicht«, fühlte Rachel sich verpflichtet zu erklären. Sie lächelte zurückhaltend und zog dann die Jacke aus. Als sie David den grauen Stoff mit den grünen Streifen an den Ärmeln aushändigte, kam sie sich plötzlich viel verletzlicher vor. Die Jacke hatte sie umhüllt wie eine kugelsichere Weste. Jetzt stand sie allein und ohne Schutz in diesem großen Haus. Gänsehaut überkam sie. Mit zitternden Fingern strich sie sich eine nasse Strähne hinters Ohr.

David verstaute die Jacke, die mehr einem Sweater glich, kommentarlos in einer edlen Garderobe, die aus dem gleichen dunklen Holz wie der Tisch gefertigt war, und nahm ihre Tasche. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, dann können Sie sich nach der Reise erst einmal frischmachen.«

Rachels Gänsehaut verstärkte sich. Eine heiße Dusche würde sicherlich helfen. Trotzdem fragte sie: »Ist Mister O’Neill nicht hier?«

Sie hatte erwartet, ihn bei ihrer Ankunft zu treffen. Dass sie weiterhin nur mit seinen Mitarbeitern sprach, wurmte sie. Wie wichtig war es diesem Mann wirklich, sie kennenzulernen?

»Mister O’Neill ist in der Destillerie. Er wird vermutlich bald zurück sein. Sie werden ihn beim Dinner treffen.«

Destillerie? Dinner? Es wurde immer kurioser. Und Rachels nervöses Bauchgefühl verstärkte sich mit jeder Sekunde. Trotzdem, eine Dusche würde ihr guttun. Also folgte sie David über die Treppe, die links neben dem Tischchen mit Rosen in den ersten Stock hinaufführte. Ebenso wie der Boden in der Eingangshalle waren auch die Stufen mit hellem Marmor überzogen. Im ersten Stock angekommen, konnte Rachel zu ihrer Rechten über eine Brüstung aus weißen Säulen hinab ins Erdgeschoss sehen. Zwei altmodische Sessel mit dunklem Stoffbezug, auf den kleine goldene Geweihe gestickt waren, luden zum Verweilen ein. Rechts und links davon standen hohe Regale, voll mit alten Büchern. Zwischen den beiden Sesseln erblickte Rachel einen Kamin, der darauf wartete, angezündet zu werden.

David folgte ihrem Blick. »Wenn Sie möchten, kann ich das gerne für Sie herrichten. Ich empfehle Ihnen allerdings den Kamin im Wohnzimmer. Er ist nicht nur größer, dort ist es noch etwas gemütlicher, wenn Sie hinaus auf die Klippen schauen.«

»Auf die Klippen?«, fragte Rachel.

»Ja, die Cliffs of Moher. O’Neill Craig befindet sich auf einer Anhöhe, sodass Sie einen fantastischen Blick auf die Klippenformation haben, auch wenn sie etwas entfernt liegt.«

Zu erstaunt, um darauf zu antworten, nickte Rachel bloß.

»Hier entlang, bitte.« David zeigte höflich mit einer Hand in einen der Flure, der von dem – ja, wie nannte man das überhaupt? Empore? Leseecke? Mini-Wohnzimmer ohne Ausblick? Rachel beschloss, später einen Begriff dafür zu suchen, und folgte dem Butler durch einen langen Gang, der in den linken Teil des Hauses führte. Ähnlich wie die Empfangshalle waren auch diese Mauern mit dunkelgrüner Tapete ausgestattet. Verschiedene Gemälde hingen in exakt ausgemessenen Abständen an den Wänden und wechselten sich mit weißen Holztüren ab. David blieb auf halber Strecke an solch einer Tür stehen und drehte den goldenen Knauf. Sogleich öffnete sich die Tür, und David bat sie, einzutreten.

Rachel verschlug es den Atem. Sie war tatsächlich in Downton Abbey! Ein breites Bett neben dem Eingang dominierte den Raum. Doch es war nicht das Bett, das Rachel verblüffte, sondern der hyazinthblaue Baldachin, der sich darüber erstreckte. Marineblaue Kordeln hielten den Stoff an den Eckpfeilern des Bettes zusammen und versteckten die Holzstreben. Auf beiden Seiten befanden sich hölzerne Nachttische an der Wand, auf deren Oberflächen keltische Schnitzereien eingearbeitet worden waren.

Doch noch mehr staunte Rachel über die Aussicht. Gegenüber dem Bett waren drei der großen unterteilten Fenster, die Rachel bereits von außen auf der Vorderseite begutachtet hatte, in die Mauern eingelassen. Vor einem davon befand sich ein gemütlicher Sessel mit hellblauem Überzug, von dem aus man den Blick auf die Klippen genießen konnte. Genau, die Klippen. Rachels Zimmer war auf der Rückseite des Hauses und gab somit ebenjenen Blick auf das Naturschauspiel frei, von dem David zuvor im Zusammenhang mit dem Wohnzimmer gesprochen hatte.

Vorsichtig näherte sie sich dem Fenster und schob eine der weißen Gardinen beiseite. Eine riesige Gartenanlage schlummerte unter ihr im Winterschlaf. Dennoch erkannte Rachel eine Reihe von Rosenbüschen, die mit Tannenzweigen abgedeckt waren. Auf einer steinernen Terrasse standen Korbsessel gut eingepackt, um vor Wind und Wetter geschützt zu werden. Weiter hinten, gute fünfzig Meter entfernt vom Haus, fiel der Rasen plötzlich ab, und Rachel erblickte die raue See. Das Anwesen schien mit dem Garten direkt an den Atlantik zu grenzen.

Rachels Blick wanderte weiter. Da waren sie. In all ihrer Pracht. Die Cliffs of Moher. Langgezogen und immer wieder durch Vorsprünge unterbrochen, zierten sie die gesamte Küstenlinie, die Rachel sehen konnte. Einhundertzwanzig bis zweihundert Meter ragten die Steilklippen in die Höhe, an diese Zahlen meinte Rachel sich zumindest zu erinnern. Auf der Busfahrt hatte sie im Internet ein wenig über die Klippen gelesen. Acht Kilometer der irischen Küste nahmen sie für sich ein und beheimateten zahlreiche Vogelarten. Selbst durch den starken Regen konnte Rachel die verschiedenen Steinschichten sowie die tosenden Wellen an der Stelle, wo sie auf den wilden Atlantik trafen, wahrnehmen. Oben auf den Klippen lag die typische irische Wiese. Es wirkte fast ein bisschen wie eine grüne Decke, die die rauen Flecken an der Oberfläche der Klippen verbergen sollte.

Rachel riss den Blick von der Felsformation los und schaute verblüfft zu David. Der lächelte.

»Sie sehen die Klippen zum ersten Mal, oder?«

Sie nickte.

»Jeder, der sie zum ersten Mal sieht, hat diesen verzauberten Ausdruck auf dem Gesicht.« Er schmunzelte höflich. »Ich lasse Sie jetzt allein. Klingeln Sie einfach, wenn Sie etwas benötigen.« Er deutete auf ein Tablet, das an der Wand neben der Tür angebracht war. Sie mochte in einem Haus aus einem anderen Jahrhundert gelandet sein, aber trotz allem schien es auch im modernen Zeitalter angekommen zu sein.

David war schon fast zur Tür hinaus, als Rachel noch etwas einfiel.

»Vielen Dank.«

Der Butler nickte und schloss die Tür hinter sich.

Seufzend ließ Rachel sich auf dem Sessel nieder und musterte das Zimmer. Die Wände waren in einem zarten Beigeton gestrichen. Glücklicherweise gab es nur ein einziges Gemälde. Es zeigte einen riesigen bunten Blumenstrauß aus wilden Lupinen, Klee und Margeriten. Hinter dem Bett entdeckte sie eine weitere Tür aus weißem Holz. Sie öffnete sie und fand ein Badezimmer in modernster Ausstattung. Eine ebenerdige Dusche, eine freistehende Badewanne mit goldenen Füßen sowie ein Waschbecken, dessen Spiegel neben einem weiteren Fenster hing. Rachel konnte beim Zähneputzen auf die Klippen sehen – wie verrückt war das bitte?

Überwältigt von all den Eindrücken, traute Rachel sich kaum, irgendetwas zu benutzen, geschweige denn ihre Kleidung in der kleinen Kommode im Gästezimmer zu verstauen. Ihre einfachen Jeans und Pullover wirkten hier so fehl am Platz. Besorgt dachte Rachel darüber nach, wie sehr sich dieser Lebensstil von ihrem unterschied. Was sie wohl zum Dinner erwarten würde? Hoffentlich niemand in Anzug oder schicken Kleidern. Dafür war sie gewiss nicht richtig ausgestattet.

Rachel verschloss die Tür zu ihrem Zimmer und schrieb Mara, dass sie gut angekommen war. Dann hängte sie ihre nassen Sachen über die Wandheizung im Bad und stellte die Dusche an. Während sie das heiße Wasser auf ihre kalten Schultern rieseln ließ, nahm sie sich fest vor, sich von all dem Prunk nicht blenden zu lassen. Mochte ihre leibliche Familie auch vermögend sein, es änderte nichts daran, dass man sie nicht hatte haben wollen. Mit einem Stich in der Brust überlegte sie, dass es an finanziellen Mitteln wohl kaum gefehlt haben konnte. Sie schloss die Augen und ließ das Wasser über ihre unterkühlten Glieder strömen.

 

3

 

 

»Johnny, was macht das Sprunggelenk?« Irgendwo aus dem hinteren Teil des Raumes ertönte eine Frauenstimme.

Wie er diese Frage hasste. Ohne sich umzudrehen, rief John: »Großartig!«

Er hob sein Pint und nahm einen Schluck von seinem Guinness. Der Tag war fast vorbei, und er saß in dem einzigen Pub von Ardwellheart, dem Old Moher’s. Er hatte keine bestimmte Absicht gehabt, als er hergekommen war. Nur musste er unter Menschen. Als hätte er es in Gedanken herbeigeschrien, hockte sich ein Mann, Mitte sechzig, mit untersetztem Bauch und schütterem Haar, neben ihn und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter.

»Mann, Johnny. Kaum zu glauben, dass du diese Saison nicht gespielt hast. Das Team scheint es aber auch ohne dich zu schaffen, was?« Der Mann schluckte seinen Whiskey hinunter. »Das war eine ganz fiese Aktion damals. Ich hoffe, den Typ wird es eines Tages ganz schlimm erwischen!«

»Ja, ärgerlich.« John nickte.

»Aber wenigstens hast du den Ring noch nach Hause gebracht.« Der Alte strahlte. »Und du bleibst weiterhin in Ardwellheart?«

Wieder nickte er. »Vermutlich. Mal sehen.«

»Natürlich.« Der Mann klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Nimm’s nicht so schwer, John. Das wird schon wieder.«

»Auf jeden Fall.« John bemerkte dankbar, dass der uneingeladene Gast sich wieder verzog. Nur um festzustellen, dass sich ein anderer Typ auf den Barhocker neben ihm schwang. Erleichtert erkannte er, dass es sich diesmal um wesentlich angenehmere Gesellschaft handelte.

»Warum tust du dir das eigentlich an?« Bryan war Johns bester Freund und hatte den Pub vor einigen Jahren übernommen. Sein rostrotes Haar stand ihm wirr um den Kopf, und seine grünen Augen verrieten eindeutig seine irische Herkunft. Er trug eine graue Jeans und ein schwarzes Hemd. Er langte hinter die Theke und stellte sich und John einen Whiskey hin.

»Kein O’Neill, hoffe ich.« John bedachte seinen Freund mit einem warnenden Blick.

Der hob abwehrend die Hände. »Würde ich bei dir nie wagen. Das ist guter alter Jameson.«

John nickte und nippte an dem Whiskey.

»Also, warum tust du dir das Brimborium hier an?«, wiederholte Bryan. »Ist doch klar, dass dich alle auf das Ding ansprechen.«

Das Ding, wie Bryan es nannte, war das Ende von Johns Karriere als Profi-Spieler im American Football. Vor gut einem Jahr hatte er noch im Super Bowl gestanden, dem Finale der National Football League in den Vereinigten Staaten, auch NFL genannt. Mit seinem Team, den Celtic Tigers aus Boston, hatte er um den glorreichen Titel des American Football gekämpft. Nur die besten Teams schafften es dorthin, und ein Sieg hing von so vielen Faktoren ab. Wenn die Dynamik im Team beispielsweise nicht stimmte, brauchte man gar nicht erst in die Play-Offs zu gehen.

Und bei den Celtic Tigers war es in jener Saison richtig gut gelaufen. Ob Defense, Offense oder Trainerstab – alle waren auf einer Wellenlänge, und er, John Carter, war auf dem absoluten Höhepunkt seiner Leistungen als Quarterback gewesen. Er hatte die wohl wichtigste Position im Team bekleidet, indem er der ausführende Arm des Trainers war und das Spiel in dessen Sinne lenkte. Er war das Herz und der Kopf des Teams, und wenn er versagte, versagte die ganze Mannschaft.

Und verdammt, er war in Bestform gewesen. Seine Pässe waren so sicher und zielgerichtet wie in keiner Saison zuvor. Seit Beginn seiner Karriere gehörte er zu den besten Quarterbacks der Liga, doch in jenem Jahr hatte er seine eigenen Rekorde gebrochen.

John nahm einen weiteren Schluck Whiskey aus dem Glas, das Bryan ihm gereicht hatte. Der Gedanke, dass er nie mehr würde spielen können, verursachte ihm immer noch Magenschmerzen. Missmutig dachte er zurück an den entscheidenden Moment.

Es waren nur noch wenige Sekunden im letzten Viertel des Super Bowls zu spielen gewesen. Sein Team hatte zwar in Führung gelegen, doch wäre ihnen nur ein Fehler unterlaufen, hätten die New England Patriots punkten und damit das Spiel für sich entscheiden können. Sowohl sein Coach als auch John hatten den letzten Spielzug entsprechend defensiv gewählt. Doch wie aus dem Nichts war plötzlich Freddy Curtis, Defense-Spieler der gegnerischen Patriots, durch die Offense der Celtic Tigers gestürmt und hatte John in dem Versuch, ihn am Wurf zu hindern, getackelt, also umgerannt. John hatte den Angriff zwar abwehren und den ovalen Ball aus Leder schützen können, doch dafür war sein Sprunggelenk in tausend Einzelteile zerbrochen.

Im American Football war es normal, ständig irgendwelche Verletzungen zu erleiden. Es gehörte zum Berufsrisiko. Der Sport war hart, und wenn die Athleten aufeinanderstießen, krachte es mitunter schon mal ordentlich. John war in den vergangenen fünfzehn Jahren davon nicht verschont geblieben. Insofern war er Verletzungen aller Art gewohnt, doch noch nie hatte er solche Schmerzen verspürt wie bei diesem Super Bowl.

Curtis musste seine Stollenschuhe in einem so ungünstigen Winkel und mit so viel Kraft auf Johns Fußgelenk gedonnert haben, dass dem nichts mehr hatte standhalten können. Noch während die letzten Sekunden gespielt worden waren, hatte man John bereits vom Feld gebracht. Nach dem ersten Röntgenbild in den Katakomben des Stadions war klar gewesen, dass er umgehend operiert werden musste.

Die Celtic Tigers hatten währenddessen erfolgreich ihre Führung verteidigt und den Super Bowl für sich entschieden. Die anschließende Party, die ausgelassene Stimmung und die Konfettikanonen hatte John nicht mehr miterlebt. Er war bereits auf dem Weg in den OP gewesen.

Nur wenige Tage nach der Operation hatte John mit der Physiotherapie angefangen. Er war dafür extra in eine der besten Rehakliniken der Ostküste gegangen und hatte sich in Rekordzeit erholt. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass sie sein Sprunggelenk mit mehreren Schrauben und Platten hatten fixieren müssen. Dank seiner Tätigkeit als Profi-Footballer war der Rest seines Körpers in bester Verfassung. Das tägliche Muskel- und Ausdauertraining hatte die Ausgangssituation nach der Operation begünstigt.

Hatte der Chirurg noch davor gewarnt, dass John seinen Fuß womöglich nie wieder voll belasten könnte, hatte John ihm nach drei Monaten intensiver Physiotherapie und Muskelaufbautraining das Gegenteil bewiesen. Selbst die Therapeuten waren über die schnellen Fortschritte, die John in der Reha machte, überrascht gewesen. Sein unbedingter Wille, für die nächste Saison fit zu sein, hatte ihn unerschrocken angetrieben.

Wie sich jedoch herausstellte, hatte daraus nichts werden sollen. Trotz der positiven Entwicklungen war sein Sprunggelenk so lädiert, dass es nie wieder für den Profi-Sport einsatzfähig sein würde. Er hätte vielleicht ein oder zwei Spiele geschafft, doch danach hätte er das Gelenk in die Tonne treten können – oder das, was davon übrig geblieben wäre.

Die Diagnose hatte John wie ein Tornado getroffen. Er hatte lange gewusst, dass er auf ihn zusteuerte, und doch hatte ihn die Wucht des Wirbelsturms überrascht. Die Diagnose hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen und ihn in gefährlicher Geschwindigkeit in einen Abgrund stürzen lassen, aus dem er sich bis heute hinauszukämpfen versuchte. Von fünf verschiedenen Ärzten mit den besten Auszeichnungen, Abschlüssen und Empfehlungen hatte John sich die Resultate absichern lassen. Es stand fest. Unumstößlich. Er würde nie wieder Football spielen können.

Seine Karriere war zu Ende. Sein Leben war vorbei. Nach nunmehr zwei Super-Bowl-Siegen und unzähligen Rekorden gehörte er mit nur dreiunddreißig Jahren zum alten Eisen, das es nicht mal mehr auf die Ersatzbank schaffte. In der vergangenen Saison noch der bestbezahlte Quarterback der Liga und jetzt zu kaputt, um zu spielen.

Noch während John von dem fünften Spezialisten die finale Diagnose eröffnet bekommen hatte, hatte er beschlossen, nach Irland zurückzukehren. Er hatte nicht in den Staaten bleiben können, während seine Teamkollegen den letzten Super Bowl feierten, sich auf die nächste Saison vorbereiteten und die Zeitungen über seinen weiteren Werdegang spekulierten. Er hatte weggemusst von allem, was ihn an Football erinnerte. Es schmerzte zu sehr. Noch mehr als die eigentliche Verletzung.

Und jetzt saß er hier. Seit einem Dreivierteljahr war er zurück in Ardwellheart, dem Ort, in dem er aufgewachsen war. Vermutlich auch der Ort, an dem die meisten American-Football-Fans Irlands lebten. Während auf der grünen Insel vornehmlich Rugby gespielt wurde, hatten sich die Menschen in Ardwellheart an seine Fersen geheftet, sobald er die ersten Erfolge in der NFL für sich verbucht hatte. Obwohl er seit seiner Abreise in die Staaten vor fünfzehn Jahren nie wieder hier gewesen war, taten die Leute, als würde man sich ewig kennen. Sie sahen in ihm immer noch den Jungen aus Ardwellheart, der Äpfel geklaut und Graffiti an Wände gesprüht hatte. Gleichzeitig ergötzten sie sich an seinen Erfolgen, als hätten sie dazu beigetragen.

Trotz allem hatten sie ihn auch herzlich aufgenommen. Ja, die Fragen nach seiner Verletzung nervten ihn tierisch. Aber sie meinten es gut, das wusste er. Nachdem es sich herumgesprochen hatte, dass John Carter zurück in Ardwellheart war, hatte man für ihn sogar eine Willkommensparty im Pub geschmissen, und ein paar ältere Damen hatten ihm Essen vorbeigebracht. Weil er ja niemanden habe, der sich um ihn kümmere, so ihre Einschätzung seiner Lebenssituation.

Kopfschüttelnd nahm John einen weiteren Schluck Jameson. Langsam gewöhnten sich die Menschen daran, einen der erfolgreichsten Quarterbacks des American

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Madita Tietgen
Cover: Grit Bomhauer
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2022
ISBN: 978-3-96714-228-0

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