Apfelfieber
Madita Tietgen
Für Annika.
Weil sie mit Abstand die beste Schwester auf dieser Welt ist.
1
»Komm schon, Heather. Du weißt, dass ich auf den Job angewiesen bin.« Clare fuhr sich mit der Hand durch ihre offenen hellbraunen Haare. Nichts hasste sie mehr, als zu betteln, doch wenn sie ihren Stolz diesmal nicht unterdrückte, würde sie sich einer viel schlimmeren Blamage hingeben müssen. Nämlich dem Klischee, dass das Mädchen vom Lande mit den großen Träumen in der Großstadt gescheitert war. Das wollte sie auf keinen Fall zulassen. Sie atmete noch einmal tief ein und ging in die Offensive.
»Ich leiste bessere Arbeit als die meisten hier, das kannst du wohl kaum bestreiten.« Clare sah ihrem Boss direkt in die Augen.
Heather McLaughlin war erst Anfang vierzig, doch in ihre braunen Haare mischten sich bereits ein Dutzend graue Strähnen. Sie trug ihr übliches Bürooutfit. Eine dunkle Anzughose, eine Seidenbluse und ausgefallene Pumps. Sie war bekannt für ihre Schuhe. Für Heather waren sie vermutlich das wichtigste Kleidungsstück. Heute trug sie eine gewagte Kreation aus Froschgrün, gespickt mit kleinen weißen Federn am Absatz.
Es war unüblich, dass die Mitarbeiter dem Geschäftsführer direkt unterstanden, doch bei Irish Readings, dem Verlag, für den Clare arbeitete, hielt man nichts von komplizierten Hierarchien. Kurze Wege und klare Kommunikation waren das Erfolgsgeheimnis, mit dem sich der Verlag auf dem stark umkämpften Markt behauptete. Trotzdem hatte auch Irish Readings mit der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Infolgedessen mussten Einsparungen vorgenommen werden. Etwa durch Mitarbeiterentlassungen. Clare sollte nun zu einer solchen Einsparung werden. Doch sie weigerte sich, das zu akzeptieren, seitdem sie vor zwanzig Minuten in Heathers Büro gekommen war.
Heather war die Situation sichtlich unangenehm. »Hör zu, Clare. Ich habe keine andere Wahl. Ja, du bist eine großartige Autorin, das muss ich dir nicht sagen. Aber wir müssen sparen, und du bist am kürzesten hier. Irgendwo müssen wir anfangen.«
»Aber wieso bei mir? Ich gebe meine Aufträge immer pünktlich ab. Ich bleibe am längsten und habe mich noch nie vor einem Auftrag gedrückt. Geschweige denn mich beschwert.« Clare dachte an Flynn. Ihr Kollege war zwar ein liebenswerter Mensch, doch er schrieb ausschließlich die Texte, die ihm thematisch zusagten. Sobald er auch nur ein wenig Rechercheaufwand in ein fremdes Gebiet stecken musste, stellte er sich quer, und jemand anderes musste den Job übernehmen. In vielen Fällen war diese Person Clare.
»Es tut mir leid, Clare. Wirklich. Aber die Entscheidung ist gefallen. Ende der Geschichte.« Heathers Gesicht drückte so viel Mitleid aus, dass Clare es nicht länger ertrug. Sie hatte gekämpft, doch nun musste sie einsehen, dass sie verloren hatte. Bei dem Gedanken drehte sich ihr Magen um.
Ich habe es dir doch gesagt, ertönte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Es wird Zeit, nach Hause zu kehren, mein Schatz. Clares Mum hatte noch nie verstanden, warum sich ihre einzige Tochter ausgerechnet zur Großstadt hingezogen fühlte. Als Clare damals verkündet hatte, in Dublin Buchwissenschaften studieren zu wollen, hatte ihre Mutter nur verwundert den Kopf geschüttelt. Ihre Kleine würde nie und nimmer das behütete Nest verlassen, davon war sie überzeugt gewesen. Als sie nach mehreren Monaten schließlich gemerkt hatte, dass es Clare ernst war, hatte sie mindestens einmal täglich betont, wie gefährlich und anonym die Großstadt doch sei. Sie hatte alles versucht, vom schlechten Gewissen über Dramatisierungen bis hin zu Erpressung. Doch Clare war standhaft geblieben. Als sie vor drei Jahren dann den Hof ihrer Eltern verlassen hatte, hatte es ihr beinahe das Herz zerrissen, doch sie hatte diesen Schritt gehen müssen. Für sich.
Das Studium hatte sich als Volltreffer erwiesen. Sie liebte das Studentendasein, genoss es, morgens in der lebhaften Stadt aufzuwachen und jeden Abend in einem anderen Pub zu sitzen. Sie hatte sich einen kleinen, aber verlässlichen Freundeskreis aufgebaut und ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Bei Irish Readings hatte sie wenig später ihren ersten richtigen Job bekommen. Glücklich hatte sie bei ihrem anschließenden Besuch zuhause von den guten Neuigkeiten erzählt. Während ihr Vater und ihre Brüder vor Stolz geplatzt waren, war ihre Mutter zunehmend stiller geworden. Sie hatte sich für ihre Tochter gefreut, doch nicht verbergen können, wie sehr sie sich gewünscht hatte, Clare würde zurück auf den Hof kommen. Nun … Vielleicht würde ihr Wunsch nun schneller in Erfüllung gehen als gedacht.
Während Clare in Heathers kleinem Büro saß, erschien vor ihrem inneren Auge das Bild ihrer Eltern, die sich auf dem Hof abmühten, ihres engen Kinderzimmers mit der hellblauen Tapete und dem Blick hinaus auf die Felder mit den vielen blühenden Apfelbäumen. Ihr Magen krampfte, und Clare konnte kaum atmen. Sie musste raus. Raus aus Heathers Büro, raus an die frische Luft.
Heather hatte scheinbar die ganze Zeit auf sie eingeredet. Ihre Stimme drang endlich wieder zu Clare durch. Sie hörte sie irgendetwas von »bis Ende des Monats« reden.
Unvermittelt erhob sich Clare. »Ich muss los.«
Sie drehte sich um und ging zur Tür, um das Büro zu verlassen. Würde sie auch nur eine Sekunde länger in diesem Raum bleiben, würde sie ersticken.
»Ist alles in Ordnung, Clare? Du siehst etwas blass um die Nase aus. Soll ich dir ein Glas Wasser holen?« Heather schien ernsthaft besorgt.
»Nein, danke. Mir geht es gut.« Clare drehte den Türknauf und floh.
Es war erst früher Nachmittag, doch Clare hatte so viele Überstunden aufgebaut, dass sie es sich durchaus leisten konnte, einmal früher Schluss zu machen. Und wenn schon, dachte sie sich. Rausgeschmissen hatte man sie ja sowieso schon.
Irish Readings saß in einem sanierten Gebäude im Zentrum der Stadt. Nach wenigen Schritten war Clare auf der Grafton Street und lief Richtung Trinity College. Auf dem Gelände ihrer alten Universität hatte sie sich immer wohl und geborgen gefühlt. Die historischen Gemäuer schützten sie vor der düsteren Außenwelt. Es fing an zu regnen, doch Clare spürte es kaum. Was machten auch schon ein paar Tropfen mehr oder weniger auf ihrem abgetragenen Mantel. Wie in Trance lief sie durch das Tor hindurch in den Innenhof des Trinity College. Sie schob sich durch die Menschenmenge und steuerte direkt auf die Bibliothek zu.
Obwohl sie keine eingeschriebene Studentin mehr war, bekam sie dank ihres Bekanntenkreises noch immer kostenlosen Zutritt zur berühmten Bücherei, in der sich auch das Book of Celts befand. Zwar wimmelte es hier von Touristen, doch die hohen Wände mit den Regalen voller alter Bücher waren Clares Zufluchtsort. Wann immer sie einen Platz zum Nachdenken, Grübeln oder Abschalten benötigte, kehrte sie hierhin zurück.
Nachdem sie sich an der Besucherschlange vorbeigeschoben hatte, sah sie, dass Cliff sich heute um die Ticketkasse kümmerte. Die beiden hatten gemeinsam mehrere Kurse besucht, und er war ihr ein guter Freund geworden. Anders als Clare weilte er allerdings immer noch im Studentendasein, ein Ende war wohl nicht so bald in Sicht. Seine Eltern finanzierten sein ausuferndes Studium in Wirtschaftswissenschaften, und anstatt sich mit der Weiterentwicklung seines Lebens zu beschäftigen, sammelte er lieber BHs von Austauschstudentinnen. Einst hatte er es auch bei Clare versucht, doch sie hatte ihn schnell durchschaut. Clare hatte sich geschmeichelt gefühlt. Sie war gewiss keine Schönheit, doch Cliffs Avancen gaben ihr ein gutes Gefühl. Nach ihrer Abfuhr – die ihr wirklich schwergefallen war – hatten beide gemerkt, dass sie als Freunde viel besser taugten als als einmaliger One-Night-Stand. Zudem hatte Cliffs Perspektive ihr geholfen, sich auf die guten Dinge zu konzentrieren. Sie hatte feine Gesichtszüge, eine schmale Taille sowie lange, wohlgeformte Beine. Ihre eher geringe Oberweite oder die breiten Hüften nahm sie künftig als gegeben an. Es sah eben nicht jede Frau aus wie ein Katalog-Model.
Cliff schob sich gerade eine dunkle Strähne aus der Stirn, als er Clare erblickte. Sofort unterbrach er seinen Flirt mit einer dänischen Studentin. Er kam hinter dem Ticketschalter hervor, und Clare musste unwillkürlich lächeln. Cliff weigerte sich, mit der Zeit zu gehen, und so trug er statt den neuesten Hipster-Klamotten lieber ein gebügeltes Hemd, eine altmodische Anzughose mit Hosenträgern und schwarze Socken. Niemals würde Cliff mit bunten Farben um sich werfen, schon gar nicht in seinem Kleiderschrank. Er glaubte noch an die Wirkung von Schwarzweiß. Und seine Rechnung ging auf. Claire konnte sich nicht erinnern, ihn abends einmal alleine nach Hause gehen gesehen zu haben. Doch Cliff war keineswegs ein Macho. Er konnte nichts dafür. Er war dafür geschaffen, die Frauen um sich herum verrückt zu machen. Alle außer Clare. Und dafür liebte sie ihn wie einen Bruder. Denn sosehr er auch hinter seinen internationalen Studentinnen her war, war er in den vergangenen drei Jahren immer für sie da gewesen, wenn es drauf ankam.
Cliffs Lächeln wurde bald von einem Stirnrunzeln ersetzt, als er Clare erreichte. Er nahm sie in den Arm, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ihr Gesichtsausdruck mit den traurigen grünen Augen sowie ihre klitschnasse Erscheinung sagten wohl mehr als Worte. Er war Clares Ersatzbruder, den sie in der Großstadt gefunden hatte.
Nach einer festen Umarmung rief er einem Kollegen zu, er käme gleich wieder, und führte sie durch die Ausstellung direkt in die Bibliothek.
»Sag mir Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann.« Er drückte ihre Hand. Es war verrückt, doch Cliff verstand genau, was Clare in diesem Moment brauchte.
»Danke.« Sie hauchte einen Kuss auf seine Wange und schniefte. Dann setzte sie, so gut sie konnte, ein Lächeln auf und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Und jetzt mach deine neueste Eroberung nicht länger eifersüchtig.« Clare nickte in Richtung Kasse. Cliff lachte und ließ sie allein.
Der längliche Raum der Bibliothek erinnerte Clare immer wieder an ein Kirchenschiff. Von dem weiten, schmalen Innengang zweigten rechts und links kleine Nischen mit meterhohen Bücherregalen ab. Durch die hohen, bunt verzierten Fenster fiel das wenige Nachmittagslicht, das die Regenwolken nicht in sich aufgesogen hatten. Vor jeder Nische thronten rechts und links die Büsten bedeutender Schriftsteller und Denker. Mit ihren aufmerksamen Blicken wachten sie über die literarischen Schätze, die sich hier verbargen.
Jedes Mal, wenn Clare an den Büsten vorbeiging, fühlte sie deren Blick auf sich ruhen. Sie beobachteten sie. So als würden sie genau darauf achten, wer sich den gut sortierten Büchern näherte. Clare liebte die Ordnung in den Regalen, welche nach etwa zweieinhalb Metern, durch eine Balkonbrüstung unterbrochen, im ersten Stock fortliefen. Zu Beginn jedes einzelnen Regalbretts standen die Buchstaben der dort verwahrten Werke. Alles war penibel nach Alphabet sortiert. In einigen Nischen befanden sich schmale Wendeltreppen, die in den ersten Stock der Bibliothek führten.
Clare atmete den modrigen Duft ein und lief bis ans Ende des Hauptgangs. Dort stand eine unscheinbare Bank. Sie setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie ließ ihren Blick über all die Bücher schweifen und dachte daran, wie sehr sie ihren Job liebte. Schon während des Studiums hatte sie selbst zu schreiben begonnen. Sowohl für die Unizeitung als auch für kleinere lokale Blätter. Sie verdiente sich ihr Geld außerdem mit dem Lektorat neuer Bücher. So war sie auch mit Irish Readings in Kontakt gekommen. Der Verlag beschäftigte Autoren, die nur im Auftrag schrieben. Er bestimmte die Themen, die man für verkaufstüchtig hielt, und die Autoren setzten die Texte um. Suchte jemand zum Beispiel einen Biographen, klopfte er bei Irish Readings an, damit der Verlag den dafür passenden Autor fand.
Mit ihrer gewissenhaften und effizienten Arbeitsweise hatte Clare Eindruck bei ihren Kollegen und Vorgesetzten geschunden, sodass man ihr kurz vor Abschluss ihres Studiums einen Job angeboten hatte. Doch Clare wollte mehr als nur gegenlesen. Sie wollte selbst schreiben. Sie hatte ihren Mut zusammengenommen und Heather McLaughlin ihren Plan eröffnet. Sie hatte eine Bewährungsprobe bekommen. Ein Autor war kurzfristig ausgefallen, und sie hatte für ihn einspringen und sein Manuskript fertigstellen dürfen. Doch anstatt den Text zu finalisieren, hatte sie alles über den Haufen geworfen und von vorne angefangen. Sie hatte es tun müssen. Ihre Finger waren wie von selbst über die Tasten ihres Laptops geflogen. Clare war überzeugt gewesen, dass der bisherige Text seinem Thema in keiner Weise gerecht wurde. Sie hatte Tag und Nacht an dem Buch gearbeitet, und als sie einer geschockten Heather ihre Arbeit pünktlich zum Stichtag überreicht hatte, war dies nicht ohne einen gewissen Stolz geschehen. Der hatte sich allerdings schnell verflüchtigt, als sie eine ordentliche Standpauke von ihrer Chefin erhielt.
»Ich habe dir den Auftrag gegeben, das Skript fertigzustellen, nicht, es vollkommen neu zu schreiben!«
Trotzig hatte Clare damals ihr Kinn gehoben und ihrem Boss erklärt, dass es gegen ihren Qualitätsanspruch gegangen sei, das ursprüngliche Skript weiterzuführen. »Das war totaler Mist, Heather.«
Entgeistert hatte Heather sie angestarrt. Clare hatte gerade einen ihrer besten Autoren als unfähig bezeichnet. Für den Rest des Tages war sie beurlaubt worden. Innerlich hatte sie sich bereits ihren Schreibtisch räumen sehen, als sie am nächsten Morgen zu Heather zitiert wurde. Deren Miene hatte keinen Schluss zugelassen, was Clare wohl erwartete. Sie hatte inständig gehofft, dass sie sich ihre Version durchgelesen und für gut befunden hatte. Doch als Heather den Mund öffnete, hatte Clare sich von dieser Vorstellung verabschiedet.
»Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Pete ist einer unserer besten Autoren. Hast du Ein Herz für Samuel Beckett gelesen? Den Bestseller? Das war von Pete. Erinnerst du dich an Unsere Molly Malone? Das hat Pete geschrieben. Ach, und wie fandest du das Buch des Jahres zweitausendsiebzehn? Das kam auch aus seiner Feder.«
Oh Gott, sie wusste, sie hätte nicht anmaßender sein können. Sie hatte es wirklich gewagt, das aktuelle Buch des großartigen Pete McMullin als Mist zu bezeichnen. Was hatte sie nur getan?
»Nun … Das waren fantastische Bücher, die Pete da geschrieben hat.« Heather hatte einen Stapel Papier in die Hand genommen und ihn auf ihren Schreibtisch fallen lassen. »Was er sich hierbei allerdings gedacht hat, ist mir schleierhaft.«
Clare hatte aufgehorcht. »Wie bitte?«
»Na also, mal ehrlich. Man kann doch ein Buch über die Geschichte das Trinity College nicht mit den Worten anfangen: ›Es war einmal …‹ Das ist verdammt nochmal kein Märchen. Pete ist großartig, aber was er sich bei diesem Text gedacht hat? War er überhaupt einmal auf dem Gelände des Colleges? Nach diesem Text zu urteilen, sicherlich nicht.«
Clare war nicht sicher gewesen, was sie von dieser Ansprache hatte halten sollen. Hatte Heather ihr etwa gerade zugestimmt, dass das Skript von Pete McMullin Schwachsinn war? Clare hatte entschieden, dass es für den Moment besser war, nichts darauf zu erwidern und abzuwarten.
Heather war aufgestanden und um den Tisch zu ihr herumgekommen. »Ich halte nichts von eigenmächtigen Entscheidungen. Ich dulde das nicht in meinem Verlag.«
Ihre Augen hatten sie geradezu durchbohrt. Dann plötzlich hatte sie laut aufgelacht.
»Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du in Pete einen Freund finden wirst, aber was du aus der Story gemacht hast … Also, das ist einfach unbeschreiblich!«
Clare hatte noch immer nicht verstanden, was Heather ihr mitteilen wollte, und so hatte sie unsicher gefragt: »Was genau meinst du, Heather?«
Heather hatte sie an den Schultern gepackt und Clare sanft geschüttelt. »Du hast uns einen neuen Bestseller beschert, das meine ich!«
In Clares Ohren hatte es plötzlich nur so geklingelt. Ihre Gedanken waren Achterbahn gefahren.
»Bestseller?«, hatte sie gekrächzt.
»Oh ja! Das ist fantastischer Stoff. Wie du die alten Gemäuer zum Leben erweckt hast. Warum sind wir nicht selbst auf die Idee gekommen, den Text von jemandem schreiben zu lassen, der dort studiert hat? Du hast aus einem langweiligen Geschichtsbuch eine aufregende Reise gemacht. Ich habe dein Skript eigentlich gar nicht lesen wollen, aber gestern Abend habe ich es mir dann doch vorgenommen. Ich konnte schon nach den ersten Seiten nicht aufhören. Ich sage es dir, mein Mann war gar nicht begeistert, dass ich die ganze Nacht die Nachttischlampe anhatte.« Sie lachte.
Nur langsam hatte Clare erfasst, was Heather ihr zu sagen versuchte.
»Dann druckt ihr es?«, hatte sie mit zitternder Stimme gefragt.
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Damit war der Weg für Clares Karriere als Autorin bei Irish Readings geebnet – auch wenn das Werk nicht mit ihrem Namen beworben wurde, war sie immerhin als maßgebliche Autorin im Impressum ausgezeichnet. Das Buch war ein riesiger Erfolg geworden und stand inzwischen auf den Bücherlisten beinahe sämtlicher Studenten des Trinity College. Pete McMullin hatte getobt, als er erfuhr, was sie getan hatte. Doch Heather hatte ihr Rückendeckung gegeben, und der Erfolg sprach Bände. Fortan waren Clare verschiedene eigene Projekte anvertraut worden, und sie schrieb und schrieb, was das Zeug hielt. Ein erneuter großer Erfolg war allerdings ausgeblieben. Dennoch liebte sie ihre Arbeit. Sie liebte es, die Geschichten anderer Leute zu erzählen, ihnen eine Bedeutung und ihren wohlverdienten Platz in der literarischen Welt zu geben. Sie war mit Leib und Seele Autorin.
Ihr Blick schweifte zur oberen Galerie der Bibliothek. Der Regen musste inzwischen aufgehört haben, denn durch die Fenster stahlen sich goldene Sonnenstrahlen und tauchten die Bücherei in eine märchenhafte Atmosphäre. Sie sah in den Lichtstrahlen die winzigen Staubkörner umherschweben, die von den Touristen aufgewirbelt wurden. Sie verfolgte, wie einzelne Körnchen durch den Raum flogen. Ungewiss, wo sie wohl aufkommen und was dann mit ihnen geschehen würde. Würden sie für die nächsten Jahre still und unentdeckt auf einem Buch liegen? Würden sie erneut von einem Tross Touristen aufgewirbelt werden? Clare seufzte. So unsicher wie die Zukunft dieser Staubkörner zu sein schien, war auch ihre eigene.
Trotz ihres einmaligen Erfolgs und der anschließend zuverlässigen Arbeit für Irish Readings war ihre Zeit dort abgelaufen. Sie hatte gekämpft, doch das war nicht genug. Sie wusste, dass ihr Groll Heather gegenüber unfair war. Im Verlag waren dutzende hervorragende Autoren und Lektoren angestellt. Bei irgendjemandem musste sie einen Anfang machen, und Clare war nun mal diejenige, die als Letzte an Bord gekommen war.
Clare kämpfte mit den Tränen. Sie würde nicht weinen. Oh nein! Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte mehr erreicht, als ihr so manch einer zugetraut hatte. Dabei dachte sie vor allem an ihre Mum. Als das Buch damals in den Handel gekommen war, hatte sie eine Ausgabe gekauft und ihrer Familie per Post geschickt. Ihre Brüder hatten sie wie erwartet gefeiert. Und selbst ihre Mutter hatte stolz geklungen, als sie daraufhin mit ihr telefonierte. Langsam schien sie zu verstehen, dass ihre Tochter, sosehr es sie auch schmerzte, hierhin gehörte.
Doch nun war es vorbei. Der Ausflug in die Stadt war zu Ende. Sie wusste, wie sehr die Wirtschaftskrise Verlage und Redaktionen getroffen hatte. Es ging meist nur noch darum, möglichst viel Geld mit so wenig Personal wie möglich zu machen. Irish Readings hatte sich dem lange entgegengestellt, doch nun konnte sich der Verlag dessen nicht mehr erwehren. Sicher, Clare konnte sich bei anderen Verlagen bewerben, sie hatte immerhin schon ein wenig Erfahrung vorzuweisen. Dennoch wusste sie, dass ihre Chancen in der aktuellen Zeit kaum schlechter stehen konnten. Erneut machte sich ein schweres Seufzen in ihr breit, noch immer unterdrückte sie ihre Tränen.
Clare dachte an ihre Familie. Ihre Brüder arbeiteten gemeinsam mit ihren Eltern in der Familienbrauerei. Seit Generationen stand der Name O’Sullivan für einen der besten Cider Irlands. Das Familienunternehmen hatte es nicht immer einfach, und gerade die letzten Jahre waren besonders turbulent gewesen. Doch die O’Sullivans hatten sich nie unterkriegen lassen und ihr Geschäft nach jeder Schlappe wieder aufgebaut. Das geheime Familienrezept hatte sie bisher noch aus jeder ausweglosen Situation gerettet. Außerdem stand der Familienname für Qualität und Heimatliebe. Ein wichtiger Faktor in Irland.
Obwohl es Clare in die Stadt gezogen hatte, liebte sie das Leben auf dem Hof. Schließlich war er ihre Heimat und ihr Zuhause. Während der Apfelblüte im Frühjahr und der ersten großen Ernte im Sommer nahm Clare sich, wann immer sie konnte, Urlaub und fuhr nach Hause. Sie packte mit an, wo sie gebraucht wurde, und stand ihren Brüdern in nichts nach.
Doch so gerne sie auch zu Besuch kam, jetzt drehte sich Clares Magen bei dem Gedanken um, zurückkehren zu müssen. Sie würde zugeben müssen, dass sie in der Stadt verloren hatte. Dass sie versagt hatte.
Clare wischte sich verstohlen eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Sie beobachtete eine Gruppe asiatischer Touristen, die staunend, zugleich jedoch schnatternd den Gang entlangzog. Ein jeder von ihnen schoss ein Selfie nach dem anderen. Sie sahen sich gar nicht richtig um, nahmen die Atmosphäre der Bibliothek nicht auf und würdigten die Bücher keines Blickes. Stattdessen hier ein Selfie, dort ein Selfie. Clare schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur so ignorant sein? Merkten sie denn nicht, an was für einem magischen Ort sie sich befanden? Was für ein Schatz sie umgab?
Die Reisegruppe verließ die Bibliothek, und Clare warf einen Blick auf die Uhr. Überrascht stellte sie fest, dass sie schon knapp zwei Stunden hier war. So war es jedes Mal. In der Trinity College Library vergaß sie Raum und Zeit. Sie atmete noch einmal tief ein und machte sich dann auf den Heimweg. Sie hatte viel zu tun. Ganz wollte sie sich dann doch noch nicht geschlagen geben. Und selbst wenn momentan niemand Festangestellte suchte, sie würde einen letzten Versuch wagen, bevor sie klein beigab und verletzt zurück ins Nest ihrer Eltern humpelte.
Schnapsidee! Das war es. Nichts anderes. Eine reine Schnapsidee. James Byrne stand in der Küche seines renovierten Landhauses und schenkte sich ein Glas Cider ein. Mürrisch blickte er seinen besten Freund an. »Michael, du veräppelst mich doch.«
Der schüttelte vehement den Kopf. »Ganz und gar nicht. Ich sage dir, das ist die Möglichkeit für uns.«
Michael sah aus, wie sich die Welt einen typischen Iren vorstellte. Rostrotes Haar, das er durch einen kurzen Schnitt zu bändigen versuchte, helle Haut mit unzähligen Sommersprossen und immer ein Lächeln auf den Lippen. Obwohl er eindeutig kein Adonis war, besaß er einen muskulösen Körper. Er war nicht ganz so groß gewachsen wie James, doch er machte die fehlende Größe mit seinem irischen Charme wieder wett. Außerdem kamen seine Grübchen, die nur hervortraten, wenn er lächelte, bei der Damenwelt ungemein gut an. Der Dreitagebart tat sicherlich sein Übriges.
Michael griff nach James' Cider-Dose und hob sie an seine Lippen. Bevor er einen kräftigen Schluck nahm, sagte er: »Überleg doch mal, James. Wenn wir das machen, dann würde das bei der Einführung der neuen Produktsorte für zusätzliche Publicity sorgen. Und du müsstest nicht mal viel dafür tun.«
»Stimmt. Außer meine Seele verkaufen«, bemerkte James sarkastisch.
Seit einer Woche bearbeitete sein bester Freund ihn nun schon, doch er rang mit sich. Eine Biographie über ihn, James Byrne? Er war verdammt nochmal gerade erst zweiunddreißig Jahre alt geworden. Biographien schrieb man über alte Männer. Männer, die sich in der Vergangenheit suhlten und es in ihrem Leben zu nichts mehr brachten. Sportler und Politiker, deren Karrieren vorbei waren. Was hatte er in seinem Leben bisher schon Großes geleistet?
Sein Freund schien seine Gedanken zu lesen.
»Oh nein! Fang mir bloß nicht auf der Schiene an. Du bist der jüngste Ire, der je ein so erfolgreiches Cider-Unternehmen geführt hat. Vergiss das nicht! Du hast mit nicht mal dreiundzwanzig Jahren die Führung der Firma übernommen, und sieh an, was du daraus gemacht hast. Byrnes ist der beliebteste Cider in ganz Irland. Selbst international schenken sie unseren Cider in den Pubs aus. Das hast du geschafft. Niemand sonst.«
»Das ist doch Blödsinn«, entgegnete James. »Ohne deine Hilfe wäre das nie möglich gewesen. Und vergiss nicht die Leute, die seit Jahrzehnten für uns arbeiten. Es wäre anmaßend, den Erfolg allein mir zuzuschreiben.«
Michael stöhnte. »Also gut. Was ist damit: Du warst der Erste, der Cider nicht nur aus Äpfeln und Birnen gewonnen hat, sondern auch aus Waldfrüchten. Das hat den Markt revolutioniert. Und dann wäre da noch das optimierte Verfahren, um den Kohlensäureverlust in Dosen und Flaschen zu kompensieren. Oh, und erinnere mich gleich nochmal, wer dafür den Innovationspreis erhalten hat?«
»Erwischt.« James lächelte kurz, bevor sich auf seiner Stirn wieder Sorgenfalten bildeten. »Das ist trotzdem kein Grund, mein Leben auseinanderzunehmen und der Öffentlichkeit zu präsentieren.« Allein bei dem Gedanken bekam er schon Migräne.
Michael stand auf und schnappte sich seine Jacke, die er über einen der Barhocker gelegt hatte. »Das verlangt auch niemand von dir. Du hast es in der Hand, den gesamten Prozess. Du bestimmst, was in diesem Buch steht, und wenn es dir nicht zusagt, wird es so auch nicht veröffentlicht. Ich weiß doch, wie sehr du es hasst, nicht alles unter Kontrolle zu haben.«
Michael hatte tatsächlich den Nerv, zu lachen. Er wandte sich zum Gehen, doch an der Haustür drehte er sich noch einmal um und grinste verschmitzt. »Vielleicht finden wir damit auch endlich eine Frau für dich.«
Hätte Michael die Haustür nicht blitzschnell hinter sich zugezogen, hätte ihn James' leere Cider-Dose nur um Haaresbreite am Kopf verfehlt.
Zwei Wochen nach ihrem Kündigungsgespräch mit Heather saß Clare abends in Cassidy’s Pub in der Camden Stress Lower. Der Pub hatte sich während ihrer Zeit in Dublin zu ihrem zweiten Wohnzimmer entwickelt. Sie wohnte nicht weit entfernt und mochte den gemütlichen Flair, den das Lokal ausstrahlte. Hier trafen sich abends keine Touristen, sondern die echten Dubliner. Die Sonntage liebte sie besonders. Dann kamen die unterschiedlichsten Menschen aus der Gegend zusammen und musizierten. Sie schoben die Tische beiseite, bestellten sich einen Pint und fingen an, auf ihren Instrumenten zu spielen. Selbst wenn sie nicht mit Freunden herkam, war Clare hier nie lange allein. Es war beinahe unmöglich, in dem kleinen Pub niemanden kennenzulernen. Aus mancher Bekanntschaft waren über die Zeit sogar lockere Freundschaften geworden. Und auch der ein oder andere erfolgreiche Flirt war bis über die Türschwelle des Pubs hinausgegangen.
Wenn Sonntagabend die Sperrstunde klingelte, spielten die Musiker den letzten Song. Es war stets der gleiche: Ireland’s Call. Zwar galt das Lied nicht als offizielle Hymne Irlands, doch wenn die ersten Töne erklangen, stand ein jeder auf, legte seine rechte Hand aufs Herz und sang voller Inbrunst mit. Dieser eine Moment in der Woche bedeutete Clare mehr, als sie zugeben wollte. Sie war stolz darauf, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, Teil dieser Kultur und vor allem zu denjenigen zu gehören, die die Historie und Helden dieses Landes auf Papier verewigten und deren Geschichten erzählten.
Clare bestellte an diesem Abend bereits ihren dritten Pint Cider. Zwei Wochen lang hatte sie bei Verlagen angerufen, Bewerbungen geschrieben und Arbeitsproben verschickt. Sie stieß jedes Mal auf reges Interesse, doch niemand war an einer Festanstellung interessiert. Selbst die freien Aufträge hätten sie nur notdürftig über Wasser gehalten. Die steigenden Mieten in Dublin waren damit schon gar nicht zu bezahlen. Gewiss, sie hatte ein wenig Geld auf die Seite gelegt, doch besonders lange würde sie damit nicht durchkommen. Sie brauchte einen sicheren Job.
Clare überlegte gerade, welche Redaktion sie noch anrufen könnte, als ihr Handy klingelte. Es war bereits halb zehn, doch als sie auf das Display sah, erschien der Name einer ihrer Brüder. Sie nahm ab.
»Cillian, was gibt’s?«
»Oh Schwesterherz! Was es gibt? Also, das solltest du mir sagen. Seit Wochen hast du dich nicht gemeldet! Sag, wie geht es dir?«
Es tat gut, Cillians Stimme zu hören. Doch gleichzeitig wurde Clare das Herz schwer. Cillian war nicht irgendeiner ihrer sechs Brüder. Er war ihr Zwillingsbruder. Sie hatten die gleichen hellbraunen Haare und grünen Augen. Ihre Gesichtszüge ähnelten sich besonders, auch wenn Cillian ein Stück größer war als Clare. Im Gegensatz zu Clare hatte ihr Bruder allerdings nie mit ein paar Pfund zu viel auf der Waage zu kämpfen. Die körperliche Arbeit auf dem Hof ihrer Eltern hielt ihn schlank und fit.
Seit jeher hatten die beiden eine enge Bindung zueinander gehabt, die sonst niemand in der Familie so wirklich nachvollziehen konnte. Sie mussten nur wenige Worte austauschen, um ihr Gegenüber zu verstehen. Sie hatten sogar dieses schmerzhafte Gefühl, wenn sich einer von ihnen eine Verletzung zuzog. Obwohl zahlreiche Kilometer zwischen ihnen lagen, wusste der andere, dass etwas passiert sein musste. Sie erzählten sich alles. Sie lebten jedes Klischee eines Zwillingspärchens. Und Clare liebte es.
Doch seit ihrem Umzug nach Dublin hatte sich etwas verändert. Noch immer war Cillian ihr am nächsten von ihren Brüdern. Doch sie konnte nicht mehr so ungehemmt mit ihm sprechen wie früher. Er hatte sie in ihrem Plan, nach Dublin zu gehen, immer unterstützt, doch sie spürte, dass es für ihn besonders hart war. Anders als ihre Mutter hatte er jedoch nicht versucht, sie am Weggehen zu hindern. Seitdem hatte sie stets das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein.
Sie legte eine möglichst fröhliche Miene auf in der Hoffnung, sie würde sich auf ihre Stimme auswirken.
»Mir geht’s prima! Wirklich! Erzähl mir lieber, wie geht es Catherine und meinem Neffen?« Clare versuchte von sich abzulenken und schnitt stattdessen Cillians Lieblingsthema an.
Letztes Jahr hatte er geheiratet, und vor wenigen Monaten hatten er und seine Frau ihr erstes Kind bekommen, den süßen Liam. Der kleine Fratz war ihrem Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten – zumindest, wenn man den Erzählungen ihrer Familie Glauben schenken durfte. Clare war zwar kurz nach der Geburt zu Besuch gewesen, doch Liam wuchs so schnell, dass Clare das Gefühl hatte, bei ihrem Neffen etwas verpasst zu haben. Sie wusste, dass sie längst wieder bei ihrem Bruder hätte vorbeischauen müssen, aber sie war in den letzten Monaten zu sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen. Die Wochen zogen nur so an ihr vorbei. Und plötzlich war sie arbeitslos. Mit dieser Nachricht wollte sie erst recht nicht bei ihrer Familie hereinschneien.
Cillian setzte zu einer ausführlichen Lobeshymne auf den Nachwuchs an, und Clare gab pflichtschuldig die begeisterte Tante.
»Ich weiß, du hast viel zu tun, aber du denkst daran, dass in neun Wochen die Taufe ist, nicht wahr? Du bist die Taufpatin, du darfst auf gar keinen Fall fehlen.« Cillians Stimme hatte einen energischen Ton angenommen. Er war nur eine halbe Minute älter als Clare, doch diesen Umstand nahm er äußerst genau und mimte gern den großen Bruder.
»Hallo? Natürlich werde ich da sein! Das Fest lass ich mir doch nicht entgehen. Sag, spielen Mum und Dad schon verrückt?«
Cillian stöhnte. »Du glaubst es nicht. Man könnte meinen, wir feiern die Wiedergeburt St. Patrick’s! Mum dreht völlig am Rad, und Dad ist mit seiner enthusiastischen Art nicht gerade eine adäquate Unterstützung, wenn es darum geht, die Feier in einem kleinen Rahmen zu belassen. Und unsere Brüder sind sowieso völlig nutzlos. Meinst du, auch nur einer würde uns den Rücken stärken und dem Wahnsinn ein Ende bereiten? Von wegen …«
So ging es noch eine Weile weiter. Cillian unterrichtete sie über alle Entwicklungen rund um die Taufe ihres Neffen, und Clare war beinahe froh, dem Familienclan entkommen zu sein. Gleichzeitig spürte sie eine Sehnsucht. Sie liebte ihre Familie über alles, auch wenn es manchmal schwer zu ertragen war, Teil der O’Sullivans zu sein. Ihre Familie war laut, emotional, und jeder meinte, sich in das Leben des anderen einmischen zu müssen. Trotzdem liebte sie sie. Sie merkte, wie ihr die Tränen in den Augen brannten, und nahm einen Schluck Cider.
In diesem Moment kam ihr Zwillingsbruder zum Ende seiner Ausführungen. »Ich rede mal wieder viel zu viel. Erzähl mir lieber, wie es dir in der Großstadt geht? Hast du ein spannendes Projekt am Laufen? Worüber schreibst du gerade?«
Clare schluckte. Sie wollte ihren Bruder nicht anlügen, doch noch weniger wollte sie ihm die Wahrheit erzählen. In seinem Leben lief endlich einmal alles glatt. Sie wollte nicht diejenige sein, die Sorgenfalten auf seiner hübschen Stirn verursachte. Noch bevor sie merkte, was sie tat, hörte sie sich bereits sagen: »Ich habe gerade ein neues Projekt bekommen. Es wird was ziemlich Großes. Ich werde in den nächsten Wochen also sehr beschäftigt sein. Aber du kennst mich ja, das ist es, was ich brauche.«
Sie lachte auf und hoffte, dass ihrem Bruder das Zittern in ihrer Stimme entgangen war. Im selben Moment hörte sie einen lauten wütenden Schrei in Cillians Hintergrund.
»Oh nein, ich glaube, Junior hat gerade übelste Laune. Clare, tut mir leid, ich muss Schluss machen. Freut mich, dass es dir gutgeht. Ich melde mich!« Im nächsten Moment hatte ihr Bruder bereits das Gespräch beendet.
Erleichtert legte Clare ihr Smartphone auf die Theke und hob ihren Pint an die Lippen. Sie hasste es, zu lügen, doch genau genommen hatte sie ja nicht gelogen. Sie befand sich in einer Übergangsphase. So gesehen hatte sie durchaus ein großes neues Projekt an Land gezogen. Nämlich ihr eigenes. Was würde sie nun aus ihrem Leben machen?
Noch bevor sie weiter darüber grübeln konnte, klingelte ihr Handy erneut. Sie hoffte inständig, dass ihr Bruder ihr nur erzählen wollte, was ihr Bald-Patenkind nun schon wieder angestellt hatte.
»Sag bloß, Junior hatte die Hosen voll und hat es überall verteilt?«, scherzte sie, als sie abnahm.
»Ich habe keine Ahnung, wen du erwartet hast, aber ich versichere dir, hier hat niemand die Hosen voll.« Am anderen Ende der Leitung lachte Heather aus vollem Hals.
Clare rutschte das Herz in die Hose. »Oh Heather, entschuldige. Ich dachte, mein Bruder wollte mir von den neuesten Errungenschaften meines Neffen erzählen.«
Clare wurde rot.
»Ach ja, die lieben Kleinen. Was würden wir nur ohne sie machen?« Heather schien auf Smalltalk aus, doch dazu war Clare in ihrer aktuellen Lage nicht fähig.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie ihren ehemaligen Boss und wünschte sich gute Neuigkeiten.
»Ich wollte hören, wie es dir geht. Hast du schon eine neue Stelle in Aussicht?«
Clare überlegte fieberhaft. Sie wollte sich nicht die Blöße geben, noch immer arbeitslos zu sein. Trotzdem waren sie und Heather immer ehrlich miteinander umgegangen. Daran wollte sie auch im Nachhinein nichts ändern. Also entschied sie sich für eine Zwischenlösung.
»Ich habe verschiedene Positionen in Aussicht. Ich überlege noch, wofür ich mich entscheiden soll. Wieso fragst du?«
Heather räusperte sich. »Nun, ich hätte eventuell einen Auftrag für dich. Er kam eben frisch rein, und bei dem Thema musste ich sofort an dich denken. Was meinst du? Hättest du ein paar Monate Zeit dafür? Es wäre etwas Größeres.«
»Sicher!« Clare zügelte sich. »Ich müsste den anderen natürlich absagen und auf ihr Verständnis hoffen. Aber ich glaube, das ließe sich machen. Um was für einen Auftrag geht es denn?«
»Gott sei Dank!« Heather atmete hörbar auf. »Ich hatte schon Angst, du wärst bereits vergeben. Bei dem Thema wüsste ich wirklich niemanden, der das besser machen könnte als du. Deine Eltern sind doch in der Cider-Produktion tätig, oder?«
»Ja, wieso?« Clare hielt den Atem an, sie wagte es kaum, sich zu rühren.
»Hervorragend! Ich schicke dir alle weiteren Informationen per Mail. Susan hat bereits ein Dossier für dich zusammengestellt. Du müsstest morgen anfangen. Das Zugticket haben wir dir schon gebucht, und die Adresse deiner Unterkunft findest du in den Unterlagen. Ich schicke dir gleich alles rüber.«
Clare war völlig überrumpelt, doch was für eine Wahl hatte sie schon? Sie konnte diesen letzten Auftrag annehmen und sich noch einmal beweisen, oder sie konnte sich morgen offiziell arbeitslos melden, Trübsal blasen und sich selbst bemitleiden. Sie war noch nie ein Fan von Selbstmitleid gewesen – auch wenn sich die letzten zwei Wochen so angefühlt hatten –, also stimmte sie zu und ließ sich von Heather letzte Instruktionen geben.
Sie würde das übliche Autorenhonorar erhalten sowie einen Bonus bei erfolgreichem Abschluss, da das Projekt kurzfristig und möglichst zügig umgesetzt werden müsse. Als Heather fertig war, fügte sie noch hinzu: »Nutze die Chance, Clare. Wenn du daraus was richtig Gutes machst, kann ich dir eine Zukunft bei uns sichern.«
Mit diesen Worten legte Heather auf. Clare klopfte das Herz bis zum Anschlag. Sie durfte das nicht vermasseln, egal was es war. In diesem Moment merkte sie, dass sie immer noch nicht wusste, worüber sie schreiben sollte. Sie checkte ihre Mails auf dem Smartphone. Heather hatte ihr die Nachricht bereits geschickt, und Clare öffnete den Anhang. Als sie den Titel des Dossiers las, setzte ihr Herz für einen Schlag aus: ›James A. Byrne – Biographie‹.
2
Clares Hände zitterten noch immer, als sie am nächsten Morgen im Zug Richtung Norden saß. In weniger als zehn Minuten würde sie in Ballybyrne sein. Ein kleines Städtchen an der Ostküste, kurz vor der Grenze zu Nordirland.
James Arthur Byrne! Sie sollte doch tatsächlich seine Biographie schreiben. Er gehörte zu den erfolgreichsten Unternehmern Irlands. Seit er die Cider-Produktion seines Vaters nach dessen Tod übernommen hatte, hatte er das Unternehmen zurück auf die Erfolgsspur gebracht. Er hatte kleinere Betriebe aufgekauft, den Absatzmarkt vergrößert, ein neues Herstellungsverfahren und neue Produkte eingeführt. Byrne war inzwischen millionenschwer und einer der begehrtesten Junggesellen Irlands. Und Clare konnte ihn absolut nicht ausstehen. Mehr noch, sie hasste alles, wofür er stand. Der Cider war für ihn nur ein Produkt, um Profit zu erwirtschaften. Die langen Familientraditionen, die damit einhergingen, waren ihm schlichtweg egal. Er war oberflächlich und arrogant. Außerdem hätte er beinahe für den Tod ihres Vaters gesorgt, und das würde sie ihm niemals verzeihen – und nun sollte sie seine Biographie schreiben.
Die ganze Nacht hatte sich Clare im Bett hin und her gewälzt. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Stattdessen hatte sie über ihre Vergangenheit und ihre Zukunft gegrübelt. Sicher, sie hätte Heather am nächsten Morgen anrufen können, sich bei ihr entschuldigen und den Auftrag ablehnen können. Eine Ausrede hätte sie schon parat gehabt. Persönliche Verbindungen zum Protagonisten, ein plötzliches Jobangebot in Cork, oder vielleicht hätte sie Heather einfach die Wahrheit gesagt: ›Wie könnte ich ein Buch über den Mann schreiben, der meine Familie ruinieren wollte?‹ Ja, das hätte sie machen können.
Doch gleichzeitig war es Clares Chance, doch noch zu einer sicheren Festanstellung im Verlag zu gelangen. Sie drehte nach den letzten zwei Wochen und unzähligen Telefonaten und Mails mit allen möglichen Verlagen und Redaktionen beinahe durch. Ihre Lieblingsreaktion auf eine ihrer Jobanfragen in einer Magazinredaktion kam von einer älteren Dame. Sie nannte sich Holly und musste schon ihr ganzes Leben an diesem Telefon verbracht haben – so klang es zumindest. »Schätzchen, Sie wollen Autorin in Festanstellung werden? Haben Ihre Eltern Ihnen denn nicht gesagt, dass Sie etwas Sinnvolles lernen sollen? Niemand verdient heute mehr Brot mit Träumen, und schon gar nicht mit Magazinen oder Büchern!«
Clare war keine Alkoholikerin, aber nach diesem Telefonat hatte sie erst einmal einen ordentlichen Schluck Whisky gebraucht. Sie hatte beschlossen, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Abends war Heathers Anruf gefolgt.
Clare seufzte und blickte nach draußen. Der Zug war schon fast im Bahnhof angekommen, und am Horizont konnte sie das Meer sehen. Für gewöhnlich mochte sie es, hinaus aufs Land zu fahren, doch heute tat sich ihre Begeisterung einigermaßen schwer hervorzutreten. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Wahl gehabt. Sie konnte das Beste aus diesem überraschenden Auftrag machen oder sie kroch zurück zum Hof ihrer Eltern und gestand sich ein, gescheitert zu sein. Clare musste lächeln. Normalerweise war sie nicht so pessimistisch veranlagt, aber die Aussicht, die nächsten Monate mit James Byrne zu verbringen, verursachte in ihr eine ungewohnt negative Stimmung. Und Sarkasmus. Wie schnell man sich über eine Nacht doch verändern kann, dachte sie.
Da es eine Biographie werden sollte, musste sie viele intensive Gespräche mit James Byrne führen, ihn in seinem Alltag begleiten, Weggefährten interviewen und am besten die Person werden, die am meisten über James Byrne wusste. Sie würde also gezwungen sein, viel Zeit mit ihm zu verbringen. Davor graute es Clare, seit sie die Mail am Abend zuvor geöffnet hatte.
Der Schaffner kündigte über die Lautsprechanlage die Ankunft in Ballybyrne an. Und nein, der Name war kein Zufall. Als Clare sich zu Beginn der Zugfahrt das Dossier ansah, das Heather ihr geschickt hatte, war es einer der ersten Fakten, die sie über die Byrnes lernte. Kurz vor der Geburt von James hatte die irische Wirtschaft einen massiven Aufschwung erlebt. In den Geschichtsbüchern war Irland im Zuge dessen der Beiname ›Keltischer Tiger‹ verpasst worden. James' Eltern hatten mit dem Ausbau ihrer Cider-Produktion für zahlreiche Arbeitsplätze in der Umgebung gesorgt. Sie hatten außerdem hohe Beträge für den Bau einer neuen Schule, die Renovierung des Gemeindehauses sowie die Ausweitung der Bahnstrecke gespendet. Diese Gemeinde lebte praktisch einzig und allein von Byrnes Cider.
Und wie schuf man so einer Familie ein Denkmal? Natürlich, man benannte das beschauliche Städtchen nach ihnen. Und so wurde aus Balgherhead schließlich Ballybyrne – übersetzt vom irischen ›Baile de Byrne‹, bedeutete das so viel wie ›Town of Byrne‹, also ›Byrnes Stadt‹.
Der Zug fuhr in den kleinen Bahnhof ein, und Clare schnappte sich ihren Koffer und ihre Tasche und stieg aus. Das Wetter war ungewöhnlich warm für Anfang April, und Clare hob die Hand, um ihre Augen vor den blendenden Sonnenstrahlen zu schützen.
Sie hatte gar keine Zeit, sich zu orientieren, da hörte sie auch schon ihren Namen.
»Clare! Hier drüben!« Ein Mann, vielleicht Anfang dreißig, hüpfte auf und ab, damit sie ihn sah. Sie ging skeptisch auf ihn zu. Clare wusste, dass man sie abholen würde, trotzdem ließ sie Vorsicht walten.
»Und Sie sind?«, fragte sie.
Das Lächeln des Rotschopfs wurde noch breiter. Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Ich bin Michael. Sozusagen die linke Hand von James. Seine Rechte würde er nämlich niemals hergeben.«
Michael lachte schallend, während Clare ihm die Hand schüttelte.
Hervorragend, dachte sie. James war also nicht nur arrogant und ging über Leichen, er schien wohl auch gern die Kontrolle zu behalten. Das konnte ja was werden. Clare bemühte sich, ein optimistisches Lächeln aufzusetzen.
»Dann sind Sie also mein Fahrservice zum Hotel?« Die Frage war rhetorisch gemeint, aber etwas an Michaels Reaktion ließ Clares Skepsis erneut aufflammen.
»Hotel? Äh, ja. Kommen Sie, mein Wagen steht gleich dort drüben.« Michael nahm ihr den Koffer ab und steuerte auf einen alten Land Rover zu. »Hatten Sie eine gute Reise? Von Dublin ist es ja glücklicherweise gar nicht so weit, oder?«
Clare versuchte immer noch herauszufinden, ob sie sich wegen ihrer Unterkunft Sorgen machen musste, deshalb antwortete sie: »Nein, zum Glück nicht. Für meine Arbeit wird es aber sicherlich einfacher sein, nicht jeden Tag zu pendeln. Ist es eine lange Fahrt bis zum Hotel?«
Der bisher so glücklich dreinschauende Michael hielt inne, als er gerade Clares Gepäck in den Kofferraum heben wollte. Er runzelte die Stirn. »Man hat es Ihnen gar nicht gesagt, oder?«
Clares Wachsamkeit wuchs. »Mir was gesagt?«
Ein Lächeln huschte über Michaels Lippen und wich sogleich einem entschuldigenden Hundeblick. »Nun … Wie Sie vielleicht schon bei Ihren Recherchen festgestellt haben, ist James ein Mann, der gern das Steuer in der Hand behält.« Michael räusperte sich. »Nicht, dass er Ihnen dazwischenfunken wird …«
Und ob er das wird, dachte Clare.
Michael holte tief Luft. »Wissen Sie, James hat dem Ganzen nur zugestimmt, wenn Sie für den gesamten Schreibprozess …« Clare sah regelrecht, wie Michael sich wand. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Also, wenn Sie die Zeit über bei ihm wohnen. So, jetzt wissen Sie Bescheid.«
Michael hob den Koffer ins Auto und ließ die Tür mit einem Krachen zufallen.
Clare zuckte zusammen. Nicht sicher, ob es durch den Türknall oder die Gewissheit kam, sie würde die nächsten drei Monate mit James Byrne unter einem Dach wohnen.
Sie wagte einen letzten Versuch. »Michael, ich weiß ja, dass die Iren im Norden einen etwas anderen Humor haben – aber Sie veräppeln mich doch, oder?«
Sie betete inständig, Michael würde laut loslachen, wie zuvor am Bahnsteig, und sie zum nächsten Hotel in Ballybyrne fahren. Sie konnte keinesfalls mit James Byrne zusammenwohnen. Schlimm genug, dass sie so viel Zeit mit einem arroganten und rabiaten Jungunternehmer verbringen musste. Trotz ihrer vielen Geschwister war sie auch nie der WG-Typ gewesen. Gut, das war an dieser Stelle wohl das kleinste Problem. Aber ehrlich, dachte Clare, bitte tut mir das nicht an.
Michael musterte sie. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Madita Tietgen
Bildmaterialien: © Adobe Stock - Obsessively / AlekseyKarpenko / VICUSCHKA / Iurii Kachkovskyi / jakkapan / Thomas Söllner / Robin
Cover: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2021
ISBN: 978-3-96714-177-1
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