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Yasushi Kato – Borlai – die Dämonen aus dem See

1. eBook-Auflage – Februar 2016

© Betts & Atterbery im vss-verlag, Frankfurt

vssinternet@googlemail.com

Titelbild: Masayuki Otara /Pixabay

Übersetzung: Michael Abrahams

Lektorat: Oliver Betts

 

 

Yasushi Kato

 

Borlai – die Dämonen aus dem See

 

 

1


Die bleichen Strahlenfinger des Mondes tasteten sich durch das Filigranwerk blühender Kirschbaumzweige und glitzerten auf dem stillen Wasser des Borlai-Sees wie flüssiges Silber. Ein leiser Wind strich durch ausgedehnte Schilffelder. Das gelbe Ruderboot dümpelte am Westufer im Schatten der rot lackierten Brücke.

Das Paar lag flach am Boden, starrte in den nachtblauen Himmel und hielt sich an den Händen. Die beiden träumten von einer gemeinsamen Zukunft.

Es war eine Vollmondnacht am Borlai, eine Zeit, da Einheimische sich nach Einbruch der Nacht nicht mehr aufs Wasser wagten. Denn einer alten Legende gemäß erhob sich in diesen Stunden Ashido, der Samurai aus der Tokugawa-Zeit, um sich an denen zu rächen, die ihn vor mehr als dreihundert Jahren hier ermordet hatten.

Wie das ewige Kommen und Gehen der Gezeiten, der Rhythmus der Mondphasen, wiederholte sich der letzte Waffengang des japanischen Ritters, der am Borlai-See von seinen Vasallen angegriffen und ertränkt worden war. Die Fischer hatten Ashido damals ein Netz übergeworfen und ihn in die Fluten gezerrt.

Gepanzert und gespornt, war der Samurai elend ertrunken, das lange, gebogene Schwert in der Faust und auf seinem Lederschild das seidengestickte Glückssymbol des roten Drachen.

Suisho, die mandeläugige Schönheit aus dem Tokioter Stadtbezirk Bunkyo, fröstelte unter der Kühle des Abendwindes.

»Lass uns gehen, Sango«, bat die Kleine.

»Ich könnte stundenlang hier liegen«, seufzte Sango, der ein Träumer war und in seiner Firma als nicht besonders tüchtig galt.

»Es wird kühl«, flüsterte Suisho.

»Nimm meine Jacke«, sagte Sango. Er trug seine schwarzen Haare ziemlich lang. Sie bedeckten die Ohren und reichten im Nacken bis auf den Kragen des Sporthemdes.

Sie richteten sich auf.

In diesem Augenblick bemerkte Suisho die ringförmige Bewegung im tintenschwarzen Wasser, so, als hätte ein Spiegelkarpfen die stumpfe Schnauze aus dem See gestreckt. Diese Wellen aber verliefen sich nicht, sie wurden stärker.

Suisho schrie und schlug gleichzeitig die ringgeschmückte Hand auf den Mund. Aus angstgeweiteten Augen starrte sie auf den Helm, der sich ins Freie hob. Es folgte der grinsende Totenschädel. Der breite Kinnriemen hielt bleiche Kieferknochen. Die gepanzerte Schulter schob sich aus dem nassen Element. Die Erscheinung wuchs und wuchs. Wasser stürzte aus einem Kettenhemd zurück in den See. Algen hingen tropfnass vom schwarzen Griff eines langen, leicht gebogenen Schwertes. Handkorb und Stiel waren mit schwarzer Rohseide umwickelt. Der goldene Griff des Harakiri Dolches hob sich deutlich ab, symbolisierte den ehernen Grundsatz des japanischen Ritters: Sieg oder Tod.

Ashido aber war durch die hinterlistigen Fischer des Borlai-Sees um die Ehre betrogen worden. Er hatte nie eine Wahl gehabt. Daher fand er seinen Seelenfrieden nicht. In Vollmondnächten kehrte er zurück, um den Kampf noch einmal aufzunehmen, der ihn Leben und Ehre gekostet hatte.

Wie es hieß, verdankte er diese ständig erneuerte Chance einem geheimnisvollen Zauber. Seine Mutter war eine bekannte Hexe gewesen. Ihre Kunst hatte sie berühmt gemacht. Ihr Ruf war bis an den Kaiserhof gedrungen, der damals noch in Westjapan, in Kyoto, lag. Die Alte, so behaupteten Eingeweihte, habe ihre Seele für den Sohn verpfändet. Ihren Leib habe der Teufel verschmäht. Ein Yazgan-Dämon sei in die leere Hülle gefahren und mache in Gestalt der bösen alten Frau die Gegend um den nahen Nantai-Berg unsicher.

Samurai und Dämon würden nur zusammen oder niemals erlöst.

Suisho und Sango hatten diese Geschichte nicht gehört.

Der stumme Samurai verschwand im Nebel.

»Nichts wie weg!« hauchte Suisho.

Wie angewurzelt blieb Suisho stehen. Sie deutete nach vorn.

Sango atmete hörbar aus.

Vor der Brücke, die sie auf ihrer Flucht passieren mussten, war ein heißer Kampf entbrannt.

Ashido, der Samurai, hing im Gewirr eines Fischernetzes. Wütend suchte er sich mit dem flachen Schwert zu befreien

Eine Horde vergreister Männer umringte das Opfer. Zahnlose Münder artikulierten Triumphschreie, die niemals hörbar wurden. Weiße Haupthaare und Barte flatterten, wenn die Schemen vorrückten, mit Holzknüppeln auf den gefangenen Ritter eindroschen.

Dann kam der Samurai zu Fall.

Blitzschnell sprang ein schmächtiger Bursche vor. Er hielt eine Heugabel und spießte den Unglücklichen auf, der unter dem Netz zappelte. Knirschend bohrten sich die eisernen Zinken durch den Koller.

Wütend gaben die Chimären dem Ritter den Rest.

Holzgeschnitzte Tempelwächter an den Pfosten der Brücke weinten blutige Tränen. Der Mond verhüllte sein Antlitz. Und aus den Spalten des Nantai-Berges erklang ein abgrundtiefes Seufzen, geisterte über Felswände und schroffe Pfade.

Die Fischer, in Holzpantoffeln, die Gesichter durch Tücher verhüllt, auf denen spitzkegelige Hüte aus Reisstroh thronten, mit blauen zerrissenen Jacken und knielangen Hosen, geiferten und tobten, zerrissen den Samurai förmlich, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Als die erste Wut verraucht war, packten sie ihn wie ein gefangenes Tier, hängten das Netz an zwei schwere Bambusstangen und trugen den Erschlagenen zum See.

Sie warfen den Samurai zurück in das Element, dem er für wenige Minuten bei Vollmond entstiegen war, um sein unglückliches Schicksal zu korrigieren und seine Ehre wiederherzustellen.

Spurlos versank die stumme Gestalt.

Das Dutzend entfesselter Mörder, die ihrem Herrn an der Brücke aufgelauert hatten, aber schwärmte aus. Spitze Münder pfiffen lautlos. Feueraugen rollten. Hämisches Grinsen lag auf bleichen Fratzen.

Krallenhände angelten nach neuen Opfern. Blutdurst malte sich auf Mördervisagen. Geifer spritzte aus Mundwinkeln.

Mit einem Schrei riss sich Suisho los. Sie rannte auf die Brücke zu, während schon die Meute die Verfolgung aufnahm.

Das Mädchen lief, was die Beine hergaben. Zu langsam noch für die Geisterschar. Magere Stelzen griffen mächtig aus. Klapperdürre Gestalten hetzten durch sumpfige Wiesen. Klauen streckten sich verlangend aus, erwischten das Mädchen.

Suisho schrie entsetzlich auf.

Sango hielt sich die Ohren zu.

Wie erstarrt harrte er aus, verborgen durch die breiten Zweige einer buschigen Kiefer. Sein Herz raste. Er schloss die Augen. Er wollte nichts mehr sehen. Er ahnte, welch kannibalischen Genüssen sich die entfesselten Dämonen hingaben.

Langsam sank Sango zu Boden.

Nie hatte er sich schlimmer geängstigt als in dieser Nacht.


2


Die entfesselte Horde schwärmte aus. Bluttriefende Mäuler in kalkig weißen Gesichtern. Gierige Augen suchten ein neues Opfer. Nasen nahmen Witterung auf.

Sango schoss hoch. Der Japaner war ein mittelgroßer, kräftiger Mann. Laufen gehörte allerdings nicht zu seinen Stärken. In dieser Nacht aber übertraf er sich selbst.

Sango verließ sein unvollkommenes Versteck.

Die Meute entdeckte ihn sofort. Kein Alarmruf zerriss die Stille der Nacht. Und doch ruckten ein Dutzend Schädel herum, wie an einer Schnur gezogen. Feueraugen musterten die Beute. Dürre Beine griffen aus. Krallenhände hoben sich.

Die Dämonenschar jagte über die Wiese.

Der Wind trug ein paar Fetzen von Suishos Bluse davon. Teile ihrer Wäsche flatterte von kahlen Ästen.

Sango aber rannte um sein Leben.

Er wurde von der Brücke fort getrieben. Die Jäger, die ausgeschwärmt waren, setzten ihm lautlos nach. Er hörte kein Geräusch hinter sich. In seinen Ohren sang nur das eigene Blut. Er hörte seinen eigenen Atem. So schnell er auch lief, getrieben von panischer Angst, die unheimlichen Verfolger hielten mühelos Schritt.

Der Mond beleuchtete die verzweifelte Flucht des jungen Sango. Die bleiche Scheibe ritt auf der höchsten Spitze einer Bergzeder. Der silbrige Schein wurde tausendfach gefächert durch ein Dach von Zweigen über Sangos Kopf. Sango rannte durch einen Kiefernwald. Seine Füße mahlten durch feinen goldgelben Sand. Die Strecke stieg leicht an. Den Tempel hatte Sango weit hinter sich gelassen.

Sango hetzte in Richtung Wasserfall. Das Rauschen und Donnern wurde immer lauter.

Gelbbraunes Gras peitschte die Beine des Fliehenden. Mehrmals stolperte der junge Mann. In letzter Sekunde verhinderte er jedes Mal mit rudernden Armen den verhängnisvollen Sturz. Er wusste, dass er nie wieder aufstehen würde. Die mordgierige Schar würde über ihn herfallen wie über die unglückliche Suisho.

Sango gelangte an eine steil abfallende Klippe. Einhundertzehn Meter fiel der nackte Fels senkrecht ab. Hier und da vegetierten grüne Büsche in Felsspalten. Der Lift, der tagsüber Touristen heraufbrachte, lag still und verlassen im Mondlicht. Die eiserne Pforte war verschlossen. Sango war allein.

Die sonst belebten Iroha-Steigen, eine Kette von achtundvierzig Kurven, verrieten kein Anzeichen von Verkehr. Nirgends gab es ein Auto, das Sango aufnehmen konnte.

Verzweifelt setzte er seine sinnlose Flucht fort.

Er wagte sich in das reißende eiskalte Wasser. Er tastete sich von Stein zu Stein. Die Felsbrocken waren schlüpfrig und von Algen bedeckt. Aber es gab keinen anderen Weg.

Hatte Sango zunächst noch gehofft, die Dämonen auf diese Weise abzuschütteln, so sah er sich grausam getäuscht. Im Gegenteil. Auf diesem Terrain erwiesen sich die Mordgespenster als völlig überlegen. Sie schwebten von Hindernis zu Hindernis. Der Abstand zu den Verfolgern schmolz. Nur mühsam kam Sango voran, ausgepumpt, total erledigt. Sein hilfloser Blick suchte die Gegend ab. Er war allein, ausgeliefert diesen Geschöpfen der Nacht.

Völlig erschöpft sackte Sango zusammen.

Mit dem Rücken lehnte er an einem Felsblock. Das Wasser zerrte an ihm. Sangos Hand krampfte sich um das Amulett, das von seinem Hals baumelte und ihn sicher nicht schützen konnte, vor diesen blutgierigen Teufeln, die in Vollmondnächten Ashido, den Samurai, ermordeten und alle Zeugen beseitigten, als fürchteten sie noch immer ein Gericht. Für alle Beteiligten schien das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Eine geheimnisvolle magische Kraft zwang die Akteure zu einem endlosen Dakapo. Niemals könnte der Samurai den Ausgang des Kampfes korrigieren, so tapfer er auch focht. Immer blieben die hinterlistigen Fischer Sieger, abtrünnige Vasallen, die ihrem Lehnsherren aufgelauert hatten, weil dessen Tributforderungen sie an den Bettelstab zu bringen drohten.

Sango starrte aus weit aufgerissenen Augen auf seine Mörder, die sich lautlos einfanden. Sie kreisten das Opfer ein.

Von Panik geschüttelt beobachtete der junge Mann die grauen Chimären, die sich, in eine Tracht längst vergangener Zeit gehüllt, um ihn scharten, ihn schweigend umzingelten, ihn einkreisten.

Der Mond trat gerade hinter einer Wolkenbank hervor. Er überschüttete den gischtsprühenden Kegon-Wasserfall mit einer Lichtflut und leuchtete hart und unbarmherzig die Szene aus.

Schweigend, stumm umschloss der Wall der Chimärenleiber den vor Schreck erstarrten jungen Mann.

Keuchend vor Angst fiel Sango auf die Knie. Seine Hände erhoben sich, flehten um Gnade.

Sango stammelte wirres Zeug.

Hohle Gesichter mit rötlich glühenden Augen wandten sich ihm zu. Hohn verzerrte grausame Fratzen und blutleere Lippen, die wie Messerkerben unter Hakennasen saßen. Dünne Ziegenbärte flatterten im kühlen Nachtwind. Wie ein mittelalterliches Femegericht umschlossen die Verfolger den Hilflosen.

Der Alte mit den buschigen Augenbrauen wies plötzlich auf Sango. Sein dürrer Finger deutete auf die Brust des Verurteilten. Unter den Nägeln des Alten erkannte Sango schaudernd Hautfetzen und blutige Fleischreste, Überbleibsel des vorausgegangenen Schlachtopfers.

Nadelspitze Zähne wurden gebleckt, bereit, sich in den Hals des Opfers zu schlagen und die Schlagader anzuritzen.

Taumelnd wich Sango zurück.

Da fielen sie über ihn her wie die Wahnsinnigen. Die unheimliche Stille zerriss jäh. Das Schreien, Fauchen und Toben, das irre Kreischen und gellende Hohngelächter der Dämonen übertönte sogar das Rauschen des Kegon-Wasserfalles.

Klauen streckten sich aus, Zähne packten Sango.

Fast bewusstlos vor Angst und Schmerz, stürzte Sango rücklings in das Wasser. Die Flut riss ihn mit sich. Er stieß mehrmals gegen Steine, die breit, klobig und tiefschwarz im hellen Wasser lagen.

Sango verlor das Bewusstsein. Er stürzte in die Tiefe.

Fledermäuse flatterten über ihm. Die Dämonen selbst entfalteten ihre Flügel, taten es dem ekligen Nachtgetier gleich, zirkelten über der Absturzstelle, schrien enttäuscht durcheinander.

Wie ein Kork tanzte Sango auf den Wellen. Das Wasser spielte mit seinem Haar. Die Arme hatte er ausgebreitet. Er trieb auf dem Gesicht am Fuße des einhundertzehn Meter hohen Wasserfalles. Hier hatte sich ein tiefes Becken gebildet, eine Auffangschale. Der Strom trieb den leblosen Mann umher. Er hörte nicht mehr die grellen Schreie seiner Jäger, die langsam herunter schwebten, auf nachtschwarzen Schwingen. Gierige Augen funkelten.

Einer nach dem anderen landete am Fuße des Felsens.

Münder schnappten nach Sango. Klauen angelten nach seinem Leib. Der Tote wurde in ruhigeres Wasser gezerrt.

Wie Geier fielen die Chimären über Sango her.

Die Reste des schaurigen Mahles blieben zurück.

Satt und zufrieden erhob sich die Schar der Dämonen, blutsaugende Teufel, Produkte einer magischen Kraft, die alles überstieg, was wahrlich nicht zimperliche japanische Köpfe sich bislang auszumalen imstande gewesen waren. Die Wirklichkeit schlug jede Phantasie um Längen. Höllische Kräfte bedrohten das Leben harmloser Menschen, die in den Nationalpark gekommen waren, um sich zu amüsieren. Der Spuk des Ashido und seiner Erzfeinde, der Dämonen-Fischer, ergriff Besitz von dem Land. Was wispernde Münder sich hinter vorgehaltenen Händen zugeraunt hatten, wurde schreckliche Wirklichkeit.

Zweifler wurden widerlegt durch die Reste des Totenmahles. Zwei Menschen waren den rasenden Dämonen zum Opfer gefallen.

Da blieb nur noch eins: der Kraft der Mandragora zu vertrauen, jener geheimnisvollen Alraune, die Geister abwehrte und Gespenster bannte, wenn sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit im Schoß der Erde geerntet worden war. Man musste sie an das Fensterkreuz nageln, um den Blut-Dämonen den Zutritt zu verwehren.

Was bislang als Aberglaube gegolten hatte, wurde zu zwingender Notwendigkeit. Die Hölle selbst hatte sich aufgetan und ihre entsetzlichsten Geschöpfe ausgespien, um die Menschen zu verderben.

Suisho und Sango konnten nur die ersten Opfer sein.


3


Fassungslos stand der Ingenieur Eno Akado vor dem menschlichen Torso, der im Wasser am Fuße des Kegon-Wasserfalles trieb.

Akado hatte eine besonders reizvolle Perspektive gesucht. Er war begeisterter Videoamateur. Nun stand der Mann vor der Leiche, unfähig, ein Wort zu sprechen.

Das breite, gutmütige Gesicht Akados wirkte wie aus Stein gemeißelt. Die Augen hinter der dicken Hornbrille hatte er weit aufgerissen. Der Mund stand ein wenig offen.

Akados Frau Kopano, langsamer als ihr Gatte, arbeitete sich vorsichtig weiter vor. Sie balancierte auf hochhackigen Schuhen über mächtige Steine, die feucht und rutschig waren. Feine Vorhänge aus zahllosen winzigen Wassertröpfchen trieben wie Schleier in der Luft, überschütteten das Ufer des Auffangbeckens und die Betrachter des Kegon.

Kopano rief ihrem Mann etwas zu, aber er wandte nicht einmal den Kopf. Vielleicht hatte er nichts gehört. Der Wasserfall rauschte unaufhörlich, stark, monoton.

Die zierliche Frau in dem reizenden Kimono erreichte Eno Akado, beunruhigt, folgte dem starren Blick seiner entsetzten Augen.

Die Frau schrie auf. Eno Akado erwachte aus seiner Erstarrung.

»Ein Mord!« stöhnte er. »Wir müssen die Polizei holen.«

»Sie werden eine Menge Fragen stellen«, jammerte Kopano. »Dein Chef wird es nicht begrüßen, wenn dein Name in den Zeitungen genannt wird. Gerade jetzt, wo du Aussicht hast, Abteilungsleiter zu werden. Lass uns gehen.«

»Unmöglich.« Eno schüttelte den Kopf. »Man wird herausfinden, wer die ersten Besucher waren an diesem Tag, sobald die Leiche gefunden wird. Hier bleibt nichts geheim. Man wird uns ermitteln. Dann gibt es einen hässlichen Verdacht und peinliche Verhöre. Das wollen wir lieber vermeiden. Lauf los und hole Hilfe!«

Kopano Akado nickte schaudernd.

Die Frau in dem farbenprächtigen Kimono machte sich auf den beschwerlichen Weg. Vielleicht gab es in der Kabine des Wächters, der den Lift betreute, eine Möglichkeit, zu telefonieren.

Die zarten Farbtöne des seidenen Gewandes der Frau Akado hoben sich deutlich gegen das Grün der Wasserpflanzen und den Grauton der Felsen ab.

Der Ingenieur Eno Akado beobachtete die Leiche, die im Wasser trieb. Der Körper wurde von einer schnelleren Strömung erfasst, herumgewirbelt. Vielleicht hatten die Zehenspitzen felsigen Grund berührt. Der Tote hob sich ein wenig aus dem grünen Wasser. Langsam drehte sich der Leichnam.

Akado schrie auf.

Er starrte in ein zerschundenes Gesicht und wandte sich zitternd ab.

Welche Bestie hatte hier gehaust? War der Unbekannte einem Lustmörder in die Hände gefallen oder das Opfer einer Blutrache geworden? Warum hatten die Gangster sich den stillen Nikko-Nationalpark ausgesucht, um den verhassten Feind zu liquidieren?

Hatte Eno Akado noch wenige Sekunden vorher mit dem Gedanken gespielt, die Leiche aus dem Wasser zu ziehen, so begnügte er sich jetzt damit, seinen grausigen Fund zu bewachen, aus gebührender Entfernung, außer Sichtweite.

Mehrmals tauchten Besucher auf. Die meisten kamen mit dem Eilzug der Tobu-Bahn über Nikko, wo sie in einen Omnibus umgestiegen waren.

Der Kegon-Wasserfall ist der Ausfluss des Borlai-Sees und Beginn des Kishoya-Flusses, der auch durch die Stadt Nikko mit ihrem gewaltigen Tempelbezirk fließt.

Ein japanisches Sprichwort behauptet: Sage nie kekko (wunderbar), wenn du nicht Nikko gesehen hast.

Vor dem Lift, der die Touristen in etwa 1270 Meter Höhe beförderte, wo sie entlang des Sees Spazieren gehen konnten, stauten sich die Besucher. Der Andrang war nur schwer zu bewältigen.

Der Zweitausender des Nantai-Berges überragte und krönte das Panorama mit seinem schneebedeckten Gipfel. Der ehemalige Vulkan ist noch heute Zentrum eines Bergkultes. Für Japaner ist die Natur nicht seelenlos, sondern erfüllt von dem Wirken guter und böser Dämonen, den Einfluss seiner Ahnen und den Göttern, die zahlreich sind und alle ihren Schrein im Tempel beanspruchen dürfen.

Kopano Akado kämpfte sich an der Schlange der Wartenden entlang. Ein uniformierter Wärter wollte sie zurechtweisen, aber ein Blick in das verstörte Gesicht der Frau ließ ihn verstummen.

Mit fliegender Hast berichtete Kopano.

Der Uniformierte erstarrte. Schnell zog er die Unglücksbotin in seine hölzerne Kabine. Nicht jeder brauchte zu hören, was vorgefallen war. Das verunsicherte am Ende noch die zahlenden Gäste.

Aufmerksam lauschte Hongu dem atemlosen Bericht.

Wiederholt nickte der Uniformierte ernst, kratzte sich einmal mit bedenklichem Gesicht hinter dem rechten Ohr und rückte anschließend die blaue Uniformmütze wieder zurecht.

»Ich rufe an. Das ist ein Fall für die Polizei. Wir hatten in vergangenen Jahren schon eine Reihe unaufgeklärter Morde.

Sie können sich vorstellen, wie die Opfer ausgesehen haben. Einmal muss es Kommissar Nakamura ja glücken, den Täter zu ermitteln. Eine Bestie in Menschengestalt vermutlich. Es ist wirklich schrecklich. Der Kommissar leitet eine Sonderkommission, die seit Jahren nichts anderes tut, als die Morde im Nikko-Park zu untersuchen. Einmal aber wird es klappen. Jeder Täter hinterlässt Spuren.«

»So rufen Sie doch endlich die Polizei an!« bat Kopano Akado.

Der Uniformierte verbeugte sich pausenlos.

Die Frau mochte auch nicht zurückstehen. Sie zog sich unter zahlreichen Verbeugungen Richtung Tür zurück. Sie beging nicht die Unhöflichkeit, dem Mann den Rücken zuzukehren.

Kopano lief an den Wartenden vorbei, die ungeduldig auf einen Platz im Aufzug lauerten.

Die Frau trabte bergab, lief in weitem Bogen zum Fuß des Kegon-Wasserfalles und stieß dort auf ihren Mann.

Aufatmend setzte sich Kopano neben ihn.

»Ich hatte plötzlich furchtbare Angst«, bekannte die Frau mit leiser Stimme. Sie trug die lackschwarzen Haare zu einer altmodischen Frisur getürmt. Goldene Nadeln waren hindurch gestoßen. »Ich fürchtete, zu spät zu kommen und dich in dem gleichen Zustand wieder zu finden wie diesen armen Burschen, der im Wasser treibt.«

Kopano zog ein Taschentuch und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Sie lächelte zaghaft.

Der Ingenieur rauchte hastig und nervös.

»Du hättest den Burschen sehen sollen, als ihn die Strömung herumwirbelte und er mir das Gesicht zuwandte. Was heißt, das Gesicht? Es ist nur noch eine blutige Masse. Die Augen sind verschwunden. Der Tote sieht aus, als habe er Kannibalen als Mahlzeit gedient.«

»Der Wärter am Aufzug behauptet, es gebe jedes Jahr Tote im Park«, erzählte Frau Akado. Sie spielte mit dem Seidentuch in ihren schmalen Händen, deren Fingernägel überzüchtet waren und tiefrot lackiert.

»Warum muss ausgerechnet mir so etwas passieren?« klagte Eno Akado. Er hatte inzwischen seine teure Kamera in die Ledertasche gesteckt. Er war ziemlich bepackt mit Zubehör und Filmmaterial.

In seiner Tokioer Wohnung gab er zweimal die Woche Filmabende für seine Freunde. Er war Mitglied zweier Clubs.

So war es kein Wunder, dass nach und nach seine Vorliebe für farbige Bildchen siegte.

Mit der Zeit schwand des Ingenieurs Abneigung gegen den Anblick des verstümmelten männlichen Leichnams, und er filmte munter drauflos, fand immer neue Einstellungen und stellte zu seiner Freude fest, dass die Lichtverhältnisse im Schatten des Wasserfalls ausreichten, um brauchbare Aufnahmen zu ermöglichen.

Eno Boredi legte sich flach auf den Bauch, kniete, stand und hockte, die Kamera am Auge, schwenkte, fuhr

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Betts & Atterberry
Bildmaterialien: Betts & Atterberry
Lektorat: Oliver Betts
Übersetzung: Michael Abrahams
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3673-3

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