Lothar Gräner und Erik Schreiber – Ken Norton -
1. eBook-Auflage – Dezember 2013
© vss-verlag Hermann Schladt
vss-verlag@web.de
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Lothar Gräner
KEN NORTON
Das große Fantasy—Abenteuer
Von den Höhen der Dasachannberge ergießt sich ein gewaltiger Fluss, der einen ganzen Kontinent durchfließt und mit seinem Wasser nährt. Die Völker, die an seinen Ufern leben, gaben ihm den Namen „Die Straße der Legenden“, denn so bunt und vielfältig wie diese Völker sind die Sagen und Legenden, die sich um den Fluss ranken und die des Abends an den Feuern der Hirten und Karawansereien erzählt werden.
Wie die Legende vom „Zepter der Finsternis“.
Vor Urzeiten schuf der Gott My-Tharn-yarl die Welt. Er verliebte sich in Neira, die Göttin der Meere und allen Wassers. Doch Neira erwiderte diese Liebe nicht. Voller Verlangen nach ihrem Körper nahm My-Tharn-yarl die Gestalt eines schönen Jünglings an und verführte die Meeresgöttin.
Sie gebar die Zwillinge Chrios und Nheli, zwei Töchter, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Während Chrios rein und voller Licht war, brach aus Nheli die dunkle Seite ihres Vaters hervor. Auf Geheiß des großen Gottes wurde Chrios die Göttin des Lichts, während seine Lieblingstochter die dunkle Seite seiner Macht verkörperte.
Während die einen Chrios verehrten, beteten andere die Göttin der Finsternis an. Eines Tages kam es zum Streit um die Herrschaft über die Welt, und ein großer Kampf begann. Lange Zeit war der Himmel über der Straße der Legenden verdunkelt, während sich das Wasser des Flusses von dem Blut der Toten rot färbte. In einer letzten großen Schlacht gelang es Chrios, ihre Schwester zu besiegen und sie bannte die dunklen Kräfte in einen Kristall.
Gil-Em-lot, der Schmied der Götter, schuf ein goldenes Zepter, das von diesem Kristall geziert wurde. Chrios machte das Zepter den Menschen zum Geschenk, als Zeichen des Bundes zwischen ihnen. Seit jenen fernen Tagen wurde das Zepter der Finsternis im Lichttempel von Bel-achay bewahrt. Jedes Jahr, am Tage des Sieges über die Finsternis, zeigte man es dem Volk, und der Bund wurde erneuert. Pilger aus aller Herren Länder kamen in die Hauptstadt des argoonischen Königreiches, und es herrschte ein buntes Treiben und ausgelassene Stimmung. Auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten wurde das Zepter den Menschen gezeigt, um ihnen vor Augen zu führen, dass Chrios, die Lichtgöttin, über sie wacht.
Doch eines Tages verschwand das Zepter aus dem Tempel, und die Anhänger der Göttin Nheli erstarkten. Dunkle Mächte streckten ihre Hände aus nach den Ländern an den Straßen der Legenden, und Tod und Verderben kam über alle Königreiche.
Dies geschah vor vielen Zeitaltern, doch noch immer tobt der Kampf zwischen Gut und Böse. Niemand kann sich ihm entziehen, denn die Macht des Dämonengottes ist bis in ferne Welten spürbar.
My-Tharn-yarl lebt, und seine Anhänger streben danach, Nheli aus ihrem Kristallgefängnis zu befreien, um der Finsternis Tür und Tor zu öffnen.
Die Gestalt drückte sich an die Mauer, die das Château Chanfray umgab, und verharrte einen Moment still. Sie trug einen eng anliegenden Anzug aus schwarzem Latex, der sich kaum von den dunklen Steinen der Schlossmauer abhob.
Schwarz war auch die Maschinenpistole, die über der Schulter des ungebetenen Besuchers hing ...
Am Himmel stand der silberne Mond. Es war so hell, dass der Mann genug sehen konnte. Er schlich langsam weiter zum Tor. Wie erwartet, war die schmale Tür daneben verschlossen, doch für den Eindringling war das kein Hindernis. Er zog einen Bund aus der Tasche seiner eng anliegenden Jacke, an dem verschiedene Dietriche hingen. Er benötigte mehrere Versuche, bis sich die Tür mit einem leisen Klicken öffnete. Rasch schlüpfte der Mann hindurch und drückte sie hinter sich wieder zu.
Ein kurzer Blick, dann lief er über den Schlosshof, erreichte die Treppe, die zum Eingang empor führte, und blieb dort leise atmend stehen.
Bis hierher hatte er es geschafft. Es war ein Kinderspiel gewesen; der schwierigste Teil seiner Mission lag noch vor ihm.
Er schaute auf die Reihe Autos, die im Schlosshof standen. Teure Modelle; für jedes einzelne konnte man gut und gerne ein Einfamilienhaus kaufen. Der Mann grinste. Raymond de Chanfray hatte illustere Gäste geladen. Sie alle gehörten zu dem Kreis Eingeweihter, die an diesem Abend an einem ganz besonderen Ritual teilnahmen.
Ein Ritual, das zu stören er gekommen war ...
Die Eingangstür war nicht verschlossen. Der Mann warf einen kurzen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, bevor er die Halle betrat. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Wenn sein Plan gelingen sollte, musste er sich beeilen.
Er orientierte sich kurz. Es war schon lange her, dass der Hausherr ihn in seinem Château empfangen hatte. Damals hatte es nur wenig Gelegenheit gegeben, sich genau umzusehen, aber ihm hatte es gereicht. Immerhin wusste er, dass sich der Altarraum im Keller befand, genau wie das Zimmer, in dem sich die Gäste umzogen.
Die Stille war beinahe beängstigend. Aber Angst hatte er nie gekannt. Außerdem konnte er beruhigt sein, denn außer der Versammlung unten im Keller war sonst niemand im Schloss; der Graf hatte seiner Dienerschaft, wie immer an solchen Tagen, freigegeben.
Er durchquerte die Halle, die mit alten, kostbaren Möbeln voll gestellt war. An den Wänden hingen wertvolle Bilder. De Chanfrays Ahnengalerie, aber auch Werke bekannter Maler wie Degas, Monet oder Picasso. Unter anderen Umständen hätte er sich mit diesen Gemälden befasst, doch heute war er nicht gekommen, um Kunstschätze zu stehlen, sondern etwas viel Wertvolleres ...
Vor ihm lag eine Treppe, die in den Keller führte. Ein fahles Licht brannte und erhellte sie nur unzureichend. Der Eindringling tastete sich langsam die Stufen hinunter. Unten angekommen wandte er sich dem rechten Gang zu; der linke führte, wie er wusste, zum Weinkeller. Der Gang mündete vor einer Tür. Dahinter befand sich ein großer Raum, von dem wiederum mehrere Türen abzweigten. Hinter einer von ihnen hörte er Stimmen.
Jetzt galt es, schnell zu handeln; offenbar befanden sie sich schon im Altarraum!
Er öffnete die Tür neben sich und stand in dem Zimmer, in dem er sich schon einmal umgezogen hatte. Ein schwarzer Umhang hing noch an einem Haken. Der Mann nahm ihn und streifte ihn über, die Kapuze verdeckte seinen Kopf. Dabei zog er die Maschinenpistole nach vorne, so dass sie vor seinem Bauch hing, vom Umhang aber verborgen war. Dann verließ er das Zimmer wieder und ging entschlossen zu der Tür, die zum Allerheiligsten führte. Ohne zu zögern drückte er die Klinke hinunter und trat ein.
Die Wände des Altarraumes waren mit schwarzer Seide bespannt. An den Seiten standen Feuerschalen auf mannshohen Ständern. Ihr Licht flackerte und warf gespenstische Schatten auf die Anwesenden. Gespannte Ruhe herrschte hier drinnen. Sie alle warteten auf den Beginn des großen Rituals. In dieser Nacht würde einer von ihnen den Weg gehen, und damit würde ihre Macht ein weiteres Mal gestärkt. Jedes Opfer brachte sie ihrem Ziel einen Schritt näher auf dem Weg, an dessen Ende das lag, wonach alle hier Versammelten strebten – Unsterblichkeit!
Allerdings ahnten sie nicht, dass unter ihnen ein Eindringling war. Einer, der nicht zu ihnen gehörte, der vielmehr gekommen war, um ihnen das Kostbarste zu nehmen, das sie besaßen.
Das Zepter der Finsternis!
*
Der Mann wusste, dass er sterben würde, aber er sah der Stunde seines Todes gelassen entgegen. Man hatte ihn aus dem Zimmer geholt, in dem er eine Woche ohne Speisen und Getränke zugebracht hatte. Drogen vernebelten sein Gehirn, und in seinen Träumen sah er sich bereits in der anderen Welt. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis er über die Schwelle vom Leben zum Tode trat, und er konnte den Moment kaum noch erwarten.
An der Stirnseite des Raumes war ein Altar aufgebaut, vor dem eine Gestalt kniete. Sie trug einen schwarzen Umhang, wie alle anderen, nur besaß ihrer zusätzlich ein blutrotes Innenfutter.
Der Mann in dem Umhang hatte sein stummes Gebet verrichtet und erhob sich. Langsam drehte er sich zu seinen Anhängern um, hob den rechten Arm und rief mit schneidender Stimme: „Bringt das Opfer!“
Aus dem Hintergrund waren Geräusche zu hören. Zwei Gestalten schleppten den Mann heran. Er war nackt, hing zwischen ihnen, hielt den Kopf gesenkt, seine Augen waren geschlossen. Gegenwehr ging von ihm nicht aus. Sie brachten ihn zum Altar und legten ihn darauf.
Der Anführer der Sekte breitete die Arme aus.
„My-Tharn-yarl, Gott der Dämonen, Herrscher über das Reich der Finsternis, wir bitten dich, nimm das Opfer gnädig an und erweise ihm die Gunst des ewigen Lebens.“
Ein Raunen ging durch das Kellerverlies, als der Mann in dem Umhang zum Altar ging und das geweihte Zepter in die Hand nahm. Ehrfürchtig küsste er es, bevor er sich wieder umdrehte.
„Dies ist die Stunde des Todes und des Lebens“, sagte er. „Unser Bruder hat den Weg gewählt. Mit seinem Fortgang aus dieser Welt wird er in eine neue gehen. Er hat alle Stufen seines irdischen Daseins durchschritten und sich würdig gezeigt, ein Diener der Finsternis zu werden.“
Wieder raunte es. Die Anhänger des unheimlichen Kultes verzehrten sich danach, an der Stelle des Mannes zu sein, der auf dem Altar lag. Denn am Ende des Weges würde ein anderes Leben stehen. Ein Leben, das ihnen Macht und Reichtum versprach und – Unsterblichkeit!
Raymond de Chanfray küsste das Zepter erneut, bevor er es an seinen Platz zurücklegte. Dann griff er unter seinen Umhang und zog einen Dolch hervor. Niemand sah das triumphierende Lächeln in seinem Gesicht, als er die Spitze auf die Brust des Opfers setzte.
„Halt!“
Eine donnernde Stimme störte das Ritual. Verstört sah de Chanfray sich um. Im selben Moment ertönte eine Salve von Schüssen. Die Vermummten schrien durcheinander und flüchteten in eine Ecke des Altarraumes. Panik breitete sich aus.
De Chanfray starrte entsetzt auf die Gestalt, die sich langsam dem Altar näherte. Sie trug einen Umhang wie alle anderen, und ihr Kopf war verborgen. Das einzige, was der Graf deutlich erkannte, war eine Maschinenpistole, deren Lauf auf ihn gerichtet war.
Er wich zurück, als der Mann, offenbar ein Eindringling, der nicht zu der Gruppe gehörte, sich ihm näherte. Doch Raymond de Chanfray schien nicht sein Ziel zu sein. Der Vermummte betrat das Podest, auf dem der Altar stand, warf einen kurzen Blick auf die Gestalten, die immer noch verängstigt in der Ecke kauerten, und griff nach dem Zepter.
Ein Stöhnen entrang sich de Chanfrays Brust als er sah, wie das Zepter unter dem Umhang verschwand. Es schien, als werfe der Frevler noch einen Blick auf den Mann auf dem Altar, dann wandte er sich um und schritt rückwärts zur Tür.
„Wer mir folgt, bekommt eine Kugel!“, warnte er, bevor er die Tür aufdrückte, hindurch schlüpfte, sich von außen dagegen warf und den Riegel umlegte.
Rasch entledigte er sich seines Umhangs, der ihm bei der Flucht nur hinderlich gewesen wäre, und rannte die Treppe hinauf.
Im Verlies gewann Raymond de Chanfray als erster seine Fassung zurück.
„Ihm nach!“, brüllte er mit überschnappender Stimme. „Wir müssen ihn einholen! Er darf das Zepter nicht von hier fortbringen!“
Doch seine Worte verhallten, ohne dass sich jemand geregt hätte. Er rannte zur Tür und warf sich dagegen. Ohne irgendeine Wirkung. Das zentimeterdicke Stahlblech hielt jedem Ausbruchsversuch stand. Er selbst hatte angeordnet, dass die Tür so solide gebaut wurde. Ohnmächtig trommelte der Graf dagegen und brüllte aus Leibeskräften.
Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie unsinnig sein Unterfangen war. Außen ihnen hier unten war niemand im Schloss. Er selber hatte den Bediensteten freigegeben, um das Ritual ungestört durchführen zu können. Jetzt mussten sie warten, bis die Leute, die im Schloss arbeiteten, zurückkamen und die Rufe der Eingeschlossenen hörten.
Doch das würde nicht vor dem nächsten Morgen sein.
Den Mann auf dem Altar beachtete de Chanfray nicht mehr. Das Opfer war nutzlos geworden; sie konnten das Ritual ohne das Zepter nicht durchführen und mussten hoffen, dass der Dämonengott sich ihnen gnädig zeigte und sie nicht mit seinem ganzen Zorn bestrafte.
Die Anhänger des Kultes hatten sich zusammengerottet. Sie diskutierten über das, was eben vorgefallen war. Die Enttäuschung war groß. Sie alle hatten sich viel von diesem Abend versprochen, und jetzt saß ihnen die Angst im Nacken, dass der Vorfall weitere Konsequenzen haben konnte. Niemand wusste, wie My-Tharn-yarl auf diesen Frevel reagierte.
Raymond de Chanfray beteiligte sich nicht an dieser Diskussion. Er hatte im Moment andere Sorgen. Krampfhaft überlegte er, wer der dreiste Eindringling gewesen sein mochte.
Es musste ein Eingeweihter sein, das lag auf der Hand. Über den Kult war in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt. Nur wenige wussten überhaupt, dass es ihn gab. Wer immer es gewesen war, der das Zepter gestohlen hatte, er musste sich jedenfalls auskennen, musste um die Bedeutung des heiligen Gegenstands wissen und die alten Geheimnisse kennen, die damit verbunden waren.
In Gedanken ging de Chanfray die Leute durch, die für diesen Überfall in Frage kamen. Es konnte sich nur um ein Mitglied der Bruderschaft handeln.
Aber wer war es?
Mehrere Namen gingen ihm durch den Kopf. Er wog ab und verwarf wieder, bis er schließlich bei einem hängen blieb.
Mustafa Terjoong!
Natürlich, nur dieser elendige Bastard konnte es gewesen sein!
De Chanfray erinnerte sich nur zu gut an den Besuch des Mannes hier im Château, an seinen gierigen Blick, als er ihm das Zepter präsentierte.
Wut stieg in dem Grafen auf, als er das Gesicht des Mannes vor sich sah. Wut und Hass. Es musste einen Weg geben, das Zepter zurückzuholen, aber er wusste, dass er nicht dazu in der Lage sein würde.
Die Stunden bis zum Morgen schlichen quälend langsam dahin. De Chanfray verbrachte sie damit, einen Plan zu schmieden. Wenn es jemanden gab, der das Zepter wieder beschaffen konnte, dann nur ein ganz bestimmter Mann.
Er kannte ihn nicht persönlich, aber de Chanfray hatte von ihm gehört. Ein Engländer, Anthropologe und Abenteurer.
Der Graf überlegte, wie er mit diesem Mann Verbindung aufnehmen konnte. Natürlich durfte er über die Bestimmung des Zepters nichts wissen. Dies vor allem musste geheim bleiben.
De Chanfray erinnerte sich eines anderen Engländers, dessen Bekanntschaft er vor Jahren gemacht hatte: Lord Witherspoon. Er hatte einmal im Gespräch den Namen des Mannes genannt, auf den der Graf seine ganze Hoffnung setzte.
Ken Norton.
*
Vor dem schlossartigen Haus im Londoner Stadtteil Mayfair stand eine Reihe hochkarätiger Limousinen. Davor standen die Fahrer und vertrieben sich rauchend und unterhaltend die Zeit.
Drinnen hingegen feierten die Gäste den Wohltätigkeitsball, den Lord und Lady Witherspoon jedes Jahr veranstalteten.
Im großen Saal spielte eine Band, die das klassische Quartett, das während des Essens musizierte, abgelöst hatte. Aufmerksame Bedienstete liefen umher und achteten darauf, dass die Gäste stets volle Gläser hatten. Immerhin kostete die Teilnahme an diesem Ball fünfhundert Pfund – pro Person.
Ein Stockwerk höher befand sich das Arbeitszimmer Seiner Lordschaft. Zwischen hohen Bücherwänden und Aktenschränken saßen sich zwei Männer in ledernen Clubsesseln gegenüber. Ein dritter stand zwischen ihnen. Während der eine der beiden Sitzenden hektisch an einer Zigarre zog, blickte der andere gelassen sein Gegenüber an.
Lord Witherspoon räusperte sich.
„Also, Ken, dann lasse ich Sie jetzt mit Mr. de Chanfray allein“, sagte er und wandte sich dem Mann mit der Zigarre zu. „Seien Sie sicher, dass Ihr Anliegen bei Dr. Norton in den besten Händen ist.“
Mit einem Kopfnicken verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Raymond de Chanfray legte die Zigarre in den Aschenbecher, der auf einem kleinen Tisch neben seinem Sessel stand. Er rieb sich nervös die Hände.
„Seine Lordschaft hat Sie mir wärmstens empfohlen, Monsieur Norton“, sagte er in gebrochenem Englisch, das seinen französischen Akzent deutlich hören ließ. „Außerdem möchte ich kein Geheimnis daraus machen, dass ich über Sie gelesen und weitere Erkundigungen eingezogen habe. Sie sind ... wie soll ich sagen – ein Mann der Tat. Anthropologe, ein ernstzunehmender Wissenschaftler also, aber auch jemand, der bereit ist, hinter den Horizont zu blicken. Sie sind so etwas wie der letzte Abenteurer unserer Zeit, und um Ihr Ziel zu erreichen, besitzen Sie die notwendige Hartnäckigkeit und gehen oft unkonventionell vor. Aber Sie sind vor allem eines – absolut ehrlich.“
Mit diesen Worten hatte er den Charakter des englischen Gelehrten treffend beschrieben. Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass Ken Norton Ende zwanzig war, groß und schlank. Seine durchtrainierte Figur bewies, dass er regelmäßig Sport trieb. Er war begeisterter Polospieler, was eine gewisse Fähigkeit als Reiter voraussetzte. Ken war darüber hinaus ausgebildet in verschiedenen asiatischen Kampfsportarten, und seine Fähigkeiten im Umgang mit Pistole und Gewehr gingen weit über die eines Sportschützen hinaus. Zudem gehörte er einem Londoner Fechtclub an.
Er trug das dunkle Haar modisch kurz geschnitten, das markante Gesicht wurde von zwei blauen Augen dominiert, die, je nach Gemütslage, strahlen oder ernst blicken konnten. Durch eine Erbschaft unabhängig geworden konnte er es sich leisten, seine Studien als Privatgelehrter durchzuführen und seiner Leidenschaft zu frönen – dem Sammeln von okkulten Gegenständen und Büchern, die besser ungeschrieben geblieben wären. Ausgedehnte Reisen hatten Ken in beinahe alle Länder der Erde geführt, und er hatte seine Sammlung ständig vergrößert.
Vor allem eines hatte er auf all diesen Reisen gelernt – nämlich dass das von dem großen, englischen Dichter William Shakespeare stammende Zitat „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt“ durchaus der Wahrheit entsprach.
„Ich bin überzeugt, dass Sie der richtige Mann sind“, fuhr der Franzose fort. „Sie werden mir helfen können, Monsieur Norton.“
Ken streckte sich. Wirklich neugierig war er nicht darauf, zu erfahren, was der Franzose von ihm wollte. Eigentlich hatte er dem Gespräch nur zugestimmt, um dem Lord einen Gefallen zu tun, als dieser ihn darum bat. De Chanfray war ihm alles andere als sympathisch. Der Mann hatte etwas Unstetes, Lauerndes an sich – wie ein Raubtier, das jeden Moment bereit war, sein Opfer anzuspringen und zu zerfleischen.
„Wofür, glauben Sie, bin ich der richtige Mann?“, fragte der Anthropologe.
Raymond de Chanfray beugte sich vor. Sein Blick fixierte Ken.
„Es geht um einen Schatz“, flüsterte er, als habe er Angst, noch jemand könne ihn hören. „Ein kostbarer Besitz, der meiner Familie gestohlen worden ist. Ich weiß, dass Sie ihn wiederbeschaffen können. Und es soll Ihr Schaden nicht sein – Geld spielt absolut keine Rolle!“
Ken Norton runzelte die Stirn.
Was war das für eine Geschichte? Glaubte der Mann wirklich, er könne ihn dazu anheuern, irgendwelchen Kunstdieben hinterher zu jagen? Warum beauftragte er nicht eine Detektei?
„Können Sie etwas konkreter werden?“, fragte er und bemühte sich, seiner Stimme einen freundlichen Ton zu geben.
Dabei dachte er an die reizende Blondine, die während des Essens seine Tischdame gewesen war. Bestimmt vermisste sie ihn schon schmerzlich ...
„Der Gegenstand, um den es geht“, unterbrach de Chanfray seine Gedanken, „ist seit mehr als dreihundert Jahren im Besitz meiner Familie. Es wäre ein großer, nicht wieder gutzumachender Verlust, sollten wir ihn nicht zurückbekommen.“
„Was genau ist es, das Ihnen gestohlen wurde?“
De Chanfray wischte sich die Schweißperlen ab, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten.
„Es ... es ist die ‚Blume des Lebens’“, stieß er hervor.
Ken Norton starrte ihn verblüfft an.
„Sie meinen ...?“
Ungläubig schüttelte er den Kopf.
„Ja“, versetzte de Chanfray nachdrücklich. „Die Blume des Lebens, von der im Gilgamesch-Epos die Rede ist. Verstehen Sie jetzt, warum ich über diesen Verlust untröstlich bin?“
Der Anthropologe schluckte. In Gedanken ging er durch, was ihm über das Epos bekannt war.
Gilgamesch, der sumerische Sagenheld, König von Uruk, treibt seine Untertanen zum Frondienst, um eine Mauer um die Stadt errichten zu lassen. In ihrer Not wenden sich die Menschen an Anu, ihren höchsten Gott.
Auf dessen Befehl hin erschafft die Göttin Aruru Enkiduk, den Beschützer der Tiere. Es kommt zum Kampf zwischen Enkiduk und Gilgamesch, doch am Ende werden sie Freunde.
Die Göttin Ischtar verliebt sich in Gilgamesch. Als dieser ihre Liebe nicht erwidert, hetzt sie den Himmelsstier auf die Helden. Enkiduk tötet das Tier und wird zur Strafe von den Göttern zum Tode verurteilt. Als Gilgamesch sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wird, macht er sich auf, das Geheimnis des ewigen Lebens zu enträtseln. Nach zahlreichen Abenteuern findet er, tief unten im Meer, die Blume des Lebens, die ihm Unsterblichkeit verheißt ... Doch Gilgamesch verliert die Blume an eine Schlange und gewinnt die Erkenntnis, dass der Tod das Schicksal aller Menschen ist ...
Soweit das Epos – doch was hatte das alles mit diesem Mann hier vor ihm zu tun?
Ken Norton blickte den Grafen nachdenklich an.
Was hatte de Chanfray mit der Blume des Lebens zu schaffen?
War sie tatsächlich seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie, und wenn ja, was für ein Gegenstand war es wirklich?
Dass das Epos ins Reich der Fantasie gehörte, war jedem Archäologen klar. Selbst wenn es die Leben spendende Blume jemals gegeben hätte, wäre sie im Laufe der Jahrtausende längst unter den Trümmern vergangener Reiche für immer und ewig verschüttet.
Indes war dem Anthropologen auch bewusst, dass in jeder Geschichte, jedem Märchen, ein wahrer Kern steckte. In diesem Moment interessierte ihn weniger das Gilgamesch-Epos, sondern vielmehr die Frage, worum es sich bei dem vermissten Gegenstand des Grafen de Chanfray tatsächlich handelte.
„Beschreiben Sie mir die Blume“, forderte er den Franzosen auf.
De Chanfray nickte und wischte sich wieder über die Stirn.
„Es handelt sich um ein Zepter“, erklärte er. „Gut achtzig Zentimeter lang. Es ist aus Gold und läuft an der Spitze blütenförmig aus. In diese Blüte ist ein Kristall eingearbeitet.“
Er schluckte.
„Wie gesagt, für meine Familie ist es von unschätzbarem Wert.“
„Seit wann vermissen Sie das Zepter?“
„Vor einer Woche wurde es gestohlen.“
„Und was sagt die Polizei dazu? Haben Sie einen Verdacht, wer der Täter sein könnte?“
Der Graf zuckte mit den Schultern. Er hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, von der er hoffte, dass Norton sie ihm abnähme. Die Wahrheit konnte er ihm ja nicht sagen.
„Ich habe keine Anzeige erstattet. Wollte die Behörden da raus lassen, wenn Sie verstehen, Monsieur Norton. Nein, einen Verdacht habe ich nicht. Wenigstens keinen konkreten ...“
Ken nickte.
„Aber?“
Der Graf wand sich, schien sich darum drücken zu wollen, einen Namen zu nennen.
„Vielleicht melden sich die Diebe bei Ihnen und bieten Ihnen das Zepter zum Rückkauf an“, meinte der Engländer.
„Das halte ich für eher unwahrscheinlich“, schüttelte der Graf den Kopf. „Ich bin mir fast sicher, dass man es irgendwo verborgen hat, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Ich könnte mir vorstellen – in Marrakesch ...“
Das war der Ort, an dem er das Zepter vermutete, immerhin lebte Mustafa Terjoong dort ...
„Marrakesch ist ein bekannter Umschlagsplatz für gestohlene Kunstgegenstände“, stimmte Ken zu. „Vielleicht sollte man dort ansetzen.“
De Chanfrays Miene hellte sich auf.
„Dann nehmen Sie den Auftrag an? Sie werden die Blume des Lebens finden und mir zurückbringen?“, fragte er hoffnungsvoll.
Die schlanke, durchtrainierte Gestalt des Anthropologen straffte sich.
„Sagen wir, ich werde es versuchen“, erwiderte er. „Aber versprechen kann ich Ihnen nichts.“
Der Graf rieb sich die Hände.
„Wunderbar!“, rief er aus. „Ich kann Ihnen einen Namen geben. Der Mann heißt Terjoong. Er ist Kunsthändler mit einem, sagen wir, etwas zweifelhaftem Ruf. Ich bin mir fast sicher, dass er im Besitz dieses Zepters ist. Ich zahle jeden Betrag, den er verlangt. Machen Sie ihm das klar, Monsieur Norton.“
*
Der Mann im Pool des Luxushotels in Cannes schwamm gemächlich seine Runden, ohne sich um die schmachtenden Blicke der vornehmlich weiblichen Gäste zu kümmern, die jede seiner Bewegungen verfolgten.
Nach einer knappen Stunde hatte John Buchannan genug vom Schwimmen. Er kletterte aus dem Wasser, das bei einer Außentemperatur von siebenunddreißig Grad im Schatten nur wenig Abkühlung bot, nahm seinen Bademantel von der Liege und schlüpfte hinein. Während er sich lässig das rote Haar frottierte betrat er das Hotel, durchquerte den hinteren Teil des Foyers und nahm den Aufzug in den sechsten Stock.
Von seiner Suite aus hatte der Ire einen fantastischen Ausblick auf die „Croisette“, jene weltbekannte Prachtstrasse, an der weitere Luxushotels und Geschäfte, in denen das billigste Stück mehr kostete als manch einer in einem ganzen Jahr verdiente, standen. Doch John hatte keine Zeit, sich auf den Balkon zu stellen und den meist leicht bekleideten Frauen nachzuschauen, die hofften, irgendein Filmstar oder bekannter Regisseur würde ihren Weg kreuzen – die Filmfestspiele begannen in zwei Tagen –, denn das enervierende Geräusch seines Handys hatte er schon vernommen, noch ehe er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Die Suite bestand aus einem Flur, von dem mehrere Zimmer abgingen. Ein großes Bad war ebenso selbstverständlich wie das geräumige Schlafzimmer und der äußerst elegant ausgestattete Wohnbereich. John eilte durch den Flur, schob die Tür zum Bad auf und nahm das Handy, das auf der Kristallablage über den vergoldeten Armaturen lag.
„Was gibt es denn so Dringendes?“, fragte er, ohne seinen Namen genannt zu haben.
Er hatte angenommen, dass es sich bei dem Anrufer um den Geschäftsführer der Whiskyfabrik handelte, die ihm gehörte und ihm ein sorgenfreies Leben ermöglichte.
Wobei sorgenfrei vielleicht falsch wäre – ein finanziell unabhängiges Leben hatte John Buchannan schon, aber auch er kannte die großen und kleinen Sorgen des Alltags.
Als er jetzt die Stimme des Franzosen vernahm, horchte er auf.
„Monsieur Buchannan, ich bin’s, Jean Picard.“
„Bon soir, Monsieur, ich hoffe, Sie rufen nicht an, um unsere Verabredung abzusagen?“
„Non, non“, hörte er zu seiner Beruhigung den Franzosen rufen. „Ganz im Gegenteil. Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, dass es dabei bleibt.“
„Natürlich. So, wie wir es besprochen haben.“
„Dann erwartete ich Sie gegen acht Uhr.“
„Ich werde pünktlich sein“, erwiderte der Ire und beendete das Gespräch.
Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, verließ John seine Suite wieder, fuhr nach unten und ging an der Rezeption vorbei, zu dem Eingang, der dem Personal des Hotels vorbehalten war. Allerdings kümmerte sich der Ire nicht um das Schild. Er durchquerte einen langen, schmalen Gang und stand kurze Zeit später in der Küche des Luxushotels.
Hier drinnen herrschte ein Höllenlärm. Töpfe und Pfannen klapperten, auf den großen Herden dampfte und zischte es. Vorne, am Pass, riefen die Kellner ständig neue Essensbestellungen herein, der Küchenchef stauchte seine Köche zusammen, die wiederum ihren Ärger an den Commis abließen, die ihrerseits mit den Lehrlingen schimpften.
Das Abendgeschäft war im vollen Gange.
John schaute einem der Köche in die Pfanne; Krebse, Gemüse und Fischstücke brieten darin.
„Ah, Monsieur Buchannan“, hörte er eine Stimme hinter sich und drehte sich um.
„Maître Arnaud, wie ich sehe, läuft das Geschäft.“
Der Küchenchef strahlte über das ganze Gesicht.
„Wir haben eine kleine Gesellschaft, die ein exklusives Menü wünscht. Dazu das Abendgeschäft. Aber Sie sind sicher nicht hergekommen, um uns bei der Arbeit zuzusehen.“
„Richtig“, nickte John. „Ich würde gerne wissen, was Sie mir heute Abend Schönes empfehlen können.“
Marcel Arnaud führte den Iren zur anderen Seite der Küche.
„Frische Austern“ – er deutete auf einen Spankorb, der auf einem Tisch stand – „Hummer natürlich, und erst vor einer Stunde haben wir frischen Seewolf hereinbekommen. Als Vorspeise würde ich eine ‚paté’ nach Art des Hauses empfehlen, dann überbackene Austern in Riesling. Als Hauptgang käme Seewolf mit sautiertem Gemüse in Betracht und zum Dessert eine ‚mousse au chocolat’.“
John Buchannan nickte zufrieden.
„Genauso machen wir es.“
Der Maître strahlte wieder. Er liebte solche Gäste, die sich mit ihm über das Menü verständigten, weil ihm dies zeigt, dass sie wirkliche Feinschmecker waren. Und John hatte er ganz besonders in sein Herz geschlossen. Er war einer der wenigen Fremden, die Marcel Arnauds Reich betreten durften.
Ein Ober führte ihn an den reservierten Tisch. John suchte die passenden Weine aus und bestellte als Aperitif einen Whisky. Ohne zu fragen wurde ihm ein achtzehn Jahre alter Buchannan serviert. Der Ire trank einen Schluck und ließ ihn genießerisch die Kehle hinunterlaufen, nachdem er konzentriert die „Blume“ an Zunge und Gaumen gekostet hatte.
Dann klingelte sein Handy!
Ohne sich um die entrüsteten Blicke der anderen Gäste zu kümmern, die sich durch das Klingeln gestört fühlten, nahm er das Mobiltelefon und drückte eine Taste.
„Picard, sind Sie es?“, fragte er.
„Nein, Sir“, vernahm er die Stimme seines Geschäftsführers. „Ich bin’s, Webber.“
John verdrehte die Augen.
„Was gibt’s denn? Ist die Fabrik abgebrannt? Oder streiken die Arbeiter?“
„Weder noch, Sir. Es ist nur so, dass ich Sie dringend sprechen muss. Wegen des Vertrags mit den Chinesen ...“
Der Ire runzelte die Stirn.
Zwischen seiner Firma und der Volksrepublik China war ein Millionendeal zustande gekommen. Das Geschäft stand kurz vor dem Abschluss. Charles M. Webber sollte morgen in Peking alles unter Dach und Fach bringen.
„Und deswegen stören Sie mich? Sie haben doch Prokura. Außerdem dachte ich, Sie seien längst unterwegs ins Reich der Mitte.“
„Bin ich auch Sir“, hörte er die Stimme Webbers. „Allerdings ist es so, dass die Chinesen auf einen Nachlass aus sind, und da ...“
„Schon gut, verstehe. Wo sind Sie denn jetzt?“
„In Cannes. Ich bin vor einer Stunde in Nizza gelandet.“
„Na, dann kommen Sie her. Wir wollen keine Zeit verlieren. Ich sitze im Restaurant; nachher habe ich noch eine Verabredung.“
*
Ken Norton befand sich derweil in Marrakesch. Er hatte sich in einem Hotel in der Altstadt eingemietet und es gleich darauf wieder verlassen, nachdem er sein Zimmer bezogen hatte. Jetzt spazierte er über die Avenue de la Koutoubia und erreichte kurz darauf den Platz „Djemaa el Fna“ – den Platz der Geköpften. Früher wurden hier die abgeschlagen Köpfe der Feinde und Rebellen zur Schau gestellt, heute herrschte hier indes ein buntes, quirliges Treiben. Araber, Juden und Schwarzafrikaner boten in ihren Gewändern ein farbenfrohes Bild. Gewürzhändler hatten ihre Stände aufgebaut, Teppiche wurden ebenso angeboten wie Lebensmittel, Obst und Gemüse. Zahlreiche Straßencafés luden zum Verweilen ein, und an jeder Ecke hatte sich eine Menschentraube um die Gaukler, Akrobaten und Geschichtenerzähler gebildet.
Der Engländer überquerte den Platz und tauchte in ein Gewirr von engen, verschlungenen Gassen ein.
Der Souk, der Markt der Kunstschmiede, befand sich am Place des Ferblantiers. Ken Norton suchte ein bestimmtes Haus und ging durch den Torbogen.
Hier drinnen war es angenehm kühl. Die hohen Mauern hielten die Hitze des Tages weitgehend ab. Zudem drang nur wenig vom Lärm der Straße in den Innenhof.
Ein paar Frauen saßen vor den Eingängen, die Gesichter verschleiert. Sie musterten neugierig den Fremden, ebenso wie die Kinder, die ihr Spiel unterbrachen. Ken zwinkerte ihnen zu und betrat einen Hauseingang. Im Flur blätterte die Farbe von den Wänden, und es roch nach gebratenem Hammelfleisch. Der Anthropologe stieg eine schmale Treppe hinauf. Im zweiten Stock angelangt, klopfte er an eine grün gestrichene Tür.
Es dauerte einen Moment, bis sich dahinter etwas regte. Dann wurde geöffnet, und ein bärtiges Gesicht schaute heraus.
„Guten Abend, Khalid“, sagte der Engländer auf Französisch.
Im selben Moment ging ein Strahlen über das Gesicht des Mannes.
„Ken! Bist du’s wirklich?“
Sie umarmten sich, und Khalid führte den Besucher in die Wohnung.
„Bei allen Teufeln, ist das eine Überraschung! Was führt dich nach Marrakesch?“
Ken nahm auf einem Sessel Platz.
„Ich brauche deine Hilfe.“
„Warte“, sagte Khalid, „ich koche erst einmal Tee. Und du bleibst natürlich zum Essen.“
Er verschwand in der angrenzenden Küche, und Ken hörte ihn dort hantieren. Er schaute sich um. Die Wände des Zimmers waren in einem sanften Gelb gestrichen, Bilder hingen daran, an der einen Seite zwei gekreuzte Krummschwerter. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich, neben dem Diwan stand ein rundes Tischchen, darauf die unvermeidliche Wasserpfeife. Ken lächelte und dachte daran, dass Khalid und er sich schon seit Jahren kannten. Wenn er eine Spur des geraubten Gegenstands finden wollte, dann war der Sohn eines Franzosen und einer Marokkanerin die richtige Adresse. Khalid handelte mit allem, was sich zu Geld machen ließ, und hatte die besten Verbindungen.
Auch und vor allem zur Unterwelt ...
Nach wenigen Minuten kam Khalid zurück.
„So“, sagte er, nachdem er eingeschenkt hatte, „jetzt erzähle.“
Ken erklärte, worum es ging. Die Tatsache, dass er nach nichts Geringerem auf der Suche war als nach der Blume des Lebens, dem Zepter des Gilgamesch, schien Khalid nicht sonderlich zu beeindrucken. Er wiegte bedächtig den Kopf hin und her und dachte einen Moment schweigend nach. Dann sah er seinen Besucher an.
„Dein Verdacht ist richtig“, sagte er. „In den letzten Jahren ist Marrakesch mehr noch als früher zu einem Umschlagsplatz für gestohlene Kunstgegenstände geworden. Diebe und Hehler aus aller Welt treiben sich hier herum. Allerdings ...“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sah Ken unheilschwanger an.
„... allerdings gefällt es mir nicht, dass du mit diesem Mann verhandeln sollst“, vollendete er den Satz.
„Terjoong? Was ist mit ihm?“
„Später“, erwiderte der Marokkaner kurz.
Ohne zu sagen wohin er ging, verließ er die Wohnung und ließ Ken zurück. Der machte es sich auf dem Diwan bequem und wartete geduldig auf die Rückkehr des Freundes. Dabei beschäftigte ihn eine Frage, über die er schon die ganze Zeit nachdachte.
Wer war Raymond de Chanfray, und was waren dessen Absichten?
Natürlich hatte er sich vor seiner Abreise aus London eingehend mit dem französischen Adligen befasst. Allerdings war es nicht viel, was er über ihn herausbekommen hatte. Lediglich, dass die Familie seit über dreihundert Jahren auf einem Schloss in der Provence ansässig war. Weder womit de Chanfray sein Geld verdiente, noch was es mit dem Zepter auf sich hatte, wie es in seinen Besitz gekommen war oder warum der Graf nicht die Polizei nach dem Diebstahl eingeschaltet hatte, war herauszufinden gewesen.
Irgendwann musste er eingenickt sein. Als Ken die Augen wieder öffnete, hörte er Khalid in der Küche rumoren, Bratgeruch drang durch den Perlenvorhang, und der Anthropologe verspürte ein Hungergefühl. Kurze Zeit später saßen sie am Tisch. Khalid hatte ein Gericht aus gebratenem Lamm, Paprika und Reis gezaubert.
„Es ist erstaunlich“, erklärte er, während er genüsslich kaute, „zuerst wollte niemand etwas gehört haben. Nur dumme Gesichter. Doch schließlich bin ich fündig geworden. Terjoong scheint tatsächlich im Besitz des Zepters zu sein. Zu der fraglichen Zeit war er in Europa. Nach dem Essen bringe ich dich zu ihm.“
Der Engländer nickte und stellte keine weiteren Fragen.
Der Freund reichte ihm eine schwarze Dschellaba.
„Ist besser, wenn du das anziehst.“
Ken nickte und streifte den schwarzen Mantel über. Als er das Hotel verlassen hatte, war er zuvor in eine Jeans, ein helles Hemd und braune Stiefel geschlüpft. Khalid zog ihm die Kapuze über den Kopf und nicke zufrieden.
„Jeder wird dich für einen Marokkaner halten.“
Sie verließen die Wohnung und stiegen die Treppe hinunter. Unten im Hof waren die Kinder und Frauen verschwunden. Ken schaute in den Himmel hinauf. Er war dunkelblau und voller funkelnder Sterne.
Der Anthropologe überließ sich ganz seinem Führer. Khalid wandte sich nach rechts und schritt rasch aus. Es waren nur wenige Menschen um diese Zeit noch unterwegs. Kaum jemand nahm Notiz von den beiden Männern, die schnellen Schrittes die winkligen Straßen und Gassen durchquerten. Bald hatten sie das Zentrum der Stadt verlassen und befanden sich in einer wenig bewohnten Gegend. Die Häuser wurden spärlicher; links lag ein großer Park, rechts führte eine breite Straße zu einem Industriegebiet.
Während sie gingen, überlegte Ken sein weiteres Vorgehen. Vielleicht war der Mann, dem er gleich begegnen würde, nur ein Vermittler, den der Dieb eingeschaltet hatte, um nicht selbst in Erscheinung treten zu müssen. Möglicherweise war es aber auch der Kerl, der das Zepter geklaut hatte. Dann hieß es, vorsichtig zu sein.
Unwillkürlich griff er an die rechte Seite, wo unter dem Mantel ein langer, schmaler Dolch an seinem Gürtel hing. Nicht gerade eine besonders gute Waffe; ein Revolver wäre ihm lieber gewesen, aber etwas anderes hatte Khalid nicht gehabt. Doch Ken Norton wusste damit umzugehen, und im Ernstfall würde er den Dolch einsetzen.
Er war einige Schritte hinter seinem Führer zurückgeblieben. Khalid drehte sich zu ihm um.
„Jetzt ist es nicht mehr weit.“
„Du wolltest mir etwas über ihn erzählen“, erinnerte der Engländer seinen Freund.
Der deutete auf ein Haus, das am Ende des Parks lag. Im Schein des aufgehenden Mondes sah es tatsächlich aus wie ein Palast aus Tausend und einer Nacht.
„Dort wohnt Mustafa Terjoong“, erklärte er.
„Was ist das überhaupt für ein seltsamer Name?“
Khalid grinste.
„Er ist Mischling, genau wie ich. Sein Vater war ein holländischer Seemann, seine Mutter eine ägyptische Hure im Hafen von Alexandria. Und das meine ich wörtlich; Mustafa ist ein Hurensohn, wie er im Buche steht. Verschlagen, hinterhältig und mit allen Wassern gewaschen. Der Palast dort gehört ihm. Vor fünfzehn Jahren kam er völlig mittellos aus Kairo hier an. Zwei Jahre später zog er dort ein.“
Ken zog scharf die Luft ein. Er ahnte, was auf ihn zukommen würde.
„Sei also vorsichtig“, fuhr Khalid fort. „Ich habe Mustafa mitteilen lassen, dass ein Engländer nach einem Kunstgegenstand sucht und bereit ist, gut dafür zu zahlen. Er ist der größte Hehler in Marrakesch. Also, lass dich nicht übers Ohr hauen.“
Der Anthropologe nickte.
„Du kommst nicht mit?“
„Ich warte hier. Nimm den Eingang links vom Tor.“
Ken winkte ihm zu und ging den schmalen Weg entlang, der, von Blumenrabatten gesäumt, zu einer Tür führte; einem Seiteneingang offenbar. Er klopfte, die Tür schwang auf, und ein Bär von einem Mann blickte ihn fragend an.
„Zu Monsieur Terjoong“, sagte Ken.
Der Mann trug Pluderhosen, eine ärmellose Weste über dem nackten Oberkörper, an den Füßen bestickte Sandalen. An der linken Seite steckte ein Krummsäbel, und den beinahe kahlen Kopf zierte ein Fez. Der Anthropologe wurde unwillkürlich an einen Eunuchen im Harem erinnert; lediglich das Maschinengewehr in der Hand des Mannes lenkte irritierend von diesem Eindruck ab.
Der Wächter nickte nur kurz und ließ ihn eintreten. Offenbar war er über das Kommen des Engländers informiert. Schweigend schloss er die Tür und führte den Besucher durch einen langen, schmalen Gang, der von ein paar flackernden Fackeln beleuchtet wurde. Bei näherem Hinsehen erkannte Ken, dass es sich dabei um elektrische Leuchten handelte, echten Fackeln täuschend ähnlich nachgebildet.
Sie erreichten eine offene Halle. Der Engländer blickte sich neugierig um. Vor allen Türen standen Männer, gekleidet wie der, welcher ihn führte, und ebenso wie er trugen sie Maschinengewehre; Kalaschnikows, wie Ken jetzt feststellte.
Mustafa Terjoong musste ein sehr wichtiger Mann sein – oder große Angst um sein Leben haben.
Vielleicht auch beides ...
Die Halle war hell erleuchtet. Überall standen Kunstgegenstände herum; Statuen aus Bronze, Silber und Gold; verzierte Truhen und Pokale. Kostbar aussehende Gemälde hingen an den Wänden. Ken erkannte darunter einen Rembrandt, der vor Jahren aus dem „Rijksmuseum“ in Amsterdam gestohlen worden war.
Der Gipfel aber war eine Art Thron, der am Ende der Halle auf einem Podest stand. Darauf saß ein Mann, in der Rechten ein Weinglas, die Linke nachdenklich an das Kinn gelegt. Seine Augen schienen geschlossen, obwohl Ken sicher war, dass er ihn durch halbgeöffnete Lider musterte. Hinter ihm mühten sich zwei braungebrannte Jungen damit ab, dem Mann auf dem Thron frische Luft zu verschaffen. Sie benutzten dazu riesige Fächer aus Pfauenfedern.
Der Wächter, der ihn eingelassen hatte, blieb vor dem Thron stehen und verbeugte sich. Die Augen des anderen öffneten sich und fixierten den Engländer.
Belustigung und Verachtung spiegelten sich gleichermaßen in diesem Blick.
Ken begriff. Mustafa Terjoong, um den es sich zweifellos bei dem „Herrscher“ auf dem Thron handelte, hatte ihn absichtlich durch den Seiteneingang hereinführen lassen, um dem Ausländer seine Macht zu demonstrieren und zu zeigen, dass Ken für ihn nichts weiter als ein Bote war. Ein Bittsteller, der hergekommen war, um im Auftrag seines Herrn zu verhandeln. Und dieser Blick sagte gleichzeitig aus, dass Ken sich in der schlechteren Position befand.
Sollte Terjoong tatsächlich Besitz des Zepters sein, woran der Anthropologe angesichts der Reichtümer, die er hier sah und die allesamt geklaut waren, nicht zweifelte, so würde er den Preis in astronomische Höhen treiben.
Ob de Chanfrays Mittel dann ausreichten, wagte Norton zu bezweifeln.
*
„Okay, nicht mehr als zwei Prozent“, knurrte John Buchannan. „Wenn sie damit nicht einverstanden sind, sollen sie ihren Whisky von mir aus bei den Schotten einkaufen.“
Charles M. Webber nickte beflissentlich.
„Sehr wohl, Sir. Das werde ich den chinesischen Partnern natürlich nicht sagen. Aber auf die Prozente achten.“
„Das werden Sie ihnen sehr wohl sagen, Webber“, entgegnete der Boss. „Sonst sind Sie die längste Zeit mein Geschäftsführer gewesen!“
Natürlich war es eine leere Drohung. John konnte sich für diesen Posten gar keinen besseren Mann wünschen. Webber war seit Jahren schon in der Firma und leitete sie zu Johns vollster Zufriedenheit. Auch wenn er sich von der Statur mit seinen eins achtundsechzig gegenüber dem Chef wie ein Zwerg ausnahm, so machte der Engländer diesen Unterschied durch seine Kompetenz und seine Durchsetzungskraft wieder wett. In der Fabrik gab es keinen, der ihn nicht schätzte, hatte er doch auch für die kleinen, privaten Probleme der Arbeiter immer ein offenes Ohr. Deshalb belächelte ihn auch keiner, weil er sich stets wie ein englischer Geschäftsmann kleidete. John Buchanan hatte noch keinen Tag erlebt, an dem Charles M. Webber nicht in seinem schwarzen Anzug, mit silberfarbener Weste, dem Bowler auf dem Kopf und dem unvermeidlichen Regenschirm in der Hand im Büro erschienen wäre.
Nur eines gab ihm ein Rätsel auf – sein Geschäftsführer weigerte sich beharrlich, die Bedeutung des Buchstaben „M“ in seinem Namen zu erklären ... So oft er schon danach gefragt hatte, Webber wich ihm immer aus, als sei es ihm peinlich, darauf eine Antwort zu geben.
„Nun essen Sie schon“, forderte John ihn auf. „Der schöne Fisch wird ja ganz kalt.“
Sein Angestellter beäugte misstrauisch den filetierten Seewolf auf seinem Teller. Er hätte lieber Lamm mit Mintsauce bestellt. Doch als Webber den Kellner fragte, ob das Gericht vorrätig sei, hatte der nur distinguiert eine Augenbraue gehoben, und John hatte Mühe gehabt, nicht in brüllendes Gelächter auszubrechen. Schließlich hatte der Ire die Auswahl für den Engländer getroffen.
Jetzt sah er auf die Uhr. Gleich acht – wenn er pünktlich sein wollte, musste er sich beeilen.
„Wann fliegen Sie weiter?“, erkundigte er sich.
„Morgen früh um zehn geht eine Maschine nach Berlin. Dort habe ich Anschluss an einen Flug nach Hongkong.“
„Gut. Haben Sie eine Unterkunft für die Nacht?“
Webber bedauerte.
„Dann müssen wir Sie hier unterbringen“, meinte John. „Hören Sie, Mr. Webber, ich habe gleich eine dringende Verabredung, die ich nicht verpassen möchte. Würde es Ihnen was ausmachen, mich zu begleiten?“
Der Engländer sah ihn zweifelnd an.
„Hat die Verabredung etwas mit Ihrer ... äh, Passion zu tun?“, fragte er vorsichtig.
Der Ire lächelte. Webber wusste um seine Leidenschaft für die so genannten Grenzwissenschaften. Als Engländer war er abergläubisch und vermutete in jedem alten Gemäuer ein Gespenst.
„Ja“, antwortete John. „Aber keine Angst. Ich treffe einen Mann, der mich zu einer Frau führt, mit der ich mich unterhalten werde. Nichts Außergewöhnliches. In spätestens zwei Stunden sind wir wieder zurück, nehmen einen Drink an der Bar und gehen noch mal Ihre Taktik für das Gespräch mit den Chinesen durch.“
Sein Geschäftsführer nickte ergeben. Was sollte er bis dahin auch allein anfangen? Er kannte niemanden hier, und um im Mittelmeer baden zu gehen fehlte ihm die notwendige Ausrüstung; eine Badehose hatte er nicht eingepackt.
„Wir essen die Mousse später“, erklärte John dem Ober und unterschrieb die Rechnung.
Sie verließen das Hotel durch den Vordereingang und stiegen in Johns Mietwagen, der inzwischen vorgefahren worden war. Der Ire grinste, als er seinen Geschäftsführer ansah. Wahrscheinlich überschlug Webber in Gedanken bereits, wie viel dem Chef dieser Trip an die Côte d’Azur wohl kosten mochte und wie er das verbuchen sollte.
„Wer kümmert sich in Ihrer Abwesenheit um die Fabrik?“, fragte John, während er über die Croisette fuhr.
„Bolton, Sir“, lautete die Antwort.
„Guter Mann“, nickte John zufrieden.
Sie hatten Cannes bereits verlassen und befanden sich auf einer Straße, die ins Hinterland führte. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt und John schaltete die Schweinwerfer ein. Jean Picard erwartete sie an der verabredeten Stelle. Der Renault des Franzosen stand an der Straße, er selbst wartete davor.
„Bon soir“, begrüßte der Ire ihn, als sie ausgestiegen waren.
„Monsieur Buchannan, es ist mir eine Ehre.“
John stellte seinen Begleiter vor.
„Ist es noch weit?“, erkundigte er sich.
„Keine fünf Minuten von hier. Sie können das Auto stehen lassen.“
„Darf ich fragen, um was es bei dieser Unterhaltung geht, Sir?“, meldete sich Webber zu Wort.
Der Whiskyfabrikant erklärte es ihm, und sein Geschäftsführer machte große Augen.
„Sie hat bei lebendigem Leib gebrannt?“, fragte er ungläubig.
John nickte. Es machte ihm einen Heidenspaß, den Aberglauben seines Begleiters anzuheizen.
„Aber keine Bange. Madame Bourgardez wird uns heute Abend wohl nicht den Gefallen tun, es uns noch einmal vorzuführen“, beruhigte er Webber schließlich.
Der Engländer schauderte bei dem Gedanken.
„Da vorn ist es“, sagte Picard, der bisher geschwiegen hatte, und deutete auf ein einsames Haus, das in ein paar hundert Metern Entfernung auf einem Hügel stand. Umgeben von knorrigen Olivenbäumen, mit einem kleinen Stall dabei und aus groben Steinen gemauert, machte es einen malerischen Eindruck. Bei Sonnenschein würde man bestimmt dahinter die blühenden Lavendelfelder sehen, dachte John. Nichts deutete darauf hin, dass das Anwesen einmal Schauplatz eines grauenhaften Schauspiels gewesen war.
Picard trat an die Tür und klopfte. Drinnen blieb es still. Die Männer sahen sich fragend an, dann zuckte der Franzose die Schultern und drückte die Klinke herunter.
Die Tür schwang mit einem Knarren nach innen auf. Vor ihnen lag ein dunkler Flur. Und drinnen war es totenstill.
*
„Chalida, Wein für unseren Gast!“, sagte der Mann auf dem Thron.
Wie aus dem Nichts tauchte eine Frau vor Ken auf. Sie war von Kopf bis Fuß verschleiert und hielt in den Händen ein rundes Tablett aus getriebenem Silber. Darauf stand ein funkelndes Kristallglas, gefüllt mit einer dunkelroten Flüssigkeit.
„Willkommen in meinem bescheidenen Heim“, prostete Mustafa Terjoong ihm zu.
Der Engländer nahm das Glas und hielt es ihm entgegen.
„Ein Freund sagte mir, dass Sie auf der Suche nach einem bestimmten Gegenstand sind“, fuhr Terjoong fort, nachdem sie getrunken hatten.
Ken nickte.
„Vielleicht können Sie mir dabei behilflich sein?“
Der Hausherr hob eine Hand und ließ sie wieder fallen.
„Möglich ist alles“, erwiderte er vieldeutig.
„Wenn es eine Frage des Geldes ist – mein Auftraggeber verfügt über die entsprechenden Mittel.“
Terjoong beugte sich vor. Erst jetzt hatte Ken ausreichend Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Das Gesicht hatte einen dunklen Ton, wahrscheinlich das Erbe seiner Mutter. Die schwarzen Augen glichen denen eines Untieres, das sich seines Opfers sicher ist. Sie schienen zu funkeln. Seine hakenförmige Nase drückte Brutalität aus, die von dem schmalen Mund unterstrichen wurde. Mustafa Terjoong war ein Mann, der keinen Widerstand duldete, gnadenlos und ohne jegliche Rücksicht seine Ziele durchsetzte.
Dies alles war aus seinem Äußeren und seiner Haltung zu lesen.
„Es gibt Dinge, die kann man nicht mit Geld bezahlen“, sagte er und deutete zu den Gemälden. „Nehmen Sie nur den Rembrandt dort. Sein Wert wird in Millionen beziffert, doch der wahre Wert einer solchen Kostbarkeit liegt in ihr selbst. Schauen Sie sich nur die Farben an, mit denen der Meister gearbeitet hat. Blicken Sie auf die feinen Linien des Gesichts, das Rund des Ausschnitts. Der Maler hat hier die Wirklichkeit wiedergegeben, besser, als jeder Fotograf es vermocht hätte.
Und doch ist es nicht mehr als ein Bild. Etwas, das geschaffen worden ist, um das Auge des Menschen zu erfreuen; eine andere Berechtigung für sein Vorhandensein hat das Gemälde nicht.
Wie anders ist da doch jener Gegenstand, der dem bedauernswerten Raymond de Chanfray abhanden gekommen ist! Ein Zepter von solcher Vollkommenheit, das so zu schmieden ein Mensch niemals in der Lage sein wird.
Soll ich Ihnen etwas verraten, Mr. Norton?
Dieses Zepter ist von einem Gott erschaffen worden. Es ist älter als die Erde selbst, und sein Besitz verheißt unendliche Macht.
Mehr noch – er verspricht das ewige Leben!“
Ken ließ die Worte nachklingen.
Woher kannte der Mann seinen Namen?
Khalid hatte ihn ihm gewiss nicht verraten. Doch das war im Moment nebensächlich. Ihn beschäftigte vielmehr eine andere Frage. Glaubte Terjoong wirklich alles, was er da sagte?
Das Gilgamesch-Epos gehörte in das Reich der Legenden. Auch wenn ein kleines Körnchen davon der Wahrheit entsprechen mochte. Doch ernsthaft konnte kein vernünftig denkender Mensch glauben, dass er durch den Besitz des Zepters davor bewahrt bliebe, den Weg alles Irdischen zu gehen.
Beinahe belustigt schaute Ken zu dem Mann auf dem Thron.
„Das Zepter ist also in Ihrem Besitz“, stellte er fest.
Terjoong erhob sich, und der Engländer sah sich einem breitschultrigen, hoch gewachsenen Mann gegenüber, der ihn spöttisch musterte.
Es war eine bizarre Situation. Da stand er hier in dieser Halle, umgeben von den herrlichsten Kunstgegenständen, die jemals von Menschen erschaffen worden waren. Aber es war kein Museum, in dem er sich befand, und die Männer, die rings um ihn standen, waren bewaffnet, als wollten sie in den Krieg ziehen. Dazu der archaisch wirkende Thron mit Terjoong, der wie ein mittelalterlicher Potentat gewirkt hätte, wäre da nicht sein dunkelgrauer Anzug gewesen, der irgendwie nicht in die Umgebung passen wollte.
„Ja, ich besitze es“, erwiderte der Sohn eines Holländers und einer Ägypterin. „Sie ahnen ja nicht, wie lange ich schon danach gesucht habe. Tausendmal sind mir Zepter zum Kauf angeboten worden, aber nie war das echte darunter. Denn es gibt nur das eine.“
Er machte eine einladende Handbewegung.
„Kommen Sie“, sagte er. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“
Terjoong klatschte in die Hände, und zwei Männer öffneten die Tür, vor der sie standen.
Ken betrat einen Saal, der größer als die Halle war. Hier drinnen war es dunkel, nur in der hinteren Ecke leuchtete etwas. Der Engländer folgte dem Mann und bemerkte, dass die Wände mit schwarzem Samt bezogen waren. An den Seiten standen mannshohe Feuerschalen, deren Glut erloschen war.
Vor einem Altar blieben sie stehen. Ken Norton hielt unwillkürlich den Atem an, als er den Gegenstand erblickte.
Das Zepter lag auf einer Samtdecke und leuchtete aus sich heraus. Es sah so aus, wie de Chanfray es ihm beschrieben hatte. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass das Leuchten von dem Kristall ausging, der das Zepter krönte.
„Was Sie hier sehen, Mr. Norton“, sagte Mustafa Terjoong feierlich, „ist das Vermächtnis der Götter an die Menschheit. Dieses Zepter wurde geschaffen, um den Bund zwischen ihnen und uns zu festigen. Ihm wohnt die göttliche Kraft inne, die in der Lage ist, Berge zu versetzen.“
Ken sah ihn an und wusste, dass es nicht ein Kunstdieb war, den er da vor sich hatte, sondern ein Fanatiker – die gefährlichste Sorte unter der Spezies des Homo sapiens.
„Von welchen Göttern sprechen Sie?“, fragte er. „Von denen der alten Griechen, der Römer? Oder vielleicht Odin, Freya, Loki, denen die Germanen huldigten? Nein. Man sagt, das Zepter sei im Besitz des Gilgamesch gewesen. Meinen Sie also die sumerischen Gottheiten?“
„Schweigen Sie!“, herrschte der Araber ihn an. „Was wissen Sie schon? Die Götter, von denen ich rede, sind älter als alle anderen nach ihnen. Sie stammen nicht aus dieser Welt. Gegen sie sind Zeus oder Jupiter oder wie sie alle heißen mögen nichts weiter als Hirngespinste. Erdacht von Menschen, die zu dumm waren, sich ihre Existenz zu erklären und etwas brauchten, um sich dafür zu rechtfertigen. Die Götter, um die es in Wirklichkeit geht, sind mächtiger als eines kleinen Menschen Verstand es sich ausmalen kann.“
Er sah den Engländer an, und in seinen Augen stand ein seltsamer Glanz. Ken kam für einen Moment ein irritierender Gedanke ...
Bei seinen Studien war er auf einen Kult gestoßen, dessen Name ihm jetzt wieder einfiel. My-Tharn-yarl war ein Dämonengott unbestimmter Herkunft. Es hieß, dass seine Anhängerschaft auf der ganzen Welt verbreitet sei; von blutigen Ritualen und sogar Menschenopfern war in den Berichten die Rede gewesen. Indes schien es unmöglich, in den inneren Zirkel dieses Kults eindringen zu können. Wie alle Geheimbünde schotteten sich die Mitglieder von der Außenwelt ab, und nur ganz wenigen gelang der Zutritt. Jeder von ihnen legte einen Eid ab, das Geheimnis zu wahren.
Diejenigen, die diesen Eid brachen und die wenigen Berichte über den Dämonengott an die Öffentlichkeit brachten, wurden ausnahmslos mit dem Tode bestraft. Ihren Angaben, durch geschickte Manipulationen in die Lächerlichkeit gezogen, schenkte kaum jemand Glauben.
Bis auf ein paar Leute vielleicht, die mehr wussten als andere – so wie Ken Norton.
Terjoong hatte die Augen geschlossen und schwieg. Dafür tauchten Bilder vor seinem geistigen Auge auf, und wieder betrat er Orte, die er schon so oft besucht hatte. Doch das war nicht im Traum gewesen, sondern in der Realität. Orte, die vor ihm nur wenige Menschen gesehen hatten. Sie lagen nicht auf diesem Erdenrund, sondern in einer anderen Welt. Einer Welt fernab jeglichen menschlichen Verstehens.
Und dorthin würde er zurückkehren, wenn das Ritual vollzogen war.
Mit einem Ruck öffnete er die Augen.
„Packt ihn!“, schrie er.
Ken wirbelte herum. Hinter ihm standen die bewaffneten Männer. Zwei von ihnen sprangen vor und griffen nach ihm. Der rechte Fuß des Engländers schoss nach oben und traf den ersten. Der zweite hob sein Maschinengewehr und ließ den Lauf auf den Kopf des Anthropologen krachen. In seine Dschellaba gekleidet hatte er nicht so agieren können, wie er es sonst getan hätte.
Ken sank zu Boden. Er spürte nicht mehr die Hände, die nach ihm griffen und ihn fesselten.
Terjoong hatte die ganze Zeit ungerührt daneben gestanden. Triumph leuchtete in seinen schwarzen Augen, als die Männer den Bewusstlosen auf den Altar legten.
Auf seinen Wink hin tauchte aus dem Dunkel des Raumes eine Frau auf und legte ihm einen Umhang um. Er war schwarz und das Innenfutter hatte die Farbe von Blut. Mit einer herrischen Bewegung scheuchte er seine Leute aus dem Saal.
Einen Moment herrschte gespenstische Stille, nachdem die Tür geschlossen worden war.
Mustafa Terjoong stand kurz vor dem Ziel. Noch einmal ließ er sein bisheriges Leben Revue passieren. Geboren als Sohn einer Hure im Hafenviertel von Alexandria hatte er es nie leicht gehabt. Schon früh musste er lernen sich durchzusetzen. Seine Karriere begann im Alter von fünf Jahren, als er bei einem Taschendieb in die Lehre ging, der sich seiner angenommen hatte. Seinen Erzeuger hatte er nie kennen gelernt, und so wurde der flinke Ali so etwas wie ein Ersatzvater.
Später verlegte sich der junge Mustafa auf Einbrüche, Autodiebstähle und Falschspielerei. Rund zehn Jahre verbrachte er hinter Gefängnismauern. Am Tage seiner Entlassung schwor er sich, dass er nie wieder eine Zelle von innen sehen würde, verschwand aus Alexandria nach Kairo und legte sich kurzerhand den Nachnamen des Holländers zu, dessen Samen er entsprungen war.
Eines Tages sah er ein junges Mädchen, als er vor der Universität herumlungerte. Ali hatte ihm nicht nur beigebracht, die Taschen anderer Leute zu leeren, er lehrte ihn auch Lesen und Schreiben. Dass er die Universität niemals als Student betreten würde, war ihm klar, aber Mustafa kam von nun an jeden Tag, um das Mädchen zu sehen, in das er sich unsterblich verliebt hatte. Er verfolgte es und fand heraus, dass Rachel die Tochter eines reichen, jüdischen Kunsthändlers war. Das stellte ihn vor ein großes Problem; ihr Vater würde niemals in eine Heirat einwilligen. Dennoch machte er sich an sie heran und verführte Rachel auf dem wackligen Bett seines schäbigen Zimmers. Das blieb nicht ohne Folgen, indes hatte Mustafa das Kind nie gesehen – er machte sich vorher aus dem Staub ...
In Kairo hatte er Anschluss an eine Bande von Fälschern und Kunstdieben gefunden und erklomm innerhalb der Organisation, die von einem alten Franzosen geleitet wurde, schnell die Karriereleiter.
Etienne Muller gefiel der junge Araber, der schnell begriff, worauf es in diesem Gewerbe ankam, und er machte ihn zu seinem Stellvertreter. Nach dem Tod des Franzosen übernahm Mustafa die Bande als Chef, und unter seiner Führung gelangen ihnen einige der spektakulärsten Raubzüge im Nahen Osten und Europa. Kein reicher Sammler, kein Museum blieb von ihnen verschont. Sie stahlen ein Vermögen zusammen; die Beute wurde auf dem Schwarzmarkt verkauft.
Schließlich flog die Bande auf, und Mustafa musste fliehen – mit nichts als dem, was er auf dem Leib trug. Auf Umwegen gelang ihm die Flucht nach Marrakesch, wo er abgerissen auftauchte und innerhalb kürzester Zeit eine neue Bande aufbaute.
Diesmal mit noch mehr Erfolg. Marrakesch war von jeher ein Umschlagplatz für gestohlene Waren, insbesondere für Kunstgegenstände, deren rechtmäßige Besitzer um den Verlust trauerten. Es war Gewohnheit geworden, dass sie Vertrauensmänner herschickten, um ihr Eigentum gegen Zahlung eines horrenden Lösegelds wiederzubekommen.
Und so ein Vertrauensmann war dieser Ken Norton. Sein Pech nur, dass Mustafa Terjoong inzwischen ganz andere Erfahrungen gemacht hatte.
Bei einem der Einbrüche in das Haus eines reichen Marokkaners war seinen Männer ein Buch in die Hände gefallen, das sie nur mitgenommen hatten, weil es, mit Edelsteinen besetzt, kostbar ausgesehen hatte. Erst nach ein paar Wochen begann Terjoong darin zu blättern, und was er las, kam ihm einer Offenbarung gleich. Das Buch, kunstvoll mit der Hand geschrieben, in einer Schrift, deren Entzifferung ihm Mühe machte, handelte von alten Mysterien, dunklen Kulten und blutigen Ritualen. Der rote Faden, der sich durch das Werk zog, war ein Name – My-Tharn-yarl, Gott der Dämonen, Erschaffer des Reiches der Finsternis.
Mustafa war so fasziniert von dem, was er las, dass er das Buch kaum noch aus der Hand legte. Während seine Bande weiterhin ihrem einträchtigen Geschäft nachging, studierte er Tag und Nacht die Schrift, und dann, eines Tages, wagte er den ersten Schritt.
Er suchte und fand andere, die dazu gehörten, und brachte während eines Aufnahmerituals das geforderte Menschenopfer, um sich würdig zu erweisen. Dann tauchte er in die andere Welt ein.
Fortan war er ein getreuer Diener des Kultes, der auf der ganzen Erde verbreitet war, und von dem doch so gut wie niemand etwas wusste.
Zumindest kein Außenstehender, denn die Mitglieder dieser geheimen Bruderschaft mussten bei ihrem Leben schwören, zu niemandem ein Wort über das zu sagen, was sie verband.
De Chanfray gehörte ebenfalls dazu. Sie hatten sich vor Jahren kennen gelernt, und der Franzose prahlte damit, dass er im Besitz des göttlichen Zepters sei. Er hatte es dem Araber sogar gezeigt, ohne zu ahnen, was er damit auslöste. Mustafa selbst war nach Frankreich gereist, hatte den Grafen bei dem Ritual gestört und den wertvollen Gegenstand gestohlen. Jetzt gehörte er ihm, und nichts und niemand würde ihn daran hindern, mit dem Zepter in die Welt zu reisen, in der ihn das erwartete, wonach alle strebten, die dem großen My-Tharn-yarl anhingen – das ewige Leben!
Er drehte sich um und blickte auf den Engländer. Ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Lippen, als er unter den Umhang griff und einen Dolch hervorzog. Leise sprach er die magischen Worte, mit denen er My-Tharn-yarl anrief.
Ken spürte den Schmerz an der Schläfe, wo ihn der Schlag getroffen hatte, und dieser Schmerz holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Blinzelnd öffnete er die Augen. Wie durch einen Schleier sah er Terjoong und den Dolch in dessen Hand. Der Anthropologe zerrte an seinen Fesseln, doch es war unmöglich, sie zu sprengen. Mustafa holte aus, und der Dolch sauste nieder.
„Herrscher der Finsternis, nimm dieses Opfer gnädig an“, brüllte er mit einem fanatischen Gesichtsausdruck. „Für My-Tharn-yarl!“
Das Zepter begann unheilvoll zu glühen. Ken spürte den Stoß, und warf sich im selben Moment herum. Der Dolch glitt durch den Stoff seiner Dschellaba und verfehlte das Herz des Engländers.
Ken fiel vom Altar herunter und landete schmerzhaft auf dem Boden. Er rollte sich von dem fanatischen Mann fort, der ein Ritual in Gang gesetzt hatte, das unter allen Umständen beendet werden musste.
Mustafa Terjoong stieß einen Schrei aus. Das Glühen des Zepters hatte zugenommen; es schien, als sende seine Spitze unsichtbare Strahlen aus. Geblendet schloss der Araber die Augen und sank auf die Knie. Er wusste instinktiv, dass er seine Chance vertan hatte. Irgendetwas war schiefgegangen. Der Dämonengott war nicht gnädig gestimmt; er hatte das Opfer abgelehnt und nun würde er ihn, Mustafa, dafür bestrafen.
Ein Blitzstrahl ging von dem Kristall des Zepters aus. Er traf Terjoong, der winselnd zu Boden ging, die Arme schützend um den Kopf gelegt. Ein Zucken ging durch seinen Körper, dann lag er still da und rührte sich nicht mehr.
Ken versuchte, sich aufzurichten. Den Anschlag auf sein Leben hatte er überlebt, aber noch war er nicht außer Gefahr. Der unheimliche Strahl, der von dem Zepter ausging, wanderte durch die Halle, als sei er auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Dabei wurden die Samtvorhänge in Brand gesetzt, und als hätten Geisterhände sie wieder entzündet, loderten die Feuerschalen hell auf.
Beißender Rauch stieg auf. Ken hustete, als er ihm in Rachen und Nase drang. Kniend sah er den Strahl auf sich zukommen, duckte sich instinktiv und konnte doch nicht verhindern, dass er getroffen wurde. Wie ein elektrischer Schlag durchströmte es seinen Körper.
Der Engländer wand sich unter dem unsagbaren Schmerz, der sein Denken lähmte.
Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
*
„Madame Bourgardez?“, rief Jean Picard verhalten in den dunklen Flur hinein.
Keine Antwort.
„Was ist?“, knurrte John Buchannan. „Ich denke, wir werden erwartet?“
Der Franzose zuckte die Schultern.
„Eigentlich schon“, antwortete er. „Ich habe vor ein paar Stunden noch mit Madame telefoniert. Gleich, nachdem ich Sie angerufen hatte. Ich verstehe das überhaupt nicht.“
„Lassen Sie mich mal durch“, meinte der Ire und schob Picard beiseite. Seine Hände tasteten die Wand neben der Tür ab und suchten nach einem Lichtschalter. Als John ihn endlich fand und herumdrehte, blieb es trotzdem dunkel.
Charles M. Webber stand draußen und spähte mit ängstlichem Gesicht hinein. Ihm war es nicht geheuer zu Mute; was sein Boss ihm über diese Frau erzählt hatte, die sie besuchen wollten, hatte bei ihm eine Gänsehaut erzeugt, die er immer noch spürte.
„Was haben Sie vor?“, fragte Picard, als der Ire weiterging.
„Nach Madame Bourgardez suchen“, erwiderte John. „Vielleicht ist ihr was zugestoßen. Wir müssen uns doch davon überzeugen, dass es ihr gut geht.“
„Sir“, rief sein Geschäftsführer, „wenn es Ihnen recht ist, würde ich lieber hier draußen warten.“
„Ist schon okay“, antwortete John und gab dem Franzosen einen Wink. „Kommen Sie, Picard, Sie kennen sich doch hier aus.“
Er hatte sein Feuerzeug aus der Tasche gezogen. Die Flamme spendete nur spärliches Licht. Immerhin soviel, dass der Ire den Treppenaufgang sehen konnte. Der Whiskyfabrikant hatte plötzlich einen unbestimmten Verdacht.
„Geht’s dort zum Schlafzimmer?“, fragte er.
Jean Picard nickte. Gleichzeitig machte er ein entsetztes Gesicht.
„Sie wollen doch nicht so einfach das Schlafzimmer einer Frau betreten?“
John Buchannan grinste.
„Warum nicht?“, entgegnete er. „Sie als Franzose müssten doch dafür Verständnis haben.“
Die Stufen knarrten, als er nach oben ging. Bereits auf der Treppe nahm er den Brandgeruch wahr. Auch Picard schien etwas in die Nase zu ziehen. Er zupfte John am Ärmel.
„Genau wie damals“, flüsterte er.
Wieder stand das grauenhafte Bild vor ihm, das er seitdem unzählige Male gesehen hatte ...
Der Ire nahm die letzten Stufen mit einem Satz und riss die Tür auf. Im Halbdunkel bot sich ihm ein entsetzlicher Anblick.
Auf ihrem Bett lag Valerie Bourgardez. Der Unterleib war schwarz und verkohlt, die Beine hingegen waren unversehrt. Ebenso wie ihr Oberkörper. Das Feuer musste von innen heraus gekommen sein. Dort, wo sie verbrannt war, hatten auch das Laken und die Matratze Brandstellen und schwarze Flecke. Das Unglaublichste aber war das Gesicht der Frau. Es war geschminkt, die Augen geöffnet, und selbst im Tode strahlte es so etwas wie Erwartung aus. Ein freudiges Lächeln lag in den Zügen der Frau, die bei lebendigem Leib verbrannt war.
Jean Picard drängte hinter John ins Zimmer. Es stieß einen Fluch aus, als er die Tote sah.
„Es ist wieder geschehen!“, kam es leise über seine Lippen.
John Buchannan nickte.
„Ja“, sagte er, „das ist ein klassischer Fall von Selbstentzündung!“
Zum ersten Mal war er auf das Phänomen gestoßen, als er auf einem Flohmarkt ein Buch gekauft hatte, das von unerklärlichen Dingen handelte. Der fünfzehnjährige John hatte bis dahin nie von so etwas gehört. Parapsychologie war für ihn ein Fremdwort gewesen. Doch von jenem Tag an ließ ihn dieses Thema nicht mehr los.
Er kaufte alles, was er darüber fand, und was zunächst wie eine Liebhaberei aussah, wurde im Laufe der Jahre zu einer regelrechten Besessenheit. John Buchannan wurde zu einem Fachmann auf dem Gebiet der Grenzwissenschaften. Sein Vermögen ermöglichte es ihm, weite Reisen zu unternehmen, auch in die abgelegenen Winkel der Erde. Inzwischen besaß er eine große Sammlung nicht nur okkulter Bücher; alte Schriftrollen und Gegenstände gehörten ebenfalls dazu. So manches Völkerkundemuseum hätte den Iren um diesen Schatz an Fetischen, Kultgefäßen, Zaubermedaillons und was es dergleichen mehr gab beneidet – wenn John seine Leidenschaft publik gemacht hätte. Doch er frönte ihr im Geheimen, und nur wenige Freunde wussten davon.
Die spontane Selbstentzündung war ein Phänomen, das in der einschlägigen Literatur immer wieder abgehandelt wurde. Es gab zahlreiche Belege, Zeugenaussagen dafür, dass sie keinesfalls ins Reich der Fantasie gehörte, wie es einige „ernsthafte“ Wissenschaftler immer wieder behaupteten. John wusste, dass alle diese Berichte einen realistischen Hintergrund hatten, und mit Jean Picard stand einer dieser Augenzeugen neben ihm.
Er hatte die Bekanntschaft des Franzosen gemacht, nachdem John in einem Magazin, das sich ausschließlich dem Thema Grenzwissenschaften widmete, einen Artikel über spontane Selbstentzündung gelesen hatte. Picard wurde darin erwähnt und zitiert. Über das Magazin setzte sich John mit dem Franzosen in Verbindung, und nach einem regen Briefwechsel und zahlreichen Telefonaten war dieses Treffen hier arrangiert worden.
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Jean Picard. „Wir müssen die Polizei holen!“
Der Ire schüttelte den Kopf.
„Noch nicht“, antwortete er. „Ich würde mich gerne erst einmal ein bisschen umsehen.“
„Umsehen? Was glauben Sie hier zu finden?“
John zuckte die Schultern.
„Keine Ahnung. Aber wenn ich schon mal die Gelegenheit habe, dann will ich sie auch nicht verpassen. Wer weiß – vielleicht fördern wir etwas zu Tage.“
Picard sah ihn misstrauisch an.
„Sie denken an etwas Bestimmtes?“
Der Ire erwiderte seinen Blick und nickte.
„Überlegen Sie mal, Jean“, nannte er den Franzosen beim Vornamen. „Sie selbst sind doch auch ein Suchender. Sie kennen die ganzen Geschichten, die über dieses Phänomen kolportiert werden. Vielleicht finden wir irgendeinen Beweis, dass es keine Märchen sind, die immer wieder in Büchern und Zeitschriften auftauchen.“
„Ich weiß aber auch noch etwas anderes, John“, entgegnete Picard geheimnisvoll.
„Dann heraus mit der Sprache!“
„Kennen Sie den Kult um My-Tharn-yarl?“
Die Stimme des Franzosen war zu einem Flüstern gesenkt.
„Kennen Sie die Geschichte, die sich um den Dämonengott und seine Anhänger rankt? Es heißt, wenn sie sterben haben sie das ewige Leben erreicht. Aber nicht so, wie es die christlichen Religionen lehren. Es ist ein unheilvolles Dasein. Die Anhänger des Dämonengottes werden zu seinen Kreaturen, dazu verdammt, ihm für alle Zeiten zu dienen. Selbst wenn sie wollten – sie könnten nicht sterben. Sie leben im wahrsten Sinne des Wortes ewig und suchen neue Opfer, um die Macht My-Tharn-yarls zu mehren und zu festigen. Sie sind in ihrem Wahn so verblendet, dass sie bereit sind, ihrem irdischen Leben ein Ende zu setzen, um ihm als Untote zu dienen.“
John Buchannan nickte unmerklich.
Er hatte von diesem Kult gehört. Bruchstückhaft drang trotz aller Geheimhaltung immer wieder einmal etwas darüber in eingeweihte Kreise. Der Kult um My-Tharn-yarl sollte so alt wie die Menschheit sein. Manche behaupteten sogar, noch viel älter, ja, er stamme aus einer ganz anderen Welt, deren Existenz sich niemand vorzustellen vermochte.
„Sie glauben, das hier könnte was damit zu tun haben?“, fragte er. „Madame Bourgardez war eine Anhängerin des Dämonengottes?“
„Ja, John, das fürchte ich ...“
Sie sahen sich in dem Zimmer um. Außer dem Bett standen ein Schrank und eine Kommode darin. Der Schrank enthielt Kleider und Wäsche der Toten, in der Kommode fanden sie Bettzeug und Handtücher.
„Schauen wir uns unten um.“
Picard folgte dem Iren, nachdem sie einen letzten Blick auf die Frau im Bett geworfen hatten. Valerie Bourgardez’ Gesicht machte wirklich den Eindruck, als habe sie es nicht erwarten können zu sterben.
*
Sie stiegen die Treppe hinunter und durchsuchten die unteren Räume. Alles wirkte wie ein typischer Haushalt, in dem eine Frau allein lebte. In der Küche hingen getrocknete Kräuter, darunter ein großer Strauß Lavendel. Eine angebrochene Flasche Wein stand auf dem Tisch. Beides erinnerte John daran, dass sie sich in Südfrankreich befanden, wo die Lust am gutem Wein und gutem Essen dazugehörte, wie überhaupt die Lust zu leben.
John öffnete den Küchenschrank und fand in einer Schublade eine Taschenlampe.
„Na also“, meinte er zufrieden, als er sie erprobte und ein Lichtstrahl über Picard wanderte.
Im Wohnzimmer machten sie eine interessante Entdeckung.
Es war mit einfachen Möbeln ausgestattet, die gesamte rechte Wand nahm ein bis an die Decke reichendes Regal ein, das mit Hunderten von Büchern bestückt war. Die einschlägigen Titel waren ihnen nicht unbekannt; die Bücher handelten ausnahmslos von Parapsychologie, Okkultismus und verwandten Themen.
„Sieh an“, murmelte John, „Madame kannte sich aus.“
Sie nahmen einzelne Exemplare heraus und blätterten sie kurz durch.
„Hier werden wir nicht die gesuchten Hinweise finden“, meinte der Ire. „Lassen Sie uns in den Keller gehen.“
„Was ist mit Monsieur Webber?“, fragte der Franzose.
„Ach du lieber Gott!“, rief der Ire. „Den hab’ ich ja ganz vergessen.“ Doch dann winkte er ab. „Egal, die paar Minuten wird er schon noch warten können.“
Der kleine Engländer war unterdessen vor dem Haus auf und ab gegangen. Was drinnen geschah, ahnte er nicht. In Gedanken war Webber bei dem Vertrag mit den Chinesen. Natürlich würde er den Geschäftspartnern in Fernost nicht erklären, sie sollten sich zum Teufel scheren und ihren Whisky bei den Schotten kaufen. Von diesem Auftrag hingen immerhin einige hundert Arbeitsplätze ab und er sicherte die Existenz der Firma für mindestens die nächsten sechs Jahre.
Charles M. Webber sah sich um. Er würde froh sein, wenn sein Boss endlich mit dem Besuch hier fertig war und sie ins Hotel zurückkehren konnten. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und wollte so schnell wie möglich ins Bett.
Allerdings stand davor noch die Einladung von Mr. Buchannan zu einem Drink an der Bar.
Er dachte mit einem leisen Grauen daran, wie lange solche „Besprechungen“ immer dauerten.
Vor allem, wie sie endeten ...
Trotz der Tatsache, dass er Geschäftsführer einer Whiskyfabrik war, bevorzugte Webber guten Portwein – bloß, dass Buchannan davon nichts wissen durfte ...
Zur selben Zeit stiegen der Ire und der Franzose in den Keller hinunter. Die Treppe knarrte unter ihren Schritten. Hier unten roch es muffig. Sie erblickten einen Stapel alter Kartons, der im Gang vor ihnen stand, daneben einen Weidenkorb mit leeren Weinflaschen. Offenbar war Madame eine Frau mit Geschmack gewesen, wie John nach einem schnellen Blick auf ein paar Etiketten feststellte. Es handelte sich ausnahmslos um teure Lagen, die Valerie Bourgardez verkonsumiert hatte, darunter ein dreißig Jahre alte „Château Petrus“.
John ließ den Strahl der Taschenlampe weitergleiten. In einem kleinen Raum stand eine Waschmaschine, und ein paar schmutzige Wäschestücke lagen auf einem wackligen Tisch. Im nächsten Raum fanden sie alte Möbel, die Madame ausgelagert hatte. Nichts von Bedeutung. Sie gingen weiter den Gang hinunter und stießen auf eine Tür. Entschlossen drückte der Ire die Klinke herunter und öffnete sie. Er trat ein – und prallte zurück.
Der Raum dahinter unterschied sich von denen, die sie bisher durchsucht hatten. Seine Wände waren mit dunklem Samt verkleidet, zwei Feuerschalen auf hohen Ständern brannten. Ihr Licht flackerte unheilvoll über den Samt und warf bizarre Schatten. Der Boden des Raumes war mit sonderbaren Zeichen bedeckt.
Magischen Zeichen, wie John bemerkte. Unter einem Fenster, das mit einer schwarzer Folie oder einem Papier beklebt war, befand sich ein Tisch, der wie ein Altar hergerichtet war.
Doch das alles hätten den Iren nicht so schockieren können, wie der Anblick der sich ihm noch bot ...
Vor ihm stand – die tote Besitzerin des Hauses!
Mit einem schnellen Blick erfasste John die Situation. Nicht aber der Franzose, der hinter ihm eingetreten war. Picard stieß einen entsetzten Schrei aus und wollte zurückweichen. Doch im selben Moment schlug die Tür hinter ihnen zu.
Valerie Bourgardez schien völlig unversehrt, als sie auf die beiden Männer zuschritt. Nichts an ihrer Erscheinung erinnerte an das grauenhaft Bild, das ihnen noch im Gedächtnis haftete. Sie trug ein schwarzes Gewand, darunter das Kleid, mit dem sie auf dem Bett gelegen hatte. Jetzt war nichts davon zu sehen, dass es in der Mitte verbrannt gewesen wäre.
Ein Trugbild?
Während Jean Picard an der Tür rüttelte und wie ein Wahnsinniger brüllte, er wolle hier raus, überlegte John Buchannan fieberhaft.
War diese Gestalt real, oder narrte sie ihr Verstand?
„Sie sind Untote“, erinnerte er sich an die Worte des Franzosen.
War Valerie Bourgardez tatsächlich oben in ihrem Schlafzimmer gestorben und hatte somit den Wandel vollzogen? Hatte sie den Schritt gewagt und lebte jetzt als Geist, Dämon oder was auch immer weiter?
„John, die verdammte Tür. Ich kriege sie nicht auf“, jammerte Jean Picard.
Der Ire hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war von dem Anblick, der sich ihm bot, abgestoßen und fasziniert zugleich. Für einen Moment durchzuckte ihn die Erinnerung an einen Aufenthalt in Tahiti. Damals hatte er an einer Zeremonie teilgenommen, bei der ein angeblich Toter wieder erweckt wurde. Der Zombie hatte drei Wochen in seinem Grab gelegen, ehe man ihn wieder ausgrub und ein „Zauberdoktor“ ihn aus dem Totenreich zurückholte.
War das hier ein ähnliches Phänomen? Oder waren sie vielleicht nur auf einen billigen Trick hereingefallen?
Nach eigenem Bekunden hatte Picard die Frau noch am Abend angerufen. Vielleicht hatte sie sich ja das alles hier nur ausgedacht, um den neugierigen Iren zum Narren zu halten. Möglicherweise stimmte die ganze Geschichte von Anfang an nicht. Picard konnte ja auch ein Aufschneider sein, der sich lediglich mit einem angeblichen Erlebnis interessant machten wollte, und die beiden hatten sich das alles hier nur ausgedacht. Immerhin war es möglich, dass die Bourgardez ihm im Schlafzimmer eine tolle Maskerade vorgespielt hatte, und während er und der Franzose sich im Wohnzimmer aufhielten, war sie hier herunter geschlichen, um auf das Ganze noch ein i-Tüpfelchen zu setzen.
All dies ging ihm in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf, doch in seinem Innersten wusste John, dass dies nur Wunschdenken war. So unglaubwürdig diese Situation war, so real war sie zugleich.
Und Valerie Bourgardez kam auf sie zu.
Sie hatte beide Arme ausgestreckt, als wollte sie einen lang ersehnten Liebhaber umarmen. Dabei blickten ihre Augen fanatisch.
„Kommt zu mir, meine Freunde“, kam es über ihre Lippen. „Die Stunde ist da, dem großen Gott zu huldigen. Der Herrscher über das Reich der Finsternis wird das Opfer gnädig annehmen und mir die Gunst des ewigen Lebens erweisen.“
„Vorsicht, John!“, rief Picard.
Der Ire sah es im selben Moment. Die Untote hielt wie durch Zauberei ein Messer in der Hand, das im Schein der flackernden Feuerschalen blitzte.
John fluchte. Er war ein geübter Kämpfer, der im Zuge seiner vielen Reisen schon in manch haarsträubende Situation geraten war. Immer war es ihm gelungen, sich wieder daraus zu befreien. Doch heute hatte er sich zu einer harmlosen Unterhaltung auf den Weg gemacht. Sich dafür zu bewaffnen war ihm nicht in den Sinn gekommen. Zudem war ihm klar, dass es gegen diese Frau keine Waffe im herkömmlichen Sinne gab.
Zombies, Untote, Vampire und Werwölfe – gegen sie waren Kugeln aus einer Pistole unwirksam. Kreuze, Weihwasser, Silberkugeln oder magischen Amulette mochten ihren Zweck erfüllen, doch solch eine Waffe stand ihm jetzt nicht zur Verfügung.
Nein, hier half nur körperliche Gewalt!
Die Frau war bis auf einen Schritt herangekommen. Das Messer hielt sie drohend auf den Iren gerichtet. Picard versteckte sich hinter Johns breitem Rücken und zitterte wie Espenlaub. Er kannte Valerie Bourgardez als eine reizende Frau. Oft hatten sie ein Gläschen Wein zusammen getrunken und sich über das damalige Geschehen unterhalten.
Wäre sie ein paar Jahre jünger gewesen ...
Manchmal hatte er sich vorgestellt, was dann zwischen ihnen hätte geschehen können. Doch jetzt war von all der Sympathie, die sie für einander gefühlt hatten, nichts mehr zu spüren, und was hier in diesem Keller geschah, ging über seinen Verstand.
John hob blitzschnell die Hand und schlug mit der Faust nach dem Unterarm der Angreiferin. Sie gab einen keifenden, ärgerlichen Laut von sich und wich einen Schritt zurück. Der Schlag musste schmerzhaft gewesen sein, doch sie zeigte keinerlei Reaktion. Nicht einmal das Gesicht verzog die Frau. Dafür formten ihre Lippen unhörbare Worte. In ihren Augen schien ein Feuer zu glimmen, und schlagartig herrschte in dem Kellerraum eine unwirkliche Atmosphäre.
Der Ire spürte, wie sich ein eisiges Gefühl seiner bemächtigte. Es kroch von den Füßen her die Beine hinauf, erfasste seinen ganzen Körper und machte ihn unfähig, sich zu bewegen. Von irgendwoher ertönte ein Schrei. Im Unterbewusstsein registrierte er, dass es Jean Picard gewesen war, der ihn ausgestoßen hatte. Offenbar geschah mit dem Franzosen genau dasselbe.
Es war, als würden sie versteinern, und der Ire wurde unwillkürlich an die Sage der Medusa erinnert, die Frau mit den Schlangenköpfen anstelle der Haare. Jeder Mensch, der sie ansah, wurde zu Stein ...
Valerie Bourgardez hatte den Mund weit geöffnet. Mit Entsetzen sah John Buchannan, dass etwas daraus hervorquoll. Die beiden Männer wurden von grünem Nebel eingehüllt; die Untote schwand aus ihrem Sichtfeld.
Mit einer Gewaltanstrengung, zu der nur jemand in der Lage ist, der sich in einer ausweglosen Situation befindet, überwand John Buchannan die Starre, die ihn erfasst hatte, und stieß sich nach vorn. Der Nebel formierte sich zu einer Gestalt. Der Ire blickte in ein grauenhaftes Gesicht. Der Anblick raubte ihm fast den Verstand. Es schien, als sei einer der Dämonen lebendig geworden, deren Abbildungen er in zahlreichen seiner Bücher gesehen hatte.
Doch dies war keine Abbildung. Er fühlte sich gepackt und mitgezogen, ein Gefühl, als schwebe er in der Luft. Das letzte, was er sah war, dass Jean Picard ebenfalls zu schweben schien. Dann tauchte er ein in ein Meer aus blitzenden Sternen, und sein Denken setzte aus.
*
Rhonda McFarlayn erwachte aus einem unwirklichen Traum. In ihm war sie vor einem Werwolf geflohen, der sie durch einen dichten Wald verfolgt hatte. Ganz deutlich hatte sie den animalischen Geruch in der Nase gehabt, das Keuchen gehört, das Fell des Untiers im hellen Licht des Vollmonds glänzen sehen.
In letzter Sekunde hatte sie ein Unbekannter gerettet. Wie aus dem Nichts war die dunkle Gestalt vor ihr aufgetaucht und hatte sie in seine Arme gerissen.
Doch die scheinbare Rettung erwies sich als tragischer Irrtum, denn im nächsten Moment sah sie sein bleiches Gesicht, die spitzen Zähne, die aus seinem aufgerissenen Mund hervorlugten, und sie spürte sie schon an ihrer Halsschlagader.
Einen Augenblick später klingelte ein Telefon, und der Vampir ließ von ihr ab. Mit einem gemurmelten „Sorry“ holte er ein Handy unter seinem Umhang hervor – und Rhonda wachte auf.
Das Klingeln ihres Telefons, das neben ihrem Bett auf dem Nachttisch stand, hatte sie geweckt. Die rothaarige Frau brauchte einen Augenblick, um das zu begreifen.
„Blöder Traum!“, sagte sie ärgerlich, während sie nach dem Hörer griff.
Vielleicht sollte ich endlich mal etwas anderes schreiben als dieses übersinnliche Zeug, dachte die Journalistin. Kein Wunder, dass mich das selbst im Schlaf noch verfolgt.
Die sechsundzwanzigjährige Rhonda McFarlane arbeitete für das Magazin ‚mystery news’. In ihren Artikeln griff sie immer wieder grenzwissenschaftliche Themen auf und beschäftigte sich mit alten Mythen. Werwölfe und Vampire waren für sie ebenso real wie sie der Überzeugung war, dass der Mythos um den versunkenen Kontinent Atlantis einer wirklichen Geschichte entsprang. Ihre Artikel waren gründlich recherchiert und kamen bei den begeisterten Lesern an. Aus diesem Grunde hatte Rhonda bei ihrem Verleger auch einen Stein im Brett und konnte bei ihm Projekte durchsetzen, die ein anderer mit Sicherheit abgelehnt hätte.
„Miss McFarlane?“, hörte sie eine Stimme mit ausländischem Akzent. „Mein Name ist Ilunesco. Sie erinnern sich?“
Die Journalistin war sofort hellwach. Seit sie für das Magazin schrieb, hatte sie eine Menge Kontakte aufgebaut. Immer wieder gaben ihr Leute wertvolle Hinweise auf außergewöhnliche Ereignisse, und manch einer von ihnen meldete sich auch zu außergewöhnlichen Zeiten bei ihr. Mit Ilunesco hatte sie schon öfter in Kontakt gestanden. Der Rumäne hatte sich bei der Zeitschrift gemeldet, als Rhonda einen Artikel über Graf Dracula veröffentlicht hatte. Ihrer Meinung nach war an dem Mythos um den blutigen Karpatenfürsten mehr dran als Historiker wahrhaben wollten. Zunächst hatte der Rumäne nur vage Hinweise gegeben. Einer sprach von einem Grab, in dem tatsächlich ein Vampir gebannt worden sein sollte. Es sollte einige Jahrhunderte alt sein und sich versteckt in einem kleinen Dorf in den Bergen befinden.
„Natürlich erinnere ich mich“, antwortete sie. „Was gibt es denn so Dringendes, dass Sie mitten in der Nacht anrufen?“
Ein Blick auf den Wecker hatte ihr gezeigt, dass Mitternacht bereits vorüber war.
„Ich komme gerade von einer Erkundungstour zurück“, erklärte der Rumäne. „Das Dorf, von dem ich Ihnen erzählt habe ... ich war dort. Ich habe das Grab gesehen ...“
Ruckartig setzte sich Rhonda auf. Mehrmals hatte Ilunesco Andeutungen gemacht, war aber nie so richtig konkret geworden. Die Engländerin hatte ihn aufgefordert, Beweise vorzulegen, ihm sogar angeboten, selbst nach Rumänien zu kommen. Der Rumäne war immer wieder ausgewichen. Sein wichtigstes Argument war, dass sich die Bewohner des Dorfes, welches sich tief in den Karpaten befand, von der Außenwelt abschotteten und allen Fremden gegenüber äußerst misstrauisch seien.
Seine Informationen waren zunächst nur spärlich gewesen, doch dann hatte Ilunesco versprochen, Rhonda dorthin zu führen.
„Können Sie herkommen?“, fragte er.
„Natürlich“, erwiderte sie. „Wir haben ja schon mehrfach darüber gesprochen.“
„Gut, dann erwarte ich Sie in Bukarest. Wann werden Sie eintreffen?“
„Wenn alles klappt, morgen Abend.“
„Ich werde am Flughafen sein.“
Sie drückte die Gabel hinunter und wählte gleich wieder.
„Sie müssen einen sehr guten Grund haben, dass Sie mich mitten in der Nacht wecken“, knurrte Roger Foltham ungehalten.
„Den hab ich, Boss“, antwortete Rhonda fröhlich. „Ich wollte Sie zu einem Frühstück einladen. Oder einem verspäteten Dinner. Ganz wie Sie es sehen wollen.“
„Treiben Sie keine üblen Scherze, sonst fliegen Sie!“
„Genau das hatte ich vor“, entgegnete sie keck. „Nach Rumänien nämlich ...“
„Ihr Informant hat sich gemeldet?“, fragte der Verleger sofort.
„Gerade eben.“
„Gut, Rhonda, dann machen Sie sich mal auf den Weg. Guten Flug, und passen Sie auf sich auf.“
„Mach ich, Boss. Ich melde mich, sobald ich gelandet bin.“
Sie legte auf und sprang aus dem Bett. Zum Schlafen war sie jetzt viel zu aufgeregt. Stattdessen lief sie in die Küche ihres kleinen Apartments und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Während sie auf den ersten Schluck wartete, machte sie sich schon daran, den Koffer vom Kleiderschrank zu holen und ein paar Sachen einzupacken.
Ilunesco hatte immer vielversprechend geklungen. Seinen Worten nach hatte es vor gut zweihundert Jahren in dem Dorf einen Fall von Vampirismus gegeben. Ein alter Mann war gestorben und beerdigt worden. Zwei Tage später wollte jemand den Toten gesehen haben, wie er nachts um sein Haus schlich. Zunächst schenkte man dem Zeugen keinen Glauben, doch dann mehrten sich unerklärliche Todesfälle in dem Dorf. Menschen starben auf rätselhafte Weise. Sie wurden in der Nähe des Friedhofs gefunden, blutleer und mit entsetzlichen Zügen im Gesicht, als hätten sie in ihrer letzten Stunde dem Grauen ins Auge geblickt. Man legte sie in ihre Gräber, aus denen sie nach kurzer Zeit wieder hervor krochen. Bald wurden die Behörden auf die Ereignisse aufmerksam und eine Kommission wurde in das Dorf geschickt, die diese mysteriöse Geschichte untersuchen sollte. Von den drei Männern kehrte niemand in die Hauptstadt zurück. Schließlich rückte Militär an, die Gräber der Verstorbenen wurden geöffnet. Die Toten darin wiesen ausnahmslos die typischen Merkmale eines Vampirs auf. Sie wurden verbrannt, und seitdem herrschte wieder Ruhe.
Niemand ahnte jedoch, dass das Grab des Mannes, der zuerst gestorben war, von den Soldaten übersehen worden war. Nur ein alter Priester wusste davon. Er bannte den Vampir, indem er dessen letzte Ruhestätte mit geweihtem Wasser besprühte, ringsherum Knoblauch pflanzte und ein Kreuz darauf errichtete.
Selbst wenn die Geschichte nicht stimmen sollte, würde sie immer noch eine tolle Story abgeben, dachte Rhonda, als sie am nächsten Morgen zum Flughafen Heathrow fuhr, um nach Rumänien zu fliegen.
Dass sie England, ihr Apartment und die Redaktion der „mystery news“ so bald nicht wiedersehen sollte, ahnte die attraktive Frau in diesem Augenblick nicht ...
*
Das Erste, was er spürte, war ein klopfender Schmerz in seinem Kopf. Ken Norton öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder. Grelles Sonnenlicht blendete ihn. Dann richtete er sich mühsam auf, blinzelte und sah durch einen Schleier, dass er sich nicht mehr in dem Raum befand. Er kniete auf weichem Sand. Verwundert blickte er um sich. Vor ihm breitete sich eine unwirtliche Gegend aus. Gras, Bäume und Sand, soweit das Auge reichte. Hinter ihm ragte ein gewaltiges Gebirgsmassiv in den Himmel.
Wo war er? Wohin hatte ihn Terjoong verschleppt?
Von dem Araber war nichts zu sehen. Ebenso wenig wie von Khalid oder irgendeinem anderen Menschen.
Der Anthropologe stand auf und wischte den Sand von seiner Dschellaba. Noch einmal drehte er sich im Kreis und blickte suchend in alle Richtungen. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand.
Hatten man ihn in den Norden Marokkos gebracht?
Die Berge, das musste das Atlasgebirge sein, überlegte er. Allerdings war es müßig, sich jetzt darüber Gedanken zu machen, warum Mustafa Terjoong ihn hierher hatte schaffen lassen. Im Moment war etwas anderes wichtiger.
Ken spürte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge, seine Kehle war ausgedörrt. Er musste sich auf die Suche nach etwas Trinkbarem machen. Wenn er Glück hatte, stieß er vielleicht auf ein paar Nomaden. Aber dazu musste er erst einmal eine Straße erreichen, auf der eine Karawane zog. Also nach Süden. Dorthin, wo Marrakesch lag.
Er zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf, um sich vor den brennenden Strahlen der Sonne zu schützen, und stiefelte los. Außer ihm schien es in dieser Einöde kein lebendes Wesen zu geben; nicht einmal ein Vogel kreiste am wolkenlosen Himmel.
Ken blickte auf seine Uhr und stellte verwundert fest, dass die beiden Zeiger stehen geblieben waren, exakt um einundzwanzig Uhr dreißig. Zu dem Zeitpunkt etwa, als Terjoong dieses seltsame Ritual in Gang gesetzt hatte.
Verwunderlich daran war, dass die Uhr mit einer Batterie betrieben wurde, welche Ken gerade vor dem Antritt seiner Reise hatte erneuern lassen. Äußerlich zeigte sie auch keine Anzeichen dafür, dass sie kaputt gegangen war; Armband und Glas waren unbeschädigt. Er hatte einfach keine Erklärung für den Defekt.
Eine Stunde etwa marschierte er nach seiner Schätzung, und immer noch zeigte sich kein Mensch. Allmählich wurde der Durst unerträglich. Ken sehnte sich nach einem Schluck Wasser und hoffte inständig, bald einer Karawane zu begegnen oder auf eine Oase zu stoßen. Um sich von dem quälenden Gedanken an etwas Trinkbares abzulenken dachte der Engländer daran, wie er in diesen Schlamassel hineingeraten war.
Die Wohltätigkeitsveranstaltung im Hause Witherspoon lag gerade mal drei Tage zurück. Raymond de Chanfray hatte ihn gedrängt, so rasch wie möglich nach Marrakesch aufzubrechen. Zuvor hatte er sich mit dem Grafen beschäftigt und Erkundigungen über den Mann eingezogen. Viel hatte er nicht erfahren, und nichts war darunter, was darauf schließen ließ, dass de Chanfray dem Kult um My-Tharn-yarl anhing. Dass dem so war, hatte Ken erst von Mustafa Terjoong erfahren. Inzwischen dämmerte ihm, warum der Graf ausgerechnet ihn um Hilfe gebeten hatte. Ken Norton war es zum einen schon mehrfach gelungen, geraubte Gegenstände, vornehmlich wertvolle Altertümer, wieder zu beschaffen, und zum anderen genoss der Engländer den Ruf eines unerschrockenen Mannes, der sich mit Dingen auskannte, über die einige nur hinter vorgehaltener Hand sprachen, und die andere als Unsinn abtaten. Für den Anthropologen waren indes Schwarze Magie und Okkultismus etwas Reales. Seit Jahrtausenden hatten sich Menschen immer wieder mit dem Mythos des Geheimnisvollen umgeben, um andere zu manipulieren und zu unterdrücken. Daran hatte sich von den ersten Schamanen und Medizinmännern primitiver Stämme bis zu den Anführern obskurer Sekten der heutigen Zeit nichts geändert. Ihnen allen war gleich, dass sie Macht ausübten und auch vor Mord nicht zurückschreckten, um ihre Ziele zu erreichen.
Was das Zepter anging, das de Chanfray gestohlen worden war, so musste es damit noch eine andere Bewandtnis haben als die Behauptung, es sei die Blume des Lebens. Ken vermutete, dass das Zepter mit dem Gilgamesch-Epos nur wenig zu tun hatte, sondern vielmehr ein Kultgegenstand der My-Tharn-yarl Anhängerschaft war.
Raymond de Chanfray hatte ihm in diesem Fall nicht die Wahrheit gesagt!
Aus Angst, der Anthropologe könne ihm seine Hilfe verweigern? Oder befürchtete er andere Konsequenzen?
Immerhin waren Eingeweihten die blutigen Rituale bekannt, die innerhalb dieser Sekte durchgeführt wurden. De Chanfray musste also damit rechnen, dass Ken Norton die Behörden einschaltete. Aus diesem Grund hatte er auch die Polizei außen vor gelassen.
Nun, die Suche nach dem Zepter war insofern ein Erfolg gewesen, dass Ken es tatsächlich gefunden hatte. Zurückerhalten hatte es de Chanfray indes nicht, und der Engländer hatte keinen blassen Schimmer, ob es sich immer noch in dem Raum befand, aus dem er auf so merkwürdige Weise verschleppt worden war.
Inzwischen mussten mehrere Stunden vergangen sein. Ken hatte immer wieder kleine Pausen eingelegt, um sich zu erholen. Während er sich weiter schleppte, suchten seine Augen den Horizont nach Anzeichen ab, die auf eine menschliche Ansiedlung schließen ließen. Doch bisher vergeblich, und wieder fiel ihm auf, dass er noch kein einziges Tier gesehen hatte, von einem Menschen ganz zu schweigen.
Langsam sank die Sonne hinter seinem Rücken. Der Engländer wollte am liebsten weiter gehen, doch er zwang sich, eine erneute Pause einzulegen. Er ließ sich zu Boden sinken und schloss die Augen. Seltsame Bilder stiegen vor ihm auf, Hirngespinste, die ihm sein Hunger und der Durst vorgaukelten. Er wusste, dass er nicht einschlafen durfte. Nachts würden die Temperaturen so rapide sinken, dass er sicherlich erfrieren würde. Aber er war so müde, dass er sich nicht dagegen wehrte, als sich seine Augen weigerten, sich wieder zu öffnen.
Plötzlich glaubte er Stimmen zu hören.
Unsinn, dachte er, wo eben noch niemand war, kann auch jetzt keiner sein!
Schließlich hätte er jeden, der sich ihm näherte, schon von weitem sehen müssen.
Doch dann spürte er, wie starke Hände ihn aufrichteten, Irgendjemand hielt ihm etwas an die zerrissenen Lippen, und kühles Nass rann ihm in den Mund.
Ken hustete und schluckte und fühlte, wie das Wasser die ausgedörrte Kehle erfrischte. Er öffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines bärtigen Mannes.
„Danke für Ihre Hilfe“, krächzte er auf Französisch, der Sprache, die beinahe jeder in Marokko verstand. Immerhin hatte das Land jahrzehntelang unter französischem Protektorat gestanden.
Der Fremde indes sah ihn verständnislos an.
Ken versuchte es mit einem der vielen arabischen Dialekte, die er sprach, doch jedes Mal erntete er Kopfschütteln und Schulterzucken, bis er es schließlich aufgab.
Er war gerettet, und das war die Hauptsache!
Nachdem er einigermaßen in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte, bemerkte er, dass sein Retter keineswegs allein war. Rings herum waren zahlreiche Männer damit beschäftigt, ein Lager aufzubauen. Ken sah eine Anzahl Pferde, Packtiere offenbar, die man von ihren Lasten befreit hatte. An einem Feuer wurde ein Spieß aus Ästen montiert, Zelte aufgeschlagen und die Tiere mit Futter versorgt.
Der Mann, der ihm zu trinken gegeben hatte, half ihm aufzustehen und führte ihn zum Feuer. Er lächelte freundlich und vollführte mit der Hand die Geste des Essens. Ken nickte zurück und nahm dankbar eine Schale entgegen, die ihm jemand reichte. Eine rote Flüssigkeit schwappte darin. Als der Anthropologe kostete, stellte er fest, dass es sich um Wein handelte.
*
Während er trank lauschte der Engländer auf die Laute, mit denen die Männer sich unterhielten. Die meisten verstand er nicht, doch waren einige darunter, die er einem indischen Dialekt zuordnen konnte. Diese Entdeckung irritierte ihn. Befand er sich tatsächlich in Indien?
Sein Lebensretter setzte sich zu ihm. Offenbar war er der Anführer der Karawane. Ken blickte auf die Kleidung, die der Mann trug, und stand vor einem neuen Rätsel.
Wie ein Araber war er nicht gekleidet, wie ein Inder aber auch nicht. Sein Äußeres erinnerte eher an einen – Ritter aus dem Mittelalter?
An seiner linken Seite hing sogar ein Schwert!
Er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Der Mann blickte ihn an und legte die rechte Hand auf seine Brust.
„Djuwar.“
Der Engländer begriff und führte seine Rechte ebenfalls zum Herzen.
„Ken“, sagte er.
Djuwar lächelte breit.
„Ken.“
Er winkte seine Männer herbei und deutete auf den Anthropologen.
„Ken“, rief er immer wieder dabei. „Ken.“
Ein Redeschwall prasselte auf ihn nieder, und Norton hatte den Eindruck, dass die Männer sich ihm vorstellten. Namen verstand er allerdings nicht. Er nickte nur zu allem und lächelte. Auf jeden Fall ging von diesem seltsamen Haufen keine Gefahr aus. Gekleidet und bewaffnet waren sie wie ihr Anführer, und ihre Gesichter sahen genauso wild und fröhlich zugleich aus.
Ken zog Djuwar am Arm und deutete in die Richtung, in die er gegangen war.
„Marrakesch?“, fragte er dabei. „Da Marrakesch?“
„Mar...ra...kesch?“, wiederholte der Karawanenführer. Er schüttelte den Kopf.
„Bel-achay“, sagte er dann und deutete in dieselbe Richtung. „Argoon.“
Der Engländer sah ihn verwirrt an. Er wusste mit diesen beiden Namen nichts anzufangen, und Djuwar schien das zu bemerken. Er nahm einen Zweig und begann im Sand zu malen. Zunächst ein paar spitze Dreiecke. Ken verstand, das sollte wohl das Gebirge sein. Aus einem der Dreiecke kam ein wellenförmiger, breiter Strich.
Ein Fluss?
Der Strich beschrieb eine Kurve, wurde noch breiter, verästelte sich und endete irgendwo im Nichts. Hier und da malte Djuwar Punkte auf beiden Seiten des Striches und schrieb Buchstaben in den Sand. Buchstaben, die dem Sanskrit, der alten indischen Sprache, ähnelten. Ken, dem als Anthropologe diese Sprache nicht unbekannt war, entzifferte mühsam Namen wie Argoon, Sherm, Ysmar und Bel-achay.
Er las und begriff nichts!
Vor ihm war eine Landkarte in den Sand gezeichnet, mit der er nichts anfangen konnte.
„Was ist das?“, fragte er auf Sanskrit.
Djuwar schien ihn tatsächlich zu verstehen. Er deutete mit dem Zweig auf den breiten Strich.
„Straße der Legenden, großer Fluss“, antwortete er und bemühte sich dabei, langsam und deutlich zu sprechen. „Königreich Argoon.“
Er deutete auf den Punkt der offenbar eine Stadt bezeichnete.
„Bel-achay.“
Dann das andere Wort.
„Sherm, reiches Land. Ysmar, die goldene Stadt.“
Der Engländer zweifelte an seinem Verstand. Die Namen sagten ihm beim besten Willen nichts. Jedenfalls stammten sie nicht von dieser Welt. Aber was bedeuteten sie?
Inzwischen war das Fleisch auf dem Spieß gar. Auch Ken bekam ein großes Stück davon und noch mehr Wein. Dazu reichte man ihm ein Stück Fladenbrot. Es schmeckte ausgezeichnet, und trotz aller Fragen, die sich ihm aufdrängten, aß Norton und stillte seinen Hunger.
Nach dem Essen führte man ihn zu einem Zelt. Es war mannshoch und relativ komfortabel ausgestattet.
„Schlafen“, bedeutete Djuwar ihm. „Morgen früh aufbrechen.“
Ken nickte und ergab sich in sein Schicksal. Er war müde, glaubte aber dennoch, kein Auge zumachen zu können. Aber als er sich erst einmal auf dem weichen Lager aus Decken und Fellen ausgestreckt hatte, fielen ihm die Augen zu, und er schlief übergangslos ein.
*
„John? John, wachen Sie auf!“
Die Stimme des Franzosen riss den irischen Whiskyfabrikanten aus dem Schlaf. Er öffnete die Augen und sah sich um.
„Was zum Teufel ist das hier?“, fragte er und deutete verwundert auf die Felsen um sie herum.
Jean Picard zuckte die Schultern.
„Eine Höhle vermutlich.“
„Und wie kommen wir hierher?“
Erneutes Schulterzucken beantwortete seine Frage.
John Buchannan richtete sich auf. Der Franzose hockte vor ihm und sah ihn ängstlich an.
„Sind Sie in Ordnung?“
Picard nickte.
„Und Sie?“
„Bis auf dieses merkwürdige Gefühl in den Beinen, ja“, erwiderte der Ire.
„Das geht vorbei. Als ich aufgewacht bin, habe ich es noch eine Weile gespürt, dann war es plötzlich weg. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind und wie wir hierher gekommen sind. Ich bin bloß heilfroh, dass wir diesem Ungeheuer entkommen sind.“
„Madame Bourgardez, ach ja“, nickte John. „Was war das nur für eine verrückte Geschichte?“
„Wenn ich das wüsste! Aber mein Verdacht hat sich bestätigt; die Frau ist, oder war, eine Anhängerin des Dämonengottes.“
„Hoffen wir, dass sie in sein Reich gegangen ist und wir nie wieder was von ihr sehen oder hören“, meinte John. „Jetzt lassen Sie uns erst mal feststellen, wo wir sind und wie wir hier wieder rauskommen.“
Er sah sich um.
„Die Höhle ist ja gewaltig. Da könnte man ja glatt ein ganzes Schlachtschiff drin verstecken.“
Mit dieser Behauptung hatte John Buchannan nicht übertrieben. Die Ausmaße der Höhle war wirklich gewaltig. Hoch über ihnen wölbte sich die Decke, die Wände waren glatt, ebenso der Boden. Indes gab es ein weiteres Rätsel – trotz der Tatsache, dass sie sich in einem fensterlosen Raum befanden, herrschte keine Dunkelheit darin. Ein seltsames Leuchten ging von den Wänden aus und erhellte die Höhle, als würden irgendwo verborgene Lampen brennen.
Auf der gegenüberliegenden Seite klaffte die Öffnung eines Ganges. John deutete darauf.
„Also los, versuchen wir unser Glück“, meinte er und setzte sich in Bewegung.
Jean Picard folgte ihm dichtauf. Der Gang war mehr als mannshoch und breit genug, dass zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Seine Wände leuchteten ebenfalls. Indes zog er sich scheinbar unendlich dahin; John war sicher, schon etliche Kilometer zurückgelegt zu haben, als sich vor ihnen eine weitere Höhle auftat. Doch diesmal stockte ihn der Atem.
„Das gibt’s doch gar nicht!“, stieß der Ire hervor und starrte gebannt auf einen Haufen, der blitzte und leuchtete.
„Mon Dieu!“, rief Picard ebenso verblüfft. „Ein Schatz! Wir haben einen Schatz gefunden!“
Truhen, aus denen goldene Münzen hervorquollen, Schmuck, goldene Pokale und silberne Ziergefäße, Edelsteine so weit das Auge sehen konnte. Es war unfassbar – dieser Schatz musste ein Vermögen wert sein!
Wie ein Verrückter sprang Jean Picard auf den Berg aus Gold und Silber und hüpfte darauf herum. Mit beiden Händen griff er in die Taler und warf sie hoch in die Luft, sodass sie klirrend auf den Boden der Höhle zurückfielen.
“John, wir sind reich“, brüllte er dabei. „Reich, reich, reich!“
Der Ire war weniger euphorisch, eher pragmatisch.
„Wem gehört wohl das ganze Zeug?“, fragte er laut.
„Wem?“
Der Franzose sah ihn ungläubig an.
„Uns natürlich. Wir haben es ja schließlich gefunden.“
John Buchannan griff ein paar Münzen und sah sie an. Dann schüttelte er den Kopf.
„Keine Währung, die ich kenne“, meinte er. „Merkwürdig. Sollte es sich etwa um einen Piratenschatz handeln?“
„Piratenschatz, ja genau“, nickte Picard. „Und jetzt gehört er uns!“
„Irrtum“, erwiderte der Ire. „Irgendwer hat uns hierher geschafft, und dieser Jemand hat Kenntnis von dem ganzen Krempel hier. Er wird einen Teufel tun, den Schatz uns zu überlassen.
Überhaupt sollten wir uns viel mehr Gedanken machen, wie wir hier wieder rauskommen. Wenn nicht Madame Bourgardez dahinter steckt, dann vielleicht ein anderes, noch unheimlicheres Wesen. Erinnern Sie sich an den grünen Nebel, der aus ihrem Mund kam?“
„Ja“, nickte Jean Picard. „Was mag das wohl gewesen sein?“
John zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Ein Dämon vielleicht, den die Frau beschworen hat. Ein Überwesen aus einer anderen Welt. Jedenfalls sollten wir nicht hier herumhocken und uns an den Reichtümern erfreuen, sondern zusehen, dass wir den Ausgang finden. Wenn man uns hier hereingebracht hat, wird es ja wohl auch einen Weg nach draußen geben.“
Der kleine Franzose schien enttäuscht, sah aber die Notwendigkeit ein, erst einmal in Erfahrung zu bringen, wie sie wieder aus Höhle kamen.
Sie suchten und fanden einen weiteren Gang.
„Merkwürdig, dieses Leuchten“, sagte John. „Woher mag das kommen?“
Picard wusste keine Antwort darauf. Er schaute sehnsüchtig den Gang zurück. Er hatte sich schon als reichen Mann gesehen.
Nach einigen hundert Metern erreichten sie eine weitere Höhle. Offenbar befanden sie sich in einem ganzen System von Gängen und Grotten. Einmal glaubten sie schon den Ausgang gefunden zu haben, doch dann stellten sie fest, dass sie einem Gang gefolgt waren, der vor einer Felswand endete.
„Verflucht!“, stieß John hervor.
Er deutete hinter sich.
„Los, wir müssen zurück.“
Nach einem schier endlosen Marsch durch andere Höhlen und Gänge standen sie unversehens wieder in der Schatzkammer.
„Wir kommen nie mehr hier raus“, jammerte Jean Picard und setzte sich auf den Boden.
John sah sich um.
Irgendetwas war anders als vorher. Er hatte das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden.
Der Franzose hatte plötzlich eine Idee.
„Ihr Mobiltelefon, John“, sagte er, „haben Sie es dabei?“
Der Whiskyfabrikant nickte.
„Schon, aber es dürfte zwecklos sein. Hier drinnen habe ich keinen Empfang, die Felsen schirmen alles ab.“
„Dann ... dann sind wir verloren“, flüsterte Picard resignierend.
John Buchannan wollte nicht so leicht aufgeben. Er hockte sich neben seinen Gefährten auf den Boden und dachte nach. Im selben Augenblick flog etwas über sie durch die Luft, und die beiden Männer waren in einem Netz gefangen.
Doch nicht für lange. Während der Franzose entsetzt aufschrie, packte der Ire zu und riss die Maschen mit seinen Bärenkräften auseinander. Er richtete sich auf und sah sich einer Gestalt gegenüber, von der er nicht wusste, ob ihr Anblick ihn zu ungläubigem Staunen oder zu brüllendem Gelächter veranlassen sollte.
Es war – ein Zwerg!
Ein Männchen, das einem Märchen entsprungen schien. Kaum einen halben Meter groß, mit einem bärtigen Gesicht, das wütend dreinblickte. Es trug ein schwarzes, ledernes Wams, darunter ein Hemd. Die kurzen Beine steckten in Lederhosen, die ebenfalls schwarz waren. Dazu trug es Stiefel, die bis an seine Knie reichten. Das graue Haar war genauso zerzaust, wie der Bart, und mit dem rechten Händchen schwang es ein Schwert, das wie ein Kinderspielzeug aussah.
„Wer ist das?“, fragte Picard, der sich zappelnd wie ein Fisch aus dem zerrissenen Netz befreit hatte.
„Ich schätze, der Besitzer dieses Etablissements“, meinte John gutgelaunt.
Er grinste den Zwerg an, der auf einem Felsbrocken stand und abwartend zu ihnen herüber sah. Offenbar wusste er nicht, ob er angreifen oder lieber fortlaufen sollte.
„Entschuldigen Sie, wenn wir hier eingedrungen sind“, sprach der Ire ihn an. „Aber das war nicht unsere Schuld. Wir würden auch gleich wieder verschwinden, wenn Sie so freundlich wären, uns den Ausgang zu zeigen.“
Der Zwerg erwiderte etwas, das die beiden Männer nicht verstanden.
„Sorry“, meinte der Ire, „aber die Zwergensprache verstehe ich leider nicht.“
Er sah sich zu Picard um.
„He, Jean, haben Sie vielleicht eine Ahnung, welchen Dialekt unser Gastgeber spricht?“
Der Franzose zuckte mit den Schultern.
Wieder brabbelte der Zwerg etwas. Aber es klang ebenso unfreundlich wie zuvor.
Und dann griff er plötzlich an.
Mit einem lauten Schrei sprang er auf John zu und hieb mit dem Schwert nach dem Iren. Der wich geschickt aus und packte den Arm des Zwergs. Eigentlich hatte er geglaubt, leichtes Spiel zu haben, doch nun musste er erstaunt feststellen, dass der Wicht über ungeheure Kräfte verfügte. Die Schwerthand gegen den Mann stemmend schlug er mit der Linken zu und traf Johns Magen, dem pfeifend die Luft entwich.
„Zum Donnerwetter!“, brüllte der Whiskyfabrikant erbost. „Ich will dir ja nicht wehtun, aber du lässt mir keine andere Wahl.“
Er holte aus und schlug seine Faust dem Zwerg unter das Kinn. Die Gegenwehr erlahmte, und der kleine Mann sackte in sich zusammen. John fing ihn auf.
„Tut mir Leid“, murmelte er und ließ den Kleinen sanft zu Boden gleiten.
Picard eilte hinzu. Er schüttelte immer wieder den Kopf und schien überhaupt nichts mehr zu begreifen.
„Was ist das hier, John?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Bin ich verrückt geworden? Oder träume ich das alles nur?“
Der Ire legt ihm die Hand auf die Schulter.
„Sie sind nicht verrückt geworden“, erwiderte er. „Die Höhle, in der wir uns befinden, dieser Zwerg hier, das ist alles genau so wirklich, wie Sie und ich. Auch wenn ich es ebenso wenig verstehe wie Sie.
Allerdings glaube ich fest daran, dass wir irgendwie hier wieder rauskommen. Dann sammeln wir Webber ein, fahren wir ins Hotel, nehmen eine heiße Dusche und Maître Arnaud wird uns etwas Gutes zu essen kochen.“
Er sagte es im Brustton der Überzeugung. Dass er sich in einem Punkt irrte, ahnte er nicht ...
Zwar würden sie die Höhle verlassen. Doch das Hotel war für sie unerreichbar. Genauso, wie Charles M. Webber, der immer noch vor dem Haus der Madame Bourgardez auf seinen Boss wartete.
Dafür wartete auf sie das größte Abenteuer ihres Lebens!
*
Eine leise Stimme weckte Ken Norton aus seinem tiefen Schlaf. Er öffnete die Augen und sah das bärtige Gesicht eines Mannes, der sich über ihn beugte.
Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Ken richtete sich auf und fuhr sich mit der Rechten über die Augen.
„Gut geschlafen?“, fragte Djuwar grinsend.
„Wie ein Bär“, nickte der Engländer.
Er erhob sich von seinem Lager und zog die Dschellaba über, mit der er sich am Abend zugedeckt hatte.
„Komm, Freund“, sagte der Karawanenführer. „Zeit aufzubrechen. Wenn die Sonne hoch oben am Himmel steht, werden wir Bel-achay erreicht haben.“
Ken folgte ihm aus dem Zelt. Die Männer waren schon mit dem Abbrechen des Lagers beschäftigt. Das Feuer war wieder entfacht worden, und Djuwar lud ihn ein, dort Platz zu nehmen.
Ein seltsames Frühstück, dachte Ken schmunzelnd und schluckte ein milchiges Getränk hinunter, das ihm jemand in einer Schale reichte. Tee wäre ihm zwar lieber gewesen, aber er stellte fest, dass es ausgezeichnet schmeckte. Dazu gab es Fladenbrot und Reste des gestrigen Abendessens.
Djuwar war damit beschäftigt gewesen, seinen Männern Anweisungen zu erteilen. Jetzt setzte er sich zu dem Engländer an das Feuer und sah ihn fragend an.
„Aus welchem Land kommt Ihr?“, wollte er wissen.
Er stellte seine Frage in dieser seltsamen Sprache, die dem altindischen Sanskrit zu entstammen schien. Ken antwortete ebenso und wunderte sich nicht mehr, dass sie sich verstanden.
„London“, erklärte er. „Meine Stadt heißt London. Das liegt in England; eine große Insel im Meer.“
Djuwar schien beeindruckt. Allerdings hatte er noch nie von diesem Land gehört.
„Enges Land?“, wiederholte er. „Seltsamer Name.“
Norton schmunzelte. Djuwar war ihm irgendwie sympathisch, und das hatte nichts damit zu tun, dass er ihm das Leben gerettet hatte. Auf seinen Reisen war Ken vielen Menschen begegnet und hatte gelernt, sie zu unterscheiden. Nicht alle, die sich freundlich gegeben hatten, waren es auch wirklich gewesen.
„Und Euer König?“
Der Engländer grinste.
„Es ist eine Königin“, erwiderte er. „Sie heißt Elizabeth.“
Der Karawanenführer riss die Augen auf.
„Eine Frau?“, rief er ungläubig. „In meinem Land kann nur ein Mann der Herrscher sein“, erklärte er mit stolzgeschwellter Brust. „Kein Udakar unterwirft sich einer Frau. Aber ich habe gehört, dass es in anderen Ländern so ist. Sogar Sherm wurde einmal von einer Königin regiert. Und bei den Kriegerfrauen ist es auch nicht anders.“
Ken wurde hellhörig.
„Kriegerfrauen?“
Djuwar nickte.
„Herrische Weiber, die mit Schwertern kämpfen und jedem Mann, der es wagt, sich ihnen zu nähern, sein bestes Stück abschneiden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nichts, um die Freuden eines Nachtlagers zu teilen“, setzte er, anzüglich grinsend, hinzu.
Der Anthropologe hätte sich gerne weiter über die Kriegerfrauen unterhalten. Denn Djuwar hatte damit das mythische Volk der Amazonen angesprochen. Ob es sie jemals wirklich gegeben hatte, war in Fachkreisen durchaus umstritten. Hier aber schien es einen Beweis für ihre Existenz zu geben.
Wenn er bloß gewusst hätte, wo er sich überhaupt befand!
Leider kam Ken nicht dazu, das Gespräch auszudehnen. Das Lager war abgebrochen, die Lasttiere beladen, die Männer saßen auf ihren Pferden. Der Engländer bekam ein Pferd, nachdem Djuwar ihn gefragt hatte, ob er reiten könne. Jetzt saß Ken auf einem dunklen Hengst, die Zügel in den Händen, und nickte dem fragend blickenden Anführer zu.
Der stieß einen schrillen Schrei aus, und die Karawane setzte sich in Bewegung.
Ken fragte sich, was ihn wohl am Ende der Reise erwartete ...
*
Der Zwerg schlug die Augen auf und sah die beiden Männer ängstlich an. John Buchannan und Jean Picard saßen neben ihm. Sie hatten dem Wicht die Hände auf den Rücken gebunden, und der Ire spielte mit dem Schwert, das sich in seinen Händen wie ein Brieföffner ausnahm.
„Aha, unser Gastgeber erwacht“, stellte er fest. „Bitte noch mal um Entschuldigung, dass ich so grob werden musste, kleiner Mann. Aber du hast mir keine andere Wahl gelassen.“
Er war immer noch erstaunt über die Riesenkräfte, die der Zwerg offensichtlich besaß.
Sein Gegner war nur ein paar Minuten ohnmächtig gewesen. Wie lange genau konnte John indes nicht sagen. Er hatte festgestellt, dass seine Uhr nicht mehr funktionierte und beschlossen, sich gleich bei der Firma Rolex zu beschweren, sobald er wieder im Hotel war.
Während der Zwerg besinnungslos gewesen war, hatten sich John und der Franzose darüber unterhalten, in welcher Gegend sich dieses Höhlensystem wohl befand. Allerdings waren sie auf Mutmaßungen angewiesen. Jean Picard wusste von keinen solchen Höhlen in der Nähe von Cannes. Vor Jahren war er einmal im Westen Frankreichs, an der Atlantikküste, gewesen. Die Rückreise hatte durch die Pyrenäen geführt. Dort hatte er einmal eine ähnlich große Höhle besucht. Aber natürlich war es absurd anzunehmen, sie befänden sich jetzt dort.
John Buchannan sah den Zwerg an. Der erwiderte stumm den Blick. Er schien zu überlegen, was die beiden wohl mit ihm vorhatten.
„Also, wenn du so gütig sein würdest, mein Freund, uns den Ausgang zu zeigen, verschwinden wir sofort“, erklärte der Ire und deutete mit dem Kopf zu dem sagenhaften Schatz. „Und von dem Zeug da wollen wir nichts haben.“
Dabei schnitt er mit dem Schwert die Fesseln durch.
Der Zwerg öffnete den Mund, er schien nach Worten zu suchen. Bestimmt hatte er den Fremden genauso wenig verstanden, wie der ihn. Außerdem war er verwundert darüber, dass er wieder frei war.
„Moran“, stieß er hervor, während er sich die Handgelenke rieb.
John sah ihn irritiert an.
„Moran?“
Ein heftiges Kopfnicken erfolgte, und der Kleine schlug sich gegen die Brust.
Jean Picard begriff.
„Moran – das ist sein Name.“
„Ah, verstehe“, rief der Ire und deutete auf sich. „John.“
Er zeigte auf den Franzosen.
„Jean.“
„John ... Jean ...“
„Klingt ähnlich nicht wahr? Unsere Namen sind auch miteinander verwandt. Der eine ist irisch, der andere französisch.“
Das Gesicht des Zwergs war ein einziges Fragezeichen.
„Ich merke schon, so kommen wir nicht weiter“, sagte John Buchannan und sah den Franzosen an. „Haben Sie eine Idee?“
Picard zuckte mit den Schultern.
„Mal sehen“, meinte er und begann, mit den Händen Bilder und Zeichen in die Luft zu malen.
Moran, der Zwerg, sah ihm gespannt zu. Dann begann er seinerseits zu gestikulieren.
„Kann mir mal einer erklären, was das soll?“, fragte John nach einer Weile.
„Gebärdensprache“, antwortete Picard.
„So schlau bin ich auch. Allerdings verstehe ich sie nicht.“
„Unser Gastgeber dafür aber umso besser.“
„Was ... äh ... sagt er denn?“
Picard fuhr sich über das Gesicht.
„Eine seltsame Geschichte“, murmelte er. „Sie werden sie kaum glauben können.“
„Also, nach dem, was ich im Haus von Madame Bourgardez erlebt habe, glaube ich so ziemlich alles“, widersprach der Ire. „Los, erzählen Sie schon!“
Der Franzose schluckte, bevor er endlich den Mund öffnete.
„Wenn ich unseren Freund hier richtig verstanden habe, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln, dann ist er, Moran, König der Zwerge und Hüter dieses Schatzes.“
John runzelte die Stirn.
„Sie meinen, so wie dieser Alberich in der Sage von den Nibelungen?“, fragte er.
„Genau.“
„Aha, und wo genau befindet sich diese Höhle?“
Jean Picard blickte beinahe irre.
„In einem Land ... das ... das ... Argoon heißt.“
„Argoon?“
Buchannan zog die Stirn kraus.
„Und wo, bitte schön, soll dieses Land liegen?“, wollte er wissen. „Soviel mir bekannt ist, gibt es keines mit diesem Namen auf unserer schönen Erde.“
Der Franzose wandte sich wieder dem Zwerg zu. Moran schien regelrecht aufgekratzt zu sein. Angst hatte er vor den beiden Männern jedenfalls nicht mehr. Wieder malte er Zeichen in die Luft, unterstützt von unartikulierten Lauten.
„Was ist?“, fragte der Ire ungeduldig.
„Das ist verrückt“, schüttelte Jean Picard den Kopf. „Total verrückt!“
„Mann, reden Sie schon!“, rief John.
„Dieses Land, Argoon, liegt an einem Fluss“, bequemte sich der Franzose endlich zu übersetzen. „Er heißt ‚Die Straße der Legenden’ und durchquert einen ganzen Kontinent.“
John sah ihn entgeistert an.
„Was soll der ganze Quatsch?“, fauchte er.
„Nein, nein“, schüttelte Picard wieder seinen Kopf. „Das ist kein Quatsch. Ganz im Gegenteil. Wenn ich unseren Freund richtig verstanden habe, John, dann ... dann kann das nur eines bedeuten ...“
„Nämlich?“
„Wir sind nicht mehr in unserer Welt! Nicht mehr in Südfrankreich, im Haus der Madame Bourgardez! Wir befinden uns ..., ach weiß der Teufel, wo wir uns befinden!“
Der Ire schnappte nach Luft. Diese Nachricht wollte erst einmal verdaut werden.
„Und weiß unser Zwergenkönig auch, wie wir von hier wieder fortkommen?“, erkundigte er sich, während ihm tausend Gedanken durch den Kopf gingen. Was wurde aus seiner Fabrik? Was war mit Webber geschehen, wartete er immer noch vor dem Haus der mysteriösen Madame? Würden sie überhaupt jemals wieder in ihre eigene Welt zurückkehren?
„Moran kann uns ein Stück führen“, erklärte Jean. „Aber vorher will er uns etwas erzählen. Es geht um einen Gegenstand, der ihm gestohlen worden ist. Ein Helm aus purem Gold.“
„Er soll sich nicht so anstellen“, raunzte Buchannan. „Schließlich hat er genug von dem Plunder.“
„Darum geht es nicht. Es ist etwas Besonderes an diesem Helm“, sagte der Franzose leise. „Moran behauptet, sein Träger wird zum Sklaven des großen Dämonengottes.“
„My-Tharn-yarl ...?“, fragte John.
“Ich fürchte ja”, nickte Picard. „So, wie es aussieht, befinden wir uns in einer Welt, in der diese Gottheit herrscht ...“
*
Rhonda McFarlane stieg in Bukarest auf dem Flughafen „Otopeni“ aus dem Flugzeug, das sie von Hamburg aus hierher gebracht hatte. Nachdem sie die Abfertigungsformalitäten hinter sich gebracht hatte, trat sie durch die Absperrung und sah sich suchend um. Ein kleiner Mann um die Fünfzig winkte ihr zu. Er stand einige Schritte entfernt und zwängte sich nun durch einen Pulk Reisender zu ihr durch.
„Miss McFarlane?“, sprach er sie an. „Bata Ilunesco. Willkommen in Rumänien. Hatten Sie einen guten Flug?“
Die Reporterin nickte.
„Vielen Dank. Schön, Sie persönlich kennen zu lernen.“
Sie deutete auf das Laufband, auf dem das Gepäck der Fluggäste rotierte.
„Ich brauche noch meinen Koffer, dann können wir los.“
Zehn Minuten später saßen sie ein einem alten, klapprigen Lada. Der Rumäne steuerte das Gefährt vom Parkplatz und fädelte sich in den Verkehr ein.
„Wohin fahren wir?“, fragte Rhonda.
„Unser Ziel ist Brasov“, erklärte Ilunesco. „Dort werden wir in einem Hotel übernachten, und morgen machen wir uns auf den Weg in das Dorf.“
Die Engländerin nickte.
Brasov, das war das ehemalige Kronstadt. Ein Eisenbahnknotenpunkt und eine wichtige Industriestadt. Sie war um eine Burg, die der Deutsche Orden 1211 errichtet hatte, gebaut worden, und lag am Nordrand der Südkaparten. Dort war noch Zivilisation, überlegte Rhonda. Sie war gespannt, wie das Dorf aussehen würde, in das der Rumäne sie morgen bringen würde.
„Wir müssen vorsichtig sein“, erklärte Bata Ilunesco, als habe er ihre Gedanken erraten. „Die Leute dort sind misstrauisch allen Fremden gegenüber. Wir werden deshalb außerhalb des Dorfes warten, bis es Nacht wird. Der Friedhof liegt zwar im Zentrum des Ortes, aber wahrscheinlich wagt sich keiner der Bewohner auf die Straße.“
„Ich verstehe nicht, warum das Grab sich auf einem Friedhof befindet“, sagte Rhonda. „Ein Vampir – in einem christlichen Grab?“
Der Rumäne zuckte mit den Schultern.
„Die Menschen wussten ja nicht, dass der Alte ein Wiedergänger ist“, meinte er. „Erst, als sie dahinter kamen, erkannten sie die Gefahr. Doch da war es zu spät. Niemand wagte, das Grab wieder zu öffnen und den Vampir zu töten. Lediglich der Priester hatte damals den Mut, mit Weihwasser und Knoblauch gegen den Untoten anzugehen. Und das Kreuz, das er auf das Grab steckte, tat ein Übriges, um den Vampir darin zu bannen.“
Rhonda gab sich vorerst mit dieser Erklärung zufrieden. Sie merkte, dass sie müde wurde. Die schlaflose Nacht zeigte Wirkung, und ihr fielen die Augen zu.
Bata Ilunesco fuhr unbeirrt weiter. Nach fünf Stunden kamen sie in Kronstadt an, was weniger am Verkehr gelegen hatte als an der Tatsache, dass der Lada immer wieder Pausen brauchte.
Die Reporterin war nach zwei Stunden wieder aufgewacht. Der Rumäne hatte sie angegrinst.
„Geht’s besser?“, hatte er sich erkundigt.
Rhonda hatte genickt und auf die Landschaft geschaut, die vorüberzog. Es war das erste Mal, dass sie sich in Rumänien befand, und sie sah, dass sich das Land immer noch nicht von der über vierzigjährigen Herrschaft des Kommunismus erholt hatte. Wahrscheinlich würde es noch Jahrzehnte dauern, bis der Lebensstandard hier dem anderer osteuropäischer Länder angeglichen war.
Ihr Chauffeur steuerte zielsicher durch die Straßen und hielt vor einem großen, grauen Haus an, das sich als das „Hotel Imperial“ entpuppte. Kaiserlich wirkte es indes gar nicht. Auch innen sah es eher aus, wie eine drittklassige Jugendherberge. Immerhin waren die Zimmer sauber und hatten sogar ein eigenes Bad. Als Rhonda allerdings den Hahn aufdrehte kam nur rostbraunes Wasser heraus.
Sie verzichtete auf das Bad und legte sich stattdessen auf das Bett.
Mit Ilunesco war verabredet, sich in einer Viertelstunde unten im Restaurant zu treffen. Sie wollten zusammen zu Abend essen und dabei das weitere Vorgehen planen. Der Rumäne hatte das Hotel gleich wieder verlassen. Er müsse noch ein paar Dinge besorgen, hatte er erklärt.
Rhonda vermutete schmunzelnd, dass es sich dabei um Holzpflöcke, Kruzifixe und Silberkugeln handelte – alles Waffen, die man benötigte, um einen Vampir unschädlich zu machen.
Nach einer Weile stand sie wieder auf, überprüfte im Spiegel ihre Frisur und dachte dabei wehmütig an ihr Apartment in London. Mit diesem Zimmer hier war es nicht zu vergleichen, vor allem fehlte ihr ein herrliches, warmes Schaumbad und dazu ein Drink.
Hoffentlich war das Essen wenigstens gut, dachte sie, während sie sich noch einmal umblickte.
Seufzend öffnete sie die Zimmertür und trat hinaus auf den dunklen Flur mit seinen altmodischen Tapeten und der einsamen Lampe an der Decke.
Sie wusste nicht, wie sehr sie sich noch einmal hierher zurücksehnen würde ...
„Was du dort siehst, sind die Mauern von Bel-achay“, deutete Djuwar auf eine langgezogene Linie in der Ferne.
Sie flimmerte weiß in der Sonne, die seit Stunden erbarmungslos auf die Karawane niederbrannte. Ken erkannte Gebäude dahinter; Häuser mit flachen Dächern. Dann etwas, das wie ein Schloss aussah. Es stand auf einem Hügel; auf den Turmspitzen bewegten sich Fahnen schlaff im lauen Wind. Es war ein seltsamer Anblick. Mit dem Gedanken, nicht mehr in seiner eigenen Zeit zu sein, hatte sich der Anthropologe bereits abgefunden. Jetzt hatte er das Gefühl, im Mittelalter angekommen zu sein.
Jenseits der Stadtmauer sah er ein breites Band, das silbern in der Sonne glänzte.
„Die Straße der Legenden“, erklärte der Karawanenführer mit ausgestrecktem Arm. „Sie gibt uns ihr Wasser und damit das Leben.“
Ken Norton staunte. Noch nie hatte er einen so breiten Fluss gesehen. Um ein Vielfaches breiter als die Themse. Schiffe unterschiedlichster Bauarten fuhren darauf. Flache Lastenkähne, große, schwere Segler, eine Dreimastbark. Es herrschte ein unglaublicher Betrieb auf der „Straße der Legenden“.
Djuwar sah seinen Blick.
„Du wirst noch mehr staunen, wenn du den Hafen siehst“, meinte er. „Gerade jetzt wird dort viel los sein. Es sind die Tage des Lichts, und da ist ganz Argoon auf den Beinen.“
Er deutete auf ein Segelschiff, das den Fluss heraufgefahren kam.
„Ein shermischer Kauffahrer“, erklärte er. „Er bringt Waren aus Ysmar, der goldenen Stadt. Stoffe glänzend wie Gold, Gewürze und Wein. Alles für Chrios’ Fest.“
Ken Norton sah seinen Lebensretter fragend an.
„Ich höre zwar, was du sagst, aber ich verstehe nicht den Sinn deiner Worte.“
Djuwar musterte ihn mit einem Lächeln.
„Seit gestern habe ich über dich nachgedacht, Ken“, sagte er. „Und ich frage mich immer noch, was für eine Welt das sein mag, aus der du zu uns gekommen bist.“
„Ich fürchte, sie ist sehr, sehr weit von hier entfernt ...“
„Du siehst den Palast dort auf dem Hügel?“
Der Engländer nickte.
„Rechts davon steht der Lichttempel. Er ist Chrios geweiht, der Göttin des Lichts. In ihm wird ein goldenes Zepter bewahrt, das von Chrios selbst stammt. Sie schenkte es vor Urzeiten den Völkern an der Straße der Legenden, zum Zeichen des Bundes mit ihnen. Einmal im Jahr wird das Zepter dem Volk gezeigt und der Bund erneuert, und morgen ist der große Tag.“
Djuwar deutete hinter sich.
„Alle Waren, die wir mitführen, sind für dieses Fest bestimmt. In Bel-achay wohnt der Kaufmann, in dessen Auftrag ich die Karawane führe. Er wird noch reicher werden, als er ohnehin schon ist.“
„Was ist das für ein Zepter, von dem du erzählt hast?“
„Das ist eine lange Geschichte. Du musst wissen, dass es einmal eine Zeit gab, da lebten die Götter unter den Menschen. Sie waren sich viel näher als heute. Einer von ihnen ist der oberste Gott, von ihm stammen alle anderen ab. Er zeugte zwei Kinder, Chrios und Nheli, die so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht. Ihr Vater bestimmte Chrios zur Göttin des Lichts, während ihre dunkle Schwester zur Herrscherin der Finsternis wurde. Die beiden Göttinnen kämpften um die Herrschaft über diese Welt. Es war ein langer, opferreicher Kampf, der sich über viele Zeitalter hinzog. Am Ende gelang es Chrios, die dunklen Kräfte Nhelis zu bezwingen und in einen Kristall zu bannen. Gil-Em-lot, der Götterschmied, schuf ein goldenes Zepter, dessen Spitze von diesem Kristall geziert wird. Chrios schenkte es den Menschen zum Zeichen des Bundes mit ihnen. Seit jenen fernen Tagen wird das Zepter im Lichttempel zu Bel-achay bewahrt.“
„Und morgen wird der Bund erneuert.“
Djuwar nickte.
Während er den Worten des Karawanenführers lauschte, überlegte Ken Norton, ob es sich bei dem Zepter um jenes handeln konnte, das er im Hause Mustafa Terjoongs gesehen hatte.
Aber eigentlich war es nicht möglich. Dieses Zepter befand sich ja in seiner Welt ...
Oder gab es möglicherweise zwei davon?
Die Karawane war weiter vorangekommen. Die „Straße“, die kaum mehr als ein breiter Weg war, dessen Sand unter den Hufen der Pferde aufwirbelte, führte von der Anhöhe in eine Senke. Von allen Seiten strömten jetzt Menschen heran. Manche hatten Pferdegespanne und Ochsenkarren, andere schleppten ihre Waren auf dem Rücken. Sie alle strömten der Hauptstadt des argoonischen Königreichs zu, in froher Erwartung auf das Fest der Lichtgöttin. Dem Zug folgte eine Anzahl Wanderer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Bettler in Lumpen gehüllt, Gaukler in farbenfrohen Gewändern und Frauen, an deren offenherziger Kleidung man erkennen konnte, welchem Gewerbe sie nachgingen. Ken Norton grinste unwillkürlich.
Hier war es also auch nicht anders, als in seiner Welt – das Gewerbe war wirklich und überall das älteste ...
„Wie heißt euer oberster Gott?“, fragte er.
Djuwar sah sich um, als fürchte er, jemand könne seiner Antwort lauschen.
„Sein Name wird nur selten genannt“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Es ist kein gnädiger Gott, der über die Völker an der Straße der Legenden herrscht. My-Tharn-yarl ist der Herr der Finsternis, der Gott der Dämonen ...“
Der Engländer zuckte zusammen.
My-Tharn-yarl, das war der Name, der im Zusammenhang mit dem Kult genannt wurde, der in seiner Welt immer wieder von sich reden machte. Es gab ihn also wirklich, er war kein Hirngespinst.
Es wurde berichtet, dass dieser Kult aus einer anderen Welt stammen sollte, und so wie es aussah, befand er, Ken Norton, sich genau in ihr!
Der Anthropologe hatte eine Reihe haarsträubender Abenteuer erlebt und vor allem überlebt. Im tiefsten Dschungel von Brasilien hatte er eine Expedition angeführt, die auf der Suche nach einem bis dahin weitgehend unbekannten Volk in die Hände von skrupellosen Schatzsuchern geraten war. Es hatte einen Kampf auf Leben und Tod gegeben, und nur Ken Norton war es zu verdanken gewesen, dass die Teilnehmer des Unternehmens mit heiler Haut davongekommen waren.
Ein anderes Mal hatte er einem uralten Kult nachgespürt. Auf einer Karibikinsel war er von Mitgliedern einer Teufelssekte gefangenengenommen worden und hatte geopfert werden sollen. Auch hier war es ihm gelungen, im letzten Moment dem schon sicher geglaubten Tod zu entkommen. Ken war niemand, der sich fürchtete, doch die Tatsache, dass er sich in einer Welt befand, in der eine der grausamsten Gottheiten herrschte, von der er je gehört hatte, ließ ihn trotz der Hitze frösteln.
Der Karawanenführer sah ihn fragend an.
„Fühlst du dich nicht gut, mein Freund?“
Der Engländer schüttelte den Kopf.
„Alles in Ordnung“, erwiderte er und schaute nach vorne.
Ein Gruppe Musikanten spielte auf, als die Karawane vor dem Stadttor zum Halten kam. Flötenspieler und Trommler in bunten Kostümen, ein Mädchen schlug eine Trommel. Sie alle erhofften sich von diesen Tagen ein gutes Geschäft.
Der Engländer fiel in seiner Dschellaba kaum auf. Niemand sah ihn an und musterte ihn kritisch.
Was will ich eigentlich hier, fragte er sich, während er geduldig darauf wartete, dass die Karawane hineingelassen wurde.
Er wusste diese Frage nicht zu beantworten.
Vorerst zumindest nicht. Indes hatte er gar keine andere Wahl gehabt, als sich Djuwar und seinen Männern anzuschließen. Durch einen teuflischen Plan war er aus seiner eigenen Welt in eine andere geschleudert worden und musste nun zusehen, dass er sich zurechtfand – und einen Weg zurück.
Das war seine einzige Hoffnung. Wie auch immer er hergekommen war, es musste möglich sein, zurückzukehren!
„Haila wohnt im Viertel der Kaufleute“, erklärte Djuwar, als sie das Tor passiert hatten. „Es liegt am anderen Ende der Stadt.“
Er sah Ken fragend an.
„Wirst du dich hier zurechtfinden?“
Der Engländer zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass er auf sich allein gestellt war.
„Wenn du Hilfe brauchst, findest du mich bei Haila“, sagte der Karawanenführer und griff unter seinen Umhang. „Und bestimmt sehen wir uns morgen, vor dem Tempel.“
Er streckte die rechte Hand aus, in der ein Lederbeutel lag.
„Nimm! Ohne Geld bist du ein verlorener Mann.“
Ken nahm den Beutel und schüttelte ihm die Hand.
„Danke, mein Freund, für alles, was du für mich getan hast.“
„Chrios schütze dich!“, antwortete Djuwar und gab seinen Männern das Zeichen zum Weiterreiten.
Ken war von seinem Pferd gesprungen und reichte die Zügel einem der Männer. Dann stand er einen Moment still da und schaute der Karawane hinterher. Schließlich wandte er sich um und blickte auf den großen Platz, der nur so von Menschen wimmelte. Langsam schlenderte er weiter und sah mit neugierigen Augen auf das Gewimmel. Es war wirklich so, wie man sich das Leben im Mittelalter vorstellte, und er war mittendrin.
Nur – er war ein Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts!
*
Das Essen war noch schlechter, als sie befürchtet hatte. Angewidert schob Rhonda McFarlayn den halbvollen Teller beiseite und zündete sich eine Zigarette an.
Eigentlich hatte sie das Rauchen schon vor geraumer Zeit aufgegeben, aber die Nervosität, die sich ihrer bemächtigte, je näher der Zeitpunkt ihres Aufbruchs in das Dorf rückte, in dem das Grab eines Vampirs sein sollte, wollte beruhigt werden. Zu ihrem Erstaunen rauchte Bata Ilunesco englische Zigaretten. Als sie ihn daraufhin ansprach, grinste der Rumäne nur und erklärte, dass man hier inzwischen alles kaufen könne, sofern man das nötige Kleingeld besäße.
Er hatte sein Essen mit Behagen verschlungen. Es war eine graue Masse aus Gemüse, Kartoffeln und gekochten Eiern, die auf der Speisekarte des Hotels als Spezialität gepriesen wurde. Rhonda mochte sich gar nicht erst vorstellen, wie die anderen nicht so „speziellen“ Gerichte aussahen und schmeckten ...
„Wie weit ist es von hier aus bis ins Dorf?“, fragte sie und schnippte die Asche von der Zigarette.
Ilunesco sah auf die Uhr.
„Eine gute Stunde“, antwortete er und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht auch zwei. Je nachdem, wie der Wagen mitmacht.“
Er sah sie fragend an.
„Haben Sie alles dabei, was Sie brauchen?“
Rhonda nickte. Eine Digitalkamera steckte in ihrer rechten Jackentasche, ein Diktiergerät in der linken. Ob sie allerdings dazu kam, Letzteres zu benutzen, würde sich erst zeigen.
Der Rumäne deutete auf einen großen, dunklen Beutel, der auf dem Stuhl neben ihm lag.
„Ich habe auch vorgesorgt“, meinte er vieldeutig.
„Weihwasser, vermute ich?“
Ilunesco grinste.
„Keine Ahnung, ob an den alten Mythen etwas dran ist“, sagte er. „Aber immerhin heißt es ja, dass Vampire das Weihwasser genauso scheuen wie der Teufel. Ich war bei einem alten Freund; einem Priester. Er hat mir auch noch das hier mitgegeben.“
Bei diesen Worten zog er einen armdicken Holzpflock aus dem Beutel.
Rhonda spürte unwillkürlich eine Gänsehaut. Sie war gewiss nicht ängstlich, durfte es in ihrem Job auch gar nicht sein. Doch die Vorstellung, in dieser Nacht der Pfählung eines Vampirs beizuwohnen, ließ sie doch ein wenig schaudern.
„Er ist aus Eschenholz“, erklärte der Rumäne. „Manche sagen, dass Eiche besser wäre. Ich weiß es nicht. Pater Roman ist jedenfalls der Ansicht, dass nur das Holz der Esche einen Vampir töten kann.“
Plötzlich sah er sie mit seltsamem Blick an.
„Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten ...“
Rhonda hatte die ganze Zeit schon geahnt, dass es da noch etwas geben musste. Ilunesco machte einen schuldbewussten Eindruck.
„Ich habe Ihnen nicht alles gesagt, als ich Sie in London angerufen habe“, gestand er. „In dieser Nacht soll eine ‚Bluthochzeit’ stattfinden.“
„Eine was?“
„Eine Vermählung des Blutes einer Frau mit dem des Vampirs ...“
Die Engländerin war sicher, dass da noch viel mehr war, als sie bisher erfahren hatte.
„Erklären Sie das genauer“, forderte sie ihn auf.
„Auf dem Dorf liegt ein Fluch“, begann Bata Ilunesco. „Der Vampir fordert von den Bewohnern einen Tribut. Sie müssen ihm eine Frau opfern, damit er die anderen in Ruhe lässt. Dieses Ritual findet einmal im Jahr statt, und heute ist es wieder soweit.“
Rhonda griff erneut nach einer Zigarette und zündete sie mit fahrigen Bewegungen an.
„Eines verstehe ich nicht“, sagte sie. „Die Opfer, wenn sie ... ausgesaugt sind, werden sie doch auch zu Vampiren. Dann müsste ja ganz Rumänien seit Jahrhunderten von Vampiren bevölkert sein.“
„Unsinn“, schüttelte Bata den Kopf. „Der Vampirmythos ist noch genauso unerforscht wie das Leben auf anderen Planeten. Es wird viel geredet und noch mehr darüber geschrieben. Aber niemand weiß genau, was in diesen Kreaturen vor sich geht, welche unheimlichen Mächte sie geschaffen haben. Es heißt zum Beispiel, sie seien gegen Knoblauch allergisch – ein Märchen, wie der Glaube, sie könnten sich in Fledermäuse verwandeln. Andere Aussagen mögen zutreffen; dass sie das Sonnenlicht scheuen oder die Wölfe beherrschen und sie für sich abgerichtet haben. Aber vielleicht wird man das alles nie ganz genau herausfinden. Die Opfer jedenfalls sind tot!“
Der Gedanke, so einem blutigen Ritual beizuwohnen, ließ eisige Schauer über Rhondas Rücken jagen.
„Warum hat noch niemand etwas dagegen unternommen?“, fragte sie. „Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Warum setzen sich die Menschen nicht zur Wehr?“
Ilunesco schüttelte den Kopf.
„Sie kennen die Menschen hier nicht. Die Jahre der kommunistischen Diktatur haben nicht gerade dazu beigetragen, ihnen die Angst vor der Obrigkeit zu nehmen. Sie sind hörig, sie waren es immer. In früheren Zeiten den Fürsten, und nach ihnen allen anderen Regierungen. Wir sind ein abergläubisches Volk, das hat uns selbst der Kommunismus nicht nehmen können. Zu allen Zeiten hat das Übersinnliche die Menschen fasziniert; angezogen und abgestoßen zugleich. Der Fluch, der auf dem Dorf liegt, ist so real wie Sie und ich. Die Bewohner fürchten um ihr Leben. Von der Existenz des Vampirs wird nur unter vorgehaltener Hand geredet. Keine Macht kann diesen Fluch nehmen – jedenfalls keine, die aus dem Dorf selbst kommt.“
Rhonda sah Bata Ilunesco eindringlich an.
„Woher wissen Sie das alles?“, fragte sie.
Der Rumäne steckte sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief ein.
„Weil ich selbst dort geboren bin“, antwortete er düster. „Ich habe meine Schwester an diese Kreatur verloren und ich habe geschworen, sie zu rächen.“
Die Engländerin verstand allmählich.
„Sie schienen mir am besten geeignet, mich dabei zu unterstützen“, erklärte Bata. „Seit ich aus der Heimat fort bin, suche ich nach Mitteln und Wegen, dem Grauen ein Ende zu machen. Aus Ihren Artikeln weiß ich, dass Sie unvoreingenommen sind und bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Deshalb habe ich mich seinerzeit mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Ich denke, das sollten Sie wissen, Rhonda. Es ist ein gefährliches Abenteuer, das auf uns wartet. Wenn Sie jetzt sagen, dass Sie mich nicht begleiten werden, dann habe ich dafür Verständnis.“
Rhonda McFarlane musste dieses Geständnis erst einmal verdauen. Sie war unter ganz anderen Vorzeichen nach Rumänien gekommen. Das angebliche Grab eines Vampirs zu sehen, war eine Sache, dabei helfen zu müssen, ein blutiges Ritual zu verhindern, eine andere. Sie wusste, dass unter Umständen ihr Leben auf dem Spiel stand. Aber sie war auch mutig und durch und durch Journalistin. Viel zu sehr, als dass sie sich solch eine Story entgehen lassen würde.
Der Kellner kam heran und räumte den Tisch ab. Er verzichtete darauf, sich zu erkundigen, ob es geschmeckt habe, was angesichts des vollen Tellers der Engländerin auch nicht nötig war.
Bata Ilunesco sah auf die Uhr.
„Gleich zehn“, sagte er. „Wir sollten fahren – wenn Sie noch wollen ...“
Rhonda drückte die Zigarette aus.
„Fahren wir“, sagte sie mit tonloser Stimme.
*
Der Lada sprang tatsächlich gleich beim ersten Versuch an. Sie verließen Brasov, in dessen Straßen um diese Zeit kaum noch Verkehr herrschte. Ilunesco trat das Gaspedal durch, als könne er es kaum erwarten, das Dorf zu erreichen.
Rhonda hatte das Diktiergerät aus der Jackentasche genommen und sprach ihr „Tagebuch“ hinein. Sie beschrieb genau die Zeit, den Abfahrtsort und sogar, dass der Himmel dunkel und wolkenverhangen war. Dabei schaute sie aufmerksam durch die Frontscheibe. Brasov lag hinter ihnen. Sie fuhren über eine kurvige Landstraße, die Laternen waren spärlicher geworden und blieben schließlich irgendwann ganz aus, sodass die Nacht sich wie eine schwarze Decke über die Landschaft legte. Außer ihnen schien keine Menschenseele unterwegs zu sein; weder vor noch hinter ihnen fuhr ein Auto.
Die Gegend wurde allmählich hügeliger. Am Himmel brach der Mond durch die Wolkendecke, und in der Ferne konnte Rhonda die dunklen Schatten aufragender Berge sehen.
Die Kaparten.
Einmal hatten sie eine Ortschaft durchquert. Ein Dorf, das wie ausgestorben wirkte. Ilunesco sah sie von der Seite her an.
„Wir sind gleich da.“
Die Engländerin schluckte und versuchte, ihre Nervosität zu bekämpfen. Ihr Begleiter lenkte das Auto auf einen Waldweg.
„Das Dorf liegt hinter dem Wald“, erklärte er. „Wir werden ein Stück zu Fuß weitergehen.“
Als sie ausstiegen, schlug ihnen ein kalter Wind entgegen. Irgendwo in der Ferne jaulte ein Hund.
Oder war es ein Wolf ...?
Rhonda schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und zog den Reißverschluss zu. Dann folgte sie dem Rumänen, der im Dunkeln sicher ausschritt. Nach einer Weile konnte sie die Umrisse der Häuser sehen. Das Dorf war kreisförmig angeordnet, in der Mitte ragte der Turm einer Kirche in den Himmel. Der aufkommende Wind war zwar kalt, hatte aber den Vorteil, dass er die Wolken restlos vertrieb und das Licht des Vollmondes die Szenerie erhellte.
Allerdings brachte das auch den Nachteil mit sich, dass die beiden gesehen werden konnten.
Die Engländerin und der Rumäne hielten sich noch am Waldrand auf und sondierten die Lage. Die Fenster der Häuser waren dunkel, als ob die Menschen, die darin wohnten, schliefen. Irgendwo schlug ein Hund an, wahrscheinlich derselbe, der vorhin gejault hatte.
„Und jetzt?“, wisperte Rhonda.
Bata bedeutete ihr, ihm zu folgen, und schlich am Zaun des Hauses entlang, das vor ihnen stand. Die Journalistin nahm ihr Diktiergerät in die Hand.
„Wir sind angekommen“, sagte sie. „Nichts deutet daraufhin, dass in diesem scheinbar friedlichen Dorf das Grauen regiert. Treibt hier wirklich ein Vampir sein Unwesen? Oder ist es nur eine dieser Geschichten, mit denen Eltern ihre unartigen Kinder erschrecken? Was wird dieses Nacht uns bringen? Wir machen uns auf den Weg zum Friedhof, auf dem sich das Grab des untoten Blutsaugers befindet, um den Fluch zu bannen. Rhonda McFarlane, Reporterin der ‚mystery news’.“
Sie steckte das Diktiergerät in die Tasche zurück und folgte Bata Ilunesco, der abwartend am Ende des Zaunes stand und aufmerksam in die Nacht spähte.
„Hier entlang“, flüsterte er, als Rhonda ihn erreicht hatte. „Der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Betts & Atterberry
Bildmaterialien: Betts & Atterberry
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3215-5
Alle Rechte vorbehalten