Schmökerkiste – Band 28
Walter Belka – Piraten vor Formosa
1. eBook-Auflage – Mai 2016
© vss-verlag Hermann Schladt – 60389 Frankfurt – vss-verlag@web.de
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung des Originalcovers der Romanheftserie
Lektorat: Hermann Schladt
Walter Belka
Piraten vor Formosa
Am Hafenkai in Hongkong schlenderte ein jüngerer, ganz in tadelloses Weiß gekleideter Europäer entlang, dessen ganzem Verhalten man es anmerkte, dass ihn nicht gerade eine dienstliche oder berufliche Verrichtung hergeführt hatte.
Ein gewisses Etwas in der Erscheinung des sonnengebräunten, vielleicht zwanzigjährigen Mannes verriet für ein kundiges Auge sofort den Offizier in Zivil. Die gerade, straffe Haltung, die energischen Bewegungen und der nicht minder energische Gesichtsausdruck deuteten ebenso darauf hin wie der Schnitt und Sitz des weißen Leinenanzugs und die Leinenmütze mit weit vorspringendem Schirm, an deren Vorderseite man noch die Druckstellen wahrnehmen konnte, wo noch vor kurzem die Abzeichen einer militärischen Uniform gesessen hatten.
In der Tat war Gerhard Reuter deutscher Marineoffizier und weilte zur Zeit auf Erholungsurlaub nach einem leichten Malariaanfall hier in der englischen Hafenstadt, die er bisher nur wenig kannte und die doch so viel Sehenswertes bot.
Hongkong, gegenüber dem Mündungsdelta des Sikiang und ebenso gegenüber dem portugiesischen, zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen Hafen von Macao auf einer Insel gelegen, ist ein sprechender Beweis für die Großzügigkeit englischer Kolonialpolitik. Man betrachte nur einmal eine Weltkarte, und man wird bemerken, dass dieses Inselvolk es verstanden hat, sich überall da festzusetzen, wo der Besitz einer noch so kleinen Kolonie für den friedlichen Handel ebenso sehr wie für kriegerische Unternehmungen gleich wertvoll ist. Gibraltar, die Inseln Malta und Zypern, der Suez-Kanal, Aden und Sokotra sichern den Briten die Beherrschung des Seeweges nach Indien. Und so ist es in der ganzen Welt. Überall hat England sich eingenistet, überall bewacht es See- und Landwege von Bedeutung.
Denselben Gedanken hing auch der Leutnant Gerhard Reuter nach, als er jetzt das lebhafte Hafenbild von Hongkong betrachtete. Allmählich entfernte er sich mehr und mehr von den dicht am Bollwerk gelegenen Riesenspeichern großer Handelsfirmen und kam in ein Viertel, in dem sich eine Anzahl begüterterer Seeleute in kleinen, sauberen Häuschen niedergelassen hatte. Diese Gegend war in gewissem Sinne international. Alles, was ständig in Hongkong, sei es als Schiffskapitän, Steuermann oder Maschinist, sein Brot verdiente, wohnte hier dicht beieinander. Reuter glaubte sich plötzlich in eine europäische Hafenstadt versetzt, so sehr erinnerten ihn Vorgärten, Blumenbeete und die schmucken, niedrigen Häuschen an ähnliche Viertel drüben im alten Europa.
Er schlenderte jetzt langsam eine schmale Gasse entlang, blieb dann plötzlich stehen und schaute nach zwei Kindern hin, deren blondes Haupthaar und blaue Augen die Vermutung in ihm auftauchen ließen, deutsche Landsleute vor sich zu haben.
Die Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, arbeiteten in einem Gärtchen. Jetzt rief die Kleine dem Jungen ein paar Worte zu – deutsche Worte!
Reuter sprach daraufhin die beiden an. Bald merkte er, dass ihnen jeder kindliche Frohsinn fehlte, dass eine gewisse Traurigkeit aus ihren Wesen hervorging. Mitleidig forschte er sie nun aus, und ihm, dem Landsmann, gegenüber hielten sie auch nicht mit ihren Sorgen zurück.
Es war ein Zufall, der den Marineoffizier auf diese Weise den Geschwistern Berger näherbrachte. Was er von ihnen erfuhr, erregte sofort seine Teilnahme.
Ihr Vater war Kapitän eines größeren Küstendampfers, der die nördlichen Hafenplätze und auch die östlich gelegene Insel Formosa regelmäßig besuchte. Seit drei Wochen hatten die Kinder, deren Mutter vor zwei Jahren gestorben war und die zusammen mit einem chinesischen Koch das Häuschen bewohnten, zu dem der von ihnen gepflegte Garten gehörte, nichts mehr von dem Vater und dessen schon etwas wenig seetüchtigem Dampfer „Viktoria“ gehört, so dass sie ebenso wie die Reederei, deren Eigentum die „Viktoria“ war, wohl annehmen mussten, diese sei in einem Taifun untergegangen und die ganze Besatzung mit umgekommen.
„Und doch haben wir noch eine ganz geringe Hoffnung, dass der Vater noch am Leben sein könnte“, sagte Hans Berger jetzt. „Letztens überbrachte mir nämlich ein Chinese einen Zettel, – es war vor drei Tagen –, der offenbar mit Schriftzügen von meines Vaters Hand bedeckt ist. Ich werde jedoch aus dem Inhalt des Zettels nicht klug, den ich auch befreundeten Kapitänen gezeigt habe, ohne dass diese sich ebenfalls darin zurechtfanden. Dabei trägt das Stück Papier das Datum des 14. März, ist also vor einer Woche ausgefüllt worden, das heißt zu einer Zeit, als wir den Vater als tot zu betrauern bereits nur zu schwerwiegende Gründe hatten.“
Leutnant Reuters Neugierde war geweckt. Mit dem Zettel hatte es offenbar doch eine besondere Bewandtnis. Die Andeutungen des Knaben ließen dies bereits erkennen.
Nach einer halben Stunde waren die Kinder und ihr deutscher Landsmann die besten Freunde, und als Reuter sich von ihnen verabschiedete, sagte er ihnen bestimmt zu, dass er sich ihrer annehmen und diese Angelegenheit, eben das Verschwinden des Dampfers „Viktoria“, weiterverfolgen würde, da sie eines gewissen geheimnisvollen Reizes nicht entbehrte.
Gerhard Reuter war bei einem Bekannten in Hongkong abgestiegen, einem geborenen Berliner, der hier eine gute Anstellung als Ingenieur bei einem Elektrizitätswerk gefunden hatte.
Max Gnuffke, in mancher Beziehung trotz seiner fünfundzwanzig Jahre schon ein Original, hatte seinen Tagesdienst bereits erledigt, so dass der Leutnant ihn in dessen Junggesellenwohnung seiner wartend vorfand und sofort mit seinem Erlebnis herausrücken konnte. Er hatte sich von den Kindern den Zettel geben lassen und zeigte ihn nun dem Freunde mit den nötigen Erklärungen.
Das Stück Papier enthielt nur zehn Worte, die keinerlei Zusammenhang zu haben schienen. Sie waren mit Bleistift geschrieben und halb verwischt. Offenbar war der Überbringer mit seiner Botschaft nicht sehr vorsichtig umgegangen.
Gnuffke, der beinahe zwei Meier maß und abschreckend mager war, zog sein glattrasiertes Gesicht in nachdenkliche Falten und starrte den Zettel wohl fünf Minuten lang, regungslos dasitzend, an, als habe er ein wundervolles Gemälde vor sich.
Reuter wurde ungeduldig und räusperte sich. Da. öffnete Gnuffke auch schon den Mund und sagte, während ein leises Lächeln um seine Lippen spielte:
„Die „Viktoria“ ist keinem Taifun, sondern chinesischen Piraten zum Opfer gefallen. Dieser Zettel deutet darauf hin. Wie Du siehst, lieber Gerd, sind die zehn deutschen Wörter, unter denen noch „14. März 1908“ steht, nicht alle von gleicher Größe, vielmehr sind fünf mit etwas längeren Buchstaben, fünf wieder mit kürzeren geschrieben. Liest man nun erst die größeren, dann im Anschluß die kleineren Wörter, so ergibt sich folgender Satz, der plötzlich einen vielsagenden Sinn hat:
„Süd Spitz Form nach Ost Insel drei Felsen Korsaren Fang“, und dieser Sinn ist: Östlich der Südspitze von Formosa (hier abgekürzt durch „Form“!) liegt eine Insel mit drei (fraglos auffälligen) Felsen, und dort werde ich von Korsaren (also chinesischen Piraten) gefangen gehalten.“
Gerd Reuter stieß einen Ruf der Überraschung aus.
Glänzend, Max – glänzend …!! Natürlich hast Du recht! Nein – wie Du nur auf diese Lösung der rätselhaften Botschaft kommen konntest, – das ist geradezu zum Staunen …!“
„Beruhige Dich! Nichts ist zum Staunen! Nur die Augen muss man zu gebrauchen verstehen! Es gibt Leute mit tadellosen Sehorganen, die doch in jede Pfütze hineinpatschen. Warum? Weil sie nicht gelernt haben, gleichzeitig auf ihre Umgebung und auf ihren Weg zu achten …! – Ich kann sehen. Ich sehe alles. Zum Beispiel auch, dass Du heute Nachmittag in einer Bar warst und Fruchteis mit Whisky genossen hast. Auf Deinem Oberhemd bemerke ich nämlich ein paar kleine Fleckchen, deren Farbe auf Früchte hindeutet. Da Du nun Früchte ohne Alkoholbeimischung nicht gern genießt, wirst Du eben wohl in einer Bar gewesen sein. – Doch nun zurück zu den Kindern und dem Zettel. Ich kann, wenn ich will, jeder Zeit vierzehn Tage auf Urlaub gehen. Ich besitze einen gedeckten Segelkutter, der, versehen mit einer kleinen Kajüte, ganz seetüchtig ist. Mein Sinn steht von jeher auf alles Außergewöhnliche, Abenteuerliche. Was hindert uns also, da auch Du noch drei Wochen faulenzen darfst, nach Kapitän Berger zu suchen?“
Die kurz angebundene Art Max Gnuffkes kannte der Leutnant schon. Wollte man dem Ingenieur nicht die Galle ins Blut treiben, so musste man im Verkehr mit ihm alle Weitschweifigkeiten vermeiden. Daher erwiderte Gerd Reuter auch:
„Ich bin einverstanden. Wann stechen wir in See?“
„Morgen Abend. Und das, was wir an Waffen besitzen, nehmen wir auch mit.“
Durch die grünblauen Fluten des Stillen Ozeans glitt ein schlanker Acht-Meter-Kutter mit prallgefüllten Segeln leicht wie ein weißer Schwan dahin.
Im Westen, wo soeben die Sonne unter dem Horizont verschwunden war, ragten noch wie schwarze Zacken die höchsten Spitzen des Südkaps von Formosa über die weite Meeresfläche hinaus.
Fünf Tage war die „Libelle“, Max Gnuffkes schmuckes, kleines Fahrzeug, nun schon unterwegs. Wind und Wetter hatten ihm ihre Gunst bewiesen. Man war schnell vorwärts gekommen. und soeben erklärte Gerd Reuter dem kleinen Hans Berger, indem er mit dem Finger auf eine Stelle der Seekarte der südchinesischen Gewässer wies, dass man voraussichtlich schon gegen Morgen des nächsten Tages die felsigen Eilande in Sicht bekommen würde, die hier auf der Karte als Pünktchen in ihrer Namenlosigkeit nur angedeutet seien und auf deren einem doch sehr wahrscheinlich Kapitän Berger gefangen gehalten werde, da es sonst östlich von Südformosa keine weiteren Inseln gebe, die als Piratenschlupfwinkel in Betracht kämen.
Es hatte den Kindern viele Bitten und von Seiten der kleinen Herta auch manche Träne gekostet, ehe der Ingenieur nachgegeben und sie mit auf die nicht ganz gefahrlose Reise genommen hatte.
Zu welchem Zwecke die „Libelle“ für zwei Wochen Proviant mitführte und was man eigentlich vorhatte, darüber erhielt niemand in Hongkong Auskunft. Gnuffke wusste nur zu gut, dass die Piraten sicherlich in Hongkong heimliche Verbündete besaßen, die dafür gesorgt hätten, auf diese oder jene Art die Absichten der beiden Deutschen zu vereiteln. Aus Vorsicht waren die Geschwister Berger daher auch erst in letzter Stunde an Bord des Kutters gekommen, ohne einem Menschen vorher etwas von der bevorstehenden Seereise zu verraten.
Der lange Ingenieur saß am Steuer, und neben ihm auf der vertieften Bank lehnte die kleine Herta, die ebenso wie ihr Bruder ganz seefest war, da ihr Vater sie schon einige Male auf der „Viktoria“ bis hinauf nach Schanghai mitgenommen hatte. Reuter und der kräftige Knabe wieder standen vor dem niedrigen Kajütaufbau über die Seekarte gebeugt, auf der der Marineleutnant dem kleinen Landsmann soeben
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag
Bildmaterialien: vss-verlag
Lektorat: Hermann Schladt
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5253-5
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