Düstere Welten – Band 10
Hermann Schladt – Wolfstod – Von Werwölfen und anderen Gestaltwandlern, Band 3
1. eBook-Auflage – April 2015
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Lothar Bauer
Lektorat: Hermann Schladt
Hermann Schladt (Hrsg.)
Von Werwölfen und anderen Gestaltwandlern
Anthologie zum Story-Wettbewerb des vss-verlag
Band 3
Wolfstod
“Von Werwölfen und anderen Gestaltwandlern” ist der zehnte und bisher erfolgreichste Story-Wettbewerb des vss-verlags. Und das nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Sicht.
So sah sich die Jury vor die Mammutaufgabe gestellt, 118 Beiträge bewerten zu müssen. Die meisten trafen erst kurz vor Einsendeschluss ein; viele bewegten sich in ihrer Länge am vorgegebenen Limit. Kein Wunder, dass es fast ein halbes Jahr gedauert hat, bis endlich das Ergebnis verkündet werden konnte.
Und zu den zehn platzierten Storys wurde weitere vierzig Geschichten für würdig befunden, in der Anthologie – besser gesagt in den Anthologien – veröffentlicht zu werden. Ein Beitrag wurde leider vom Autor zurückgezogen, sodass in den fünf Anthologiebänden jetzt 49 Kurzgeschichten veröffentlicht werden.
Wenn man auf das Teilnehmerfeld schaut, ergibt sich ein sehr buntes Bild. Alle „Altersklassen“ sind vertreten, von ganz jungen Autorinnen und Autoren, bis hin zu lebenserfahrenen älteren Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Für etliche ist die Story in diesen Bänden ihre erste Veröffentlichung, andere haben eine Bibliografie, deren Umfang schon fast die Länge eine Shortstory erreicht.
Und ich bin sicher und hoffe von ganzem Herzen, das auch in diesen Anthologien wieder der ein oder andere Name auftaucht, der in der Zukunft einen guten Klang in der deutschsprachigen Literaturszene erlangen wird.
In diesem Sinne nochmals ein herzliches Dankeschön an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer an unseren Wettbewerb, und alles Gute und viel Erfolg beim künftigen Schreiben.
Hermann Schladt
Herausgeber
1. Melanie Brosowski In ihrem Bann
2. Daniel Huster Die letzten Gesichter
3. Karin Jirsak * H *
4. Heike Pauckner Mörder am Fluss
5. Holger W. Jörg Die Geschichte vom Wolfstöter
6. Corinne Hocke Die Farbe der Unschuld
7 Matthias Bäßler Der Ruf des Wendigo
8 Carola Ruder Nachts
9 Nora Spiegel Das Seehundfell
10 Rahel Meister Hungrig
Und hier die neunuddreißg Storys, die ebenfalls veröffentlicht werden:
Schirin Abomaali Der sterbende Wolf
Leonie Arnold Ben
Elisa Bergmann Es ist ein Band von meinem Herzen
Thomas Bilicki Das Tier in mir
Kathrin Breimeier & Sophie Großmann Der Weihnachtsstern
Norbert Faulhaber Terror auf dem Campus
Katharina Glas Agonie
Caroline Gützer Streuner
Ernst-Diedrich Habel Werwölfe im Harz
Andreas Haider Hell in Purgatory City
Bianca Heidelberg Die Füchsin
Marina Heidrich G2 Alpha
Klaus Held Das rauchlose Feuer
Jessica Iser Wolfstod
Philip C. Kasten Blutmond über dem Ebertal
Monika Klein Hallo Fetty
Kerstin Kramer Valeria
Doris Krüger Seelenwechsler
Barbara Ulrike Laimer Einsatz auf CeBaRem
Violetta Leiker Wer einmal lügt
Manfred H. Lipp Feuersturm
Katharina Lohmann Zyklus
Katharina Ludwig Mitena – Das Schattenkind
Gabriel Maier Die Wolfsfalle
Tanja Rosenbaum Schimmer
Paul Sanker Unerwartete Gäste
Maren Schaefer Von Holzpuppen und anderen Menschen
Erik Schreiber Werwolf
Martin Spiegelberg Schwein ist mein ganzes Herz
Ylva Spörle Gerufen
Katharina Stein Erwachender Instinkt
Patricia Strunk Zimmer 26
Björn Sünder Abdrücke
Hagen van Beeck Ein Vampirmädchen Namens Rosalie
Bianca Volz Schattenwein
Wanda Wälisch Roter Schnee
Ich streckte die zu Krallen verkrümmten Hände aus und packte das sich windende Wesen unter mir. So klein und zerbrechlich es doch wirkte, so stark war es auch. So voller Leben, voller Kraft.
Ich vergrub meine Zähne in seinem Fleisch. Ich hatte Hunger! Hunger! So viel Hunger!
Das kleine Wesen kreischte, während ich es lebendig fraß, doch das störte mich nicht. Es machte den Geschmack von Blut und Fleisch nur umso köstlicher. Ich empfand keinen Ekel vor mir selbst. Zu essen, wenn man Hunger hatte, war doch das normalste auf der Welt. Und ich hatte Hunger. So gewaltigen Hunger, dass er mir die Sinne verzehrte. Allein das Essen war wichtig. Nichts anderes zählte mehr. Und ich hörte erst auf, als nichts mehr von dem Menschen übrig war.
Ich hatte ihn verschlungen, mit Haut und Haar. Nicht einen Knochen zurückgelassen. Und doch war mein Hunger nicht gestillt. Ich konnte die Kraft meiner Nahrung in mir fühlen. Ich spürte, wie sie meine Kraft ergänzte. Aber sie sättigte mich nicht.
Ich schrie. Schrie vor Verzweiflung und Verlangen. Schrie in unmenschlichen Tönen, die klangen wie das Röhren eines Hirsches und das Heulen eines Wolfes zusammen. Der Hunger fraß mich auf. Er ließ mich nicht los. Ich musste essen.
Langsam richtete ich mich auf. Ich spürte den eisigen Wind auf mir. Wie tausend Hände zog er an meinem Körper und dennoch störte er mich nicht. Nein, ich hieß die Kälte willkommen, sie war ein Teil von mir. Eine urtümlicher Teil, der schon immer da gewesen war.
Der Wind flüsterte in Stimmen, die ich nicht verstehen konnte. Aber ich verstand sehr wohl den Sinn ihrer Worte. Sie riefen mich. Riefen mich Heim zu meinesgleichen. Riefen mich fort zu neuen Nahrungsquellen. Riefen mich, packten mich, schüttelten mich und riefen erneut.
„Isabella! Komm doch zur dir!“
Der Schlag traf sie mit der Wucht eines Boxhiebes ins Gesicht. Der Schmerz machte sie kurzzeitig blind und unfähig, zu reagieren. Der Mann, der sich über sie beugte, wollte schon zu einem erneuten Hieb ansetzen, als sie endlich die Lage verstand und die Hand hob.
„Schon gut David, ich bin wach.“
Sichtbar erleichtert atmete der Mann eine große Wolke aus. Die Kälte war einer der Gründe, aus dem Isabella den Schmerz des Schlages besonders spürte. Der andere war schlicht und einfach die Kraft, mit der der Mann in dem massiven Pelzmantel auf sie eingeschlagen hatte.
„Geh von mir runter“, forderte sie ihn auf, denn er hatte sich fast auf sie gelegt, als wolle er ihren Herzschlag überprüfen.
Sich der Ungebührlichkeit dieser Haltung bewusst, ließ David schnell von ihr ab, blieb aber nach nur wenigen Zentimetern wieder stehen.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“
Stöhnend richtete sich Isabella auf. Ihr tat alles weh. Und der Schlag hatte daran gewiss nur einen kleinen Anteil. Der Boden, nur abgedeckt durch eine einfache Lage Leder war so tief gefroren, dass ihr jede Erhebung schmerzhaft in den Rücken drückte. Und die Kälte tat natürlich ihr übriges. Inzwischen war sie so sehr ein Teil von ihr geworden, dass Isabella sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wann sie je richtige Wärme empfunden hatte. Die Kälte war ein so urtümlicher Teil ihrer Existenz, wie die Luft die sie zum atmen brauchte.
Sie stockte mitten in der Bewegung mit der sie aufstehen wollte.
Dieser Gedanke kam ihr vertraut vor. Und das nicht in angenehmen Umständen.
„Was hast du“, fragte David besorgt. Sein Blick sagte deutlich, wie genau er ihren Zustand beobachtete und das wohl nicht erst sein einigen Minuten. Dieser Umstand machte Isabella wütend und doch gleichzeitig froh.
„Es geht. Nur ein verrückter Traum“, sagte sie und erhob sich endgültig. Sie stand etwas wacklig auf den Beinen.
„Das muss mehr als nur ein verrückter Traum gewesen sein“, sagte David nur und kam näher, als hätte er Angst, sie könnte nicht auf den eigenen Beinen stehen. „Du hast dich die ganze Zeit hin und her gewälzt. Und du hast um dich geschlagen, als würdest du von irgendwas angegriffen werden.“
Der Gedanke kam ihr gar nicht so abwegig vor, so wie sie sich an die einzelnen Bilder erinnerte. Trotzdem schüttelte sie nur den Kopf. Und um auf ein anderes Thema zu kommen, deutete sie auf das kleine Feuer, um das sich vier Männer versammelt hatte. Sie alle schienen Abbilder von David zu sein. Alle trugen sie die gleichen, abgewetzten Pelze, ihre Bärte waren wirr und ungepflegt, ihre Gesichter aufgerissen und voller Narben von Wind und Eis. Sie war die einzige Frau innerhalb der Gruppe. Und wenn es nach den anderen gegangen wäre, dann wäre sie gar nicht hier. Nicht dass sie es freiwillig war.
„Streiten sie immer noch?“
David nickte.
„Sems und Owl sind dafür, dass wir den Weg zurückgehen und versuchen unser Glück beim Fluss zu finden. Henry und Ghale sind dagegen. Sie diskutieren schon die ganze Nacht.“
Die ganze Nacht ohne Pause? Dann war jetzt wohl der Moment gekommen, vor dem sie alle sich insgeheim gefürchtet hatten. Seit sie auf der Flucht waren, herrschten Spannungen zwischen den beiden Lagern, in die ihre Gruppe zerfallen war. Es war immer nur eine Frage der Zeit gewesen, wann diese Spannungen zu einem richtigen Konflikt werden würden.
„Und wie ist deine Meinung?“
David sah sie und zuckte dann mit den Schultern.
„Ich glaube nicht, dass wir zu entscheiden haben, wohin wir gehen wollen.“
Fast, als wollte es darauf antworten, erhob sich gegen den Wind ein seltsamer und tiefer Laut. Es klang wie das Röhren eines Hirsches, teilweise aber auch wie das Heulen eines Wolfes. Unmöglich zu sagen, welches von beiden ihnen mehr Angst machte.
Die Männer unterbrachen ihre Diskussionen, griffen zu den Waffen und starrten in alle Richtungen gleichzeitig. Denn es war unmöglich zu sagen, woher die Schreie gekommen waren. David stellte sich schützend vor Isabella, als könne er die Gefahr von ihr fernhalten.
Nach einer Weile – einer gefühlten Ewigkeit – beruhigten sich alle wieder. Die Männer legten ihre Repetiergewehre wieder auf den Boden und David ließ von ihr ab. Zum Teil bedauerte Isabella den Verlust seiner Nähe. Immerhin war David ihr Verlobter. Genau genommen hätten sie längst verheiratet sein sollen.
Ein anderer Teil in ihr aber war froh, dass er sie losließ. Als einzige Frau hier musste sie sich auch so schon genug Blicke und Bemerkungen von den anderen Männern gefallen lassen. Alles was sie tat, schien ihr als typisch weibliche Schwäche ausgelegt zu werden. Allein die Tatsache, dass sie hier draußen auf jede Hand und jedes Paar Augen angewiesen waren, hatte die Trapper zu bewogen, sie in ihrer Mitte zu dulden. Von Akzeptanz war aber keine Rede.
„Geht das schon länger so“, fragte Isabelle und wickelte sich tiefer in ihren eigenen Mantel ein.
David konnte nur nicken.
„Schon etwa die halbe Nacht. Er ist da draußen und lässt uns wissen, dass er uns nicht entkommen lassen wird.“
Wie hatte sie nur so tief schlafen können, dass sie das nicht gehört hatte? Isabella musste den Kopf über sich selbst schütteln.
Der Wind war zwischenzeitlich wieder aufgekommen und zog jetzt wieder mit aller Kraft an ihrer Kleidung. Die Kälte verbiss sich in ihren Knochen. Immer wenn sie dachten, dass sie sich langsam an das alles gewöhnt hatte, schien die Natur in diesem unwirklichen Teil Amerikas nur allzu bereit, ihr zu zeigen, dass sie geirrt hatte.
„Komm“, sagte David und legte den Arm um sie. Sie wies ihn nicht ab. Mochte das auf die anderen Männer aussehen wie es wollte. Seine bloße Nähe gab ihr zumindest den Anschein von Wärme.
Gemeinsam gingen sie zu dem Feuer, warfen eine kurzen Blick in die Runde und setzten sich, als keiner sie begrüßte.
„Du hast es gerade gehört“, rief die Stimme, hinter der sie Owl zu erkennen glaubte. „Das Ding ist immer noch da draußen. Und wir laufen geradewegs auf es zu. Verdammt Henry, so verbohrt kannst doch nicht mal du sein! Wir müssen hier weg!“
Der Angesprochene stieß eine weiße Wolke aus.
„Am Fluss gibt es keine Versteckmöglichkeit. Das hast du selbst gesehen. Dort wären wir ihm ausgeliefert. Deshalb sind wir hier. Zwischen all den Bäumen und der Felswand in unserem Rücken haben wir genug Verstecke.“
„Verstecke“, Owl spuckte aus. „Du meinst wohl Fallen. Das Vieh hat uns genau da, wo es uns haben wollte.“
„Immer vorausgesetzt, dass es überhaupt denken kann.“
Die Stimme gehörte zu Ghale. Die Männer sahen ihn kurz an, aber keiner reagierte auf seinen Einwand. Sie hatten es schon lange aufgegeben.
„Ich bleibe dabei: Hier sind wir wie das Futter auf dem Teller. Wir müssen umkehren. Am Fluss können wir viel schneller laufen. Vielleicht sind wir schon morgen aus seinem Jagdgebiet heraus.“
„Wer von uns beiden ist jetzt verbohrt? Denk doch mal nach: Das Ding da draußen hat uns den ganzen Weg bis hierher verfolgt. Denkst du denn, dass wir ihm einfach davonlaufen können?“
Das konnte noch den ganzen Rest der Nacht und auch den ganzen Tag lang so weitergehen. Isabella und David sahen sich an und gaben sich stumm zu verstehen, dass sie das Gleiche dachten.
„Ich glaube immer noch, dass wir uns in seinem Revier befinden müssen“, warf Ghale wieder ein. „Es gibt Tiere, die große Gebiete für sich beanspruchen. Wir könnten seit Tagen in seinem Jagdgebiet herumlaufen, ohne es zu merken.“
Alle schüttelten nur stumm die Köpfe. Ghale war gewiss ein kluger Kopf, aber seine Fähigkeit, der Wirklichkeit zu entkommen, war hier draußen nicht gerade eine Hilfe. Noch immer beharrte er darauf, dass ihr Verfolger nicht mehr war als ein Tier. Ein seltsames exotisches Tier, wie es viele hier in Amerika waren. Aber gewiss nicht mehr. Und mit dieser Meinung ignorierte er alles, was sie in den letzten Nächten erlebt hatten, alles was ihren Kameraden zugestoßen war.
„Leute, so kommen wir nicht weiter“, Davids Stimme riss die Männer aus einer erneuten Debatte. „Es ist egal, wo wir hin laufen, das Monster wird uns weiter verfolgen.“
Alle blickten ihn stumm an. Natürlich wussten sie, dass er Recht hatte. Aber er und Isabella waren für die rauen Männer immer noch nichts weiter als der klägliche Rest der Gruppe, die sie zu ihrer neuen Siedlung hatten bringen sollen. Das bedeutete, dass sie nichts zu sagen hatten, sondern nur ihre Anweisungen befolgen sollten.
„Wir müssen endlich aufhören, wegzulaufen. Je weiter wir von den Wegen abkommen, desto mehr verirren wir uns.“
„Darum ja der Fluss“, griff Owl Davids Worte auf. „Von dort finden wir den Weg zurück viel schneller.“
David ignorierte ihn.
„Nein, wir müssen kämpfen. Wir müssen dieses Monstrum erledigen!“
Kein Wort. Nur der Wind der heulend über sie strich und drohte, ihr einziges Feuer zu erwürgen. Keiner machte sich die Mühe, auf Davids Einwand zu reagieren. Bis auf den ansonsten stummen Sems.
„Blödsinn!“
Mit einem Wort hatte er alles zusammengefasst, was sie – auch Isabella – dachten.
Sie zog David sacht an Ärmel.
„Ich finde auch, dass das Selbstmord wäre. Hast du denn vergessen, wie dieses Ding unter unserem Trek gewütet hat?“
Natürlich hatte er das nicht. Das hatte keiner von ihnen. Wie könnte man so etwas vergessen? Das Monster war mitten in der Nacht gekommen. Nein, eigentlich war es einfach aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sich auf die Wagen geworfen. Danach war alles zu einem Kaleidoskop aus Schreien, Schüssen und blanker Todespanik verkommen. Selbst wenn sie sich ganz fest konzentrierte, konnte Isabella nicht sagen, was genau in jeder Nacht vorgefallen war. Sie wusste nur noch, dass sie um ihr Leben gerannt waren. Und am nächsten Morgen hatten sie das ganze Massaker sehen können. Nun waren sie alles was von ihrer Gruppe aus fast zwanzig Männern und Frauen und mehr als zehn Pferden übrig geblieben war.
War das wirklich erst vor zwei Nächten passiert? Isabella hatte noch immer nicht verarbeitet, was damals geschehen war. Sie schaute hinauf zum Himmel, wo noch immer der Vollmond hing, der aber bereits an Abnehmen war. Ja, das waren wirklich nur zwei Nächte gewesen. So unglaublich ihr das auch vorkam.
Nein, kämpfen war sinnlos. Nicht gegen dieses Ding. Diese Naturgewalt. Und das dachten auch alle anderen. Keiner ging auf Davids Vorschlag weiter ein.
„Wir müssen hier weg“, setzte Owl fort. „Ist mir egal wohin. Aber wir können nicht länger hier bleiben. Hier laufen wir dem Ding direkt in die Falle.“
Erneut erklang der tiefe Ruf des Monster, dass sie jetzt seit Tagen verfolgt. Mit einer überraschende Gleichzeitigkeit griffen die Männer nach ihren Waffen, aber wie zuvor war der Schrei alles, was sie von ihm zu hören bekamen.
„Es spielt mit uns“, meinte David nur.
„Unsinn“, widersprach Ghale. „Es liegt in der Natur aller Tiere, dass sie sich von Menschen und Feuer fernhalten. Sicher treibt es sich hier in der Gegend herum, weil es uns nicht aus den Augen lassen will.“
Sie waren alle zu müde, um sich noch länger mit Ghales Fantasien zu befassen.
„Ich schlage vor, dass wir abstimmen“, rief Owl. „Dann hat das Ganze endlich ein Ende. Der Vorschlag der Gruppe wird akzeptiert, egal wie er ausfällt.“
Er sah ihnen allen ins Gesicht. Sie nickten.
Langsam näherte sich der Mond dem Horizont. Doch noch immer hatten sie keine Ahnung, wohin sie eigentlich gingen. Owl lief vor ihnen und hatte die Tranlaterne bei sich, die letzte die ihnen geblieben war. Aber auch er schien nicht wirklich erkennen zu können, wohin sie gehen mussten.
Nun, wer konnte ihm das Übel nehmen. Der Schneesturm nahm mit jeder Sekunde zu. Die Flocken fielen ihnen wie weiche Blätter vor die Augen und machten es unmöglich länger als ein paar Sekunden klar zu sehen.
Und dazu hatte sich die Bestie offenbar endlich entschieden, was sie tun wollte. Sie folgte ihnen. In der letzten Stunde hatten sie seinen Ruf wenigstens viermal gehört. Und jedes Mal war es Isabella näher vorgekommen.
Sie musste sich nicht zu David umsehen, der am Ende ihres Trosses ging. Sie wusste, dass er das auch dachte. Wahrscheinlich dachte es jeder.
„Das bringt nichts“, rief Henry gegen den Wind. „Wir sehen kaum die Hand vor Augen. Lasst uns umkehren. Wir können es immer noch in die schützenden Bäume zurückschaffen.“
Die Bestie heulte erneut und übertönte damit Henrys Worte. Diesmal war Isabella sich sicher, dass es noch näher war.
„Du kannst gerne gehen“, meinte Owl. Sie konnte ihn nur anhand des umher wedelnden Lichts sehen, das von der Laterne ausging. „Wir anderen gehen weiter.“
„Ach und wohin?“
Bitte nicht jetzt!
Isabella biss die Zähne zusammen, um wieder ein wenig Gefühl in ihr Gesicht zu bekommen. Der Wind hatte auch das letzte Fünkchen an Wärme längst aus ihnen gefegt..
„Hebt euch das für später auf“, rief Ghale und stellte sich demonstrativ zwischen die Männer, während er seine Waffe an die Brust drückte. „Wir können nicht zurück. Das Tier kommt immer näher. Außerdem glaube ich auch nicht, dass wir in diesem Sturm unsere Spuren wiederfinden würden. Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter geradeaus zu gehen.“
Seine einfache und bestechende Logik brachte selbst die beiden Streithähne dazu, sich noch eine Weile zu vertragen. Aber es war klar, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Henry und Owl hatten vom ersten Tag an Probleme miteinander gehabt. Allerdings hatte auch das unausgesprochene Abkommen geherrscht, dass Henry der Führer ihres Trecks gewesen war. Er hatte von ihnen allen die meiste Ahnung von dieser Gegend. Doch seit jener schrecklichen Nacht war Owl nicht mehr bereit, diesen Status anzuerkennen und ließ keine Gelegenheit aus, Henrys Autorität zu untergraben.
Das Ganze konnte nur schlecht enden. Von allen möglichen Zeiten, zu denen die beiden Männer ihren Konflikt austragen konnten, war dies hier der Schlechteste.
Doch für den Moment herrschte noch Friede. Also gingen sie weiter. Isabella trat aus und wäre fast beim ersten Schritt wieder eingebrochen. Ihre Beine waren vollkommen taub. Und noch schlimmer als das, was ihr Körper erdulden musste, war das, was ihrem Verstand zusetzte.
Es war der Wind. Isabella konnte es nicht beschreiben, aber etwas war im Wind. Etwas Rufendes. Nicht eine, sondern tausend Stimmen, die alle dieselben unverständlichen Worte sprachen. Und alle riefen sie etwas in ihr an. Etwas, das seit jenen seltsamen Träumen nicht mehr aus ihren Inneren gewichen war.
Sie merkte, dass sie zu taumeln begann und zwang sich mit Schmerz dazu, ihre Gedanken jetzt auf die Gegenwart zu richten. Langsam kamen Schritte näher. David hatte seinen Posten verlassen und blickte sie fragend an. Sie wollte lächeln, ihm zeigen, dass es ihr gut ging. Aber solch eine Lüge konnte sie ihm nicht bieten.
„Du brauchst eine Pause!“
Die brauchten sie alle. Und Isabella wollte nicht all die Vorurteile der Trapper bezüglich Frauen untermauern, indem sie als Erste um einen Moment des Verschnaufens bat.
„Ich kann noch weiter.“
David schüttelte den Kopf. Noch vor einer Stunde hatte er sie mit kalter Missachtung gestraft, weil sie zu denen gehört hatte, die sich Owls Vorschlag angeschlossen hatten. Damit war sie an ihrer jetzigen Situation nicht ganz unschuldig. Aber das war vergangen und vergessen.
„Glaub mir, ich kann noch weiter.“
Und das war nicht einmal gelogen. Gewiss, sie war erschöpft. Sie war müde und sie fror mehr, als je in ihrem Leben zuvor. Aber sie spürte auch, dass sie noch nicht am Ende war. Und das war es vielleicht, was ihr die meiste Angst machte. Isabella hatte sich nie für eine starke Frau gehalten. Wehrlos war sie nicht, aber gewiss keine Kämpferin und erst recht niemand, der wochenlang durch die eisige Kälte stapfen konnte. Jetzt aber spürte sie eine neue Kraft in sich. Eine Kraft die aus dieser Kälte und dem Sturm Energie zu beziehen schien und sie weiter antrieb, als sie je gedacht hatte, zu kommen.
David schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts. Wahrscheinlich verstand er ihren Entschluss falsch und hielt sie für halsstarrig. Nun gut, sollte er. Das war immer noch besser als die Wahrheit.
Noch über diesem Gedanken brütend, traf Isabellas Fuß plötzlich gegen etwas. Der Kontakt kam so plötzlich, dass sich nicht reagieren konnte und kopfüber in den Schnee stürzte. Und da er nicht besonders tief war, war es praktisch eine Landung auf dem Boden.
„Isabella!“
David griff sofort zu, um sie wieder aufzurichten. Der übrige Tross hielt an. Von hinten näherte sich Sems. Er hielt das Gewehr immer schussbereit und sicherte sie jetzt nach allen Richtungen ab, während David ihr wieder auf die Beine half.
Isabella spürte die Blicke der Männer auf sie und ahnte, was sie über ihre Schwäche dachten. Und es machte sie wütend. Auch wenn sie eine Frau war und damit körperlich weniger robust als ein Mann, sie war ein Teil dieser Gruppe und damit genauso wichtig wie alle anderen.
„Es geht schon“, sagte sie und löste sich heftiger aus Davids Armen, als sie es gewollt hatte. Aber der ließ es diesmal nicht damit bewenden.
„Wir müssen eine Pause machen“, rief er.
„Nein“, rief Owl zurück. Der Wind hatte gerade etwas nachgelassen, so dass sie sich wieder einigermaßen verstehen konnten. „Keine Zeit.“
„Wir laufen jetzt seit Stunden, bald ist Morgen.“
„Ein Grund mehr sich zu beeilen“, rief Ghale. „Dieses Wesen hat uns bisher immer nur bei Nacht angegriffen. Wenn wir jetzt weiterlaufen, dann entkommen wir ihm vielleicht.“
David wollte noch etwas sagen, aber Isabella hielt ihn davon ab. Sie verstand, dass er für sie arbeitete, aber sie wollte keine Sonderbehandlung.
Sie setzte eine Hand in den Schnee, um sich daran aufrichten zu können und blieb plötzlich stehen. Ihre Finger erfühlten etwas.
„Was ist denn noch“, schrie Henry. Jetzt war sie das Ziel all seiner schlechten Laune. Aber darauf achtete Isabella gar nicht. Sie ließ sich auf die Knie herab und wühlte im Schnee. Dann bekam sie das zu fassen, was sie zuvor nur erahnt hatte.
Wenige Sekunden später hielt sie einen großen Stein in die Höhe. Nur dass es kein Stein war. Es war ein menschlicher Schädel, blank und weiß.
Gleichzeitig schrie die Bestie ihnen aus dem Wind entgegen. Das Ganze war eine so unheilvolle Kombination, dass sich diesmal keiner der Männer rührte.
„Das ist kein gutes Zeichen“, meinte Henry und schlug das Kreuz. Isabelle hätte ihn nie für einen so gläubigen Menschen gehalten. Aber so erging es allen, wenn sie in einer lebensbedrohlichen Situation steckten. Sie zeigten Seiten an sich, die sie sonst keinem offenbarten. Oder selbst nie zuvor gekannt hatten.
David ließ sich neben sie nieder und begann nun ebenfalls im Schnee zu wühlen.
„Da ist noch mehr!“
Sofort liefen alle zu ihnen. Sie vergaßen ihren Streit und auch die Gefahr, der sie hier ausgesetzt war. Das schlichte und grundlegende Bedürfnis, über das Schicksal andere Menschen Bescheid zu wissen, übernahm jetzt die Kontrolle.
Sie gruben und scharrten. Isabellas Hände, die schon zuvor vom Wind aufgerissen waren, begannen jetzt erst recht zu bluten. Aber darauf achtete sie nicht.
Nach wenigen Minuten hatten sie den gesamten Boden im Umkreis von fünfzehn Schritten freigelegt. Was sie fanden war wie ein prophetischer Albtraum ihrer eigenen Zukunft. Neben dem einen Skelett, über dass sie gestolpert war, lagen hier noch fünf weitere. Die zerfetzten Reste ihrer Kleidung waren so fest an den Boden gefroren, dass sie sie nicht mehr lösen konnten.
Keiner sprach. Sie alle standen nur da und starrten hinab auf die Gruppe von Toten, die sie freigelegt hatten.
„Das war dieses Monster“, sagte David als Erster.
Sie mussten sich nicht verständigen. Sie alle dachten in diesem Moment das Gleiche. Flucht war keine Chance. Nicht vor dieser Bestie.
Ghale ging auf die Knie und hob einen großen Oberschenkelknochen auf. Trotz des Windes und des Schnees versuchte er ihn zu lesen, als wäre er ein Buch. Owl kam zu ihm und spendete ihm mit der Lampe Licht.
Selbst gegen den Wind konnte Isabella erkennen, wie bleich Ghale wurde.
„Das war nicht die Bestie“, sagte er schließlich.
„Was soll der Blödsinn“, rief Henry. „Was soll es denn sonst gewesen sein? Zu dieser Jahreszeit kommen nicht einmal die Wölfe aus ihren Löchern.“
Ghale hielt den Knochen hoch, so dass sie alle ihn sehen konnten. Dabei deutete er auf einige Risse in ihm. Es war eine grausame Laune des Schicksals, dass gerade in diesem Moment der Wind fast abflaute und sie alles sehen konnten.
Der Knochen zeigte eindeutig Spuren von Zähnen. Etwas hatte an ihm genagt. Aber die Größe der Abdrücke war kleiner als sie dass bei einem Wolf oder auch einem Puma sein dürfte. Und sie waren nicht alles. Neben den Abrücken zeigten sich klare Einschnitte, die nur von einem Messer stammen konnten.
Henry wischte sich über das Gesicht.
„Das muss nichts bedeuten.“
Ghale stand auf und legte den Knochen wieder an seinen Platz. Dann blickte er zu ihr, als hätte er Angst davor, die Worte die jetzt kommen mussten in Gegenwart einer Frau auszusprechen.
„Diese Spuren stammen nicht von einem Tier und das weißt du genau. Das waren Spuren von Menschen.“
„Blödsinn!“, keifte Henry und fuhr sich weiter hektisch über das Gesicht. „Kein zivilisierter Mensch würde so etwas tun.“
„Du kennst die Geschichten ebenso gut wie ich. Du weißt, was bei manchen Treks passiert ist, wenn sie in Schnee und Eis verloren gegangen waren.“
„Blödsinn!“, schrie Henry noch einmal. „Die Spuren können weiß Gott wie alt sein.“
„Ja, alt sind sie sicher. Aber ihre Herkunft ist gewiss.“
Dann blickte er noch einmal zu ihr. Ausgerechnet jetzt schien er sich daran zu erinnern, dass es Dinge gab, die man in Gegenwart einer Frau nicht aussprach. Aber es gab nichts an der Wahrheit zu beschönigen.
„Diese Leute wurden von anderen Menschen getötet!“
„Sei still!“
„Und gegessen!“
Henry verpasste Ghale einen Schlag ins Gesicht. Der taumelte, fing sich aber nach einigen Schritten wieder. Aus seiner Nase floss Blut, was er nicht einmal zu merken schien. Er blickte Henry starr an.
„Du kennst die Geschichten ebenso wie ich. Es hat keinen Sinn, sie leugnen zu wollen.“
Henry gab einen undeutlichen Laut von sich, blieb aber ruhig. Es war dann David, der das Wort an Ghale richtete.
„Das ist doch nicht wahr? Ich meine, so etwas tut doch kein Mensch.“
Ghale konnte ihn nur traurig ansehen.
„Wenn der Hunger übermächtig wird, nimmt man sich alles, was man essen kann.“
Alle Augenpaare richteten sich auf Isabella. Es war immerhin das erste Mal, dass sie direkt zu ihnen sprach und nicht durch David zu ihnen.
„Hunger ist das Schlimmste, was es gibt. Er bringt Menschen nicht schnell um, sondern langsam. Zu Verhungern kann Wochen dauern. Kannst du dir vorstellen, was es heißt, einen Monat lang nichts zu essen zu haben? Zu spüren, wie dein Körper beginnt, sich selbst zu verzehren, getrieben von dem verzweifelten Versuch, irgendwoher Kraft zu bekommen.“
Die Männer starrten sie schweigen an. Mit diesen wenigen Worten hatte sie ihnen gezeigt, dass sie keine schwache Frau war. Sie war eine von ihnen. Eine Kämpferin in einer Welt voller Feinde.
„Warum redest du so“, David blickte sie fast entsetzt an. „So kenne ich dich gar nicht.“
So kannte sie sich auf nicht. Aber sie konnte es spüren. Den Hunger, der noch immer an diesem Ort haftete. Diese Menschen hier waren voller Verzweiflung gewesen, angetrieben allein von der Urkraft des Hungers, geplagt von einem Instinkt, der allen lebenden Wesen gemein war und der jedes von ihnen antrieb.
Hinter ihnen brüllte die Bestie wieder auf.
Sie rissen sich von ihren Gedanken los und stellten sich Rücken an Rücken. Der letzte Schrei war so nahe gewesen, dass sein Ursprung unmöglich weit weg sein konnte. Die Bestie hatte sie gestellt. Die Jagd war zu Ende.
Sems drückte Isabelle sein Gewehr in die Hand. Einen Moment lang blickte sie ihn erstaunt an. Bislang hatte keiner der Männer sie eine der Waffen auch nur halten lassen. Dann griff sie zu und hielt den tödlichen Stab von sich weg. Jetzt gab es keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen mehr. Jetzt ging
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag
Bildmaterialien: vss-verlag, Lothar Bauer
Lektorat: Hermann Schladt
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2015
ISBN: 978-3-7368-9146-3
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