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Vorspann

Terra Utopia – Band 30

Jürgen vom Scheidt – Männer gegen Raum und Zeit

1. eBookAuflage – April 2015

© vss.verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.pixabay.com/

Lektorat: Chris Schilling

 

 

 

Jürgen vom Scheidt

 

 

Männer gegen Raum und Zeit

 

 

 

Inhalt

 

1. Entdeckung

2. Der Zeitraffer

3. Auf der dunklen Sonne

4. Sieg über die Zeit?

5. Erkenntnis und Suche

6. Unter Silbersonne und Doppelmond

7. Der unglaubliche Kristall

8. Das Gesetz

9. Heimkehr

10. Sprung durch die Vierte Dimension

11. Das neue Zeitalter

12. Ausklang

Nachwort 2015: Eine Zeitreise der ganz anderen Art

 

 

Die Personen des Romans

 

Besatzung des Forschungsraumschiffs Magellan:

Rani Tan – Terraner und Kommandant

Asek Xirr Tubalek – Marsianer und Astrogator

Barno Purr-Kach – Lakaner aus dem Siriussystem und „linke Hand“ von → Rani Tan

(und zuständig für die Bewaffnung und Vereteidigung des Schiffes)

Prinn Dabor – Venusianer und Astrogator

Linni Brown – Terraner aus dem Kongo und Astrogator (zugleich Schiffskoch)

Kido Dunskethe – Terraner und Hilfsastrogator (Praktikant), später Kommandant

eines eigenen Raumschiffes

Alin ker Fugato tä Hischinu – Paradone von einem Planeten im Mirionnebel (der

Gefangene im Kristall“)

Pongor Dawal-Sin – Kommandant des Raumkreuzers Kikan

Sardos Kerfju – Freund von → Rani Tan auf Toliman

Sika Kerfju – Tochter von Sardos K. und Freundin, später Frau von → Kido

Dunskethe

 

 

1. Entdeckung

 

„… ein äußerst interessantes Systemˮ, wandte sich Kommandant Rani Tan an seine Mitarbeiter vom technischen Stab der Magellan. „Seht es euch gut an! Ein Siebengestirn - bisher einmalig in der gesamten Milchstraße. Natürlich keine Planeten.“

Neugierig drängten sich die Raumflieger vor der klaren Sehfläche, die das halbe Rund der Kabine bedeckte. Sieben zuckende Flammenbälle schwebten in majestätischer Größe vor dem sternübersäten Hintergrund. Ungeheure Gluteruptionen brachen aus dieser oder jener Feuerkugel und sanken wieder zurück ins ursprüngliche Element. Es waren vier Sterne vom Spektraltyp G5 - der Heimatsonne Sol entsprechend -, dazu ein weißer und ein roter Zwerg und als Krönung des gewaltigen Fixsternstaates: ein Blauer Riese!

„Es ist das prächtigste System von Sonnen, das ich je gesehen habe, und ich bin schon ganz schön in der Galaxis herumgekommen“, ergänzte der Kommandant. Entdeckerfreude gepaart mit Güte und Weisheit sprach aus seinem zweihundert Jahre alten Antlitz. Seine Augen wanderten über die Gesichter der Gefährten, in denen sich das große Erstaunen über dieses kosmische Wunder abzeichnete. Schließlich blieben sie an dem jungenhaften Profil des Ko-Astrogators haften. Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen des Kommandanten, als er fragte:

„Na, Kido, kannst du uns erklären, wie dieses stellare System entstanden sein könnte?ˮ

Langsam drehte sich der junge Mann um: „Erst vor einer Stunde habt ihr mich über den Aufbau des Andromedanebels ausgefragt, und jetzt quält ihr mich mit diesem Problem. Meine arme graue Masse! Wenn das so weitergeht...ˮ

Das Gelächter der Freunde unterbrach ihn.

„Was deine graue Masse betrifft, habe ich meine eigene Vermutungˮ, schmunzelte der Kommandant und setzte hinzu: „Du nimmst an diesem Forschungsflug teil, um deine kosmonautischen und astrophysikalischen Kenntnisse zu vervollständigen - nicht zu deinem Vergnügen! Nachdem du wegen des ungünstigen Abflugtermins das Studium vorzeitig abbrechen musstest, ist es als Leiter dieser Expedition meine Pflicht, dich in der Raumpraxis zu unterrichten und eben auch über theoretische Dinge auszufragen.ˮ

Er hielt einen Augenblick inne, um die Wirkung seiner Worte zu erforschen - Kido schaute allerdings nicht gerade geknickt aus - und fuhr dann fort:

„Lassen wir das jetzt. Es gibt im Moment Wichtigeres zu tun. Ich messe das Einstein’sche Feld aus? Barno und Linniˮ (er deutete auf die beiden neben ihm Stehenden) „helfen dabei. Inzwischen überwacht Asek das Schutzfeld, Prinn und Kido machen die Sonden bereit. ˮ

Die Bezeichneten nickten und eilten, vom künstlichen Schwerfeld gehalten, auf ihre Posten. Messinstrumente und Peilgeräte wurden einsatzbereit gemacht. Obwohl die Männer - bis auf Kido - an solche Arbeiten gewöhnt waren, wurde die Steuerzentrale von jener bezeichnenden erregten Atmosphäre beseelt, die eine solche Situation mit sich bringt. Sie wurde verstärkt durch den Reiz des Außergewöhnlichen.

 

*

 

Es war soweit. Pausenlos erteilte der Kommandant die Einsatzbefehle. Die fieberhafte Spannung war einer gelockerten, beinahe sorglosen Aufmerksamkeit gewichen. Die erste Feldsonde raste mit annähernder Lichtgeschwindigkeit aus dem Leitrohr; zwei weitere folgten unmittelbar. Auf überschnellen Wellen gelangten die Messergebnisse zurück ins Schiff, wurden dort von Kido Dunskethe und Prinn Dabor abgelesen und an den Kommandanten weitergegeben. Dieser tippte sie, zusammen mit Strahlungsdichte und Spektralanalyse, die inzwischen von Barno Purr-Kach und Linni Brown ermittelt worden waren, in das Gehirn. Winzige Impulse rasten durch die endlosen Silberleitungen der mathematischen Zentrale, wurden übereinander geblendet und wieder getrennt. Kurze Stromstöße verstärkten die Elektronenbotschaften, fehlende Werte wurden sofort durch das Gedächtnis, eine riesige Speicherzelle, ergänzt.

„So, das wär's“, beendete Rani die Untersuchungen und fuhr zu Kido gewendet fort: „Du hast dich gut gehalten. Dein Vater kann stolz auf dich sein!“

„Ich werde mich anstrengen“, versicherte Kido, hocherfreut über das Lob und dachte an seinen Vater, der Kommandant der sechsten Siedlerflotte war und zurzeit im Raum Formalhaut ein gigantisches Kolonisationsprojekt leitete.

Jetzt blitzten farbige Kontroll-Lämpchen auf, und Sekundenbruchteile später flog eine ovale Kunststoffscheibe aus dem Auswurfschlitz des Elektronengehirns in die wartende Hand des Kommandanten. Mit der Erregung des Forschers, der einer neuen Entdeckung gewiss ist, nahm Rani die Karte in Empfang und studierte die bunten Kurven und Symbole. Seine Lippen murmelten unverständliche Begriffe; seine suchenden Augen glitten hastig über die Tafel. Dann ging er zum Bücherschrank, blätterte in einem dicken Folioband, eilte wieder zum Schaltpult und jagte neue Zahlen in das Gehirn.

Fast eine Stunde verging in entnervender Spannung. Dann sank der Kommandant müde in den nächsten Sessel und schloss die Augen. Aber diese Erschöpfung war nur äußerlich. Hinter der hohen Stirn war sein rastloser Geist bereits mit der Auswertung des Gefundenen beschäftigt. Endlich schien er mit seinen Überlegungen am Ende zu sein. Er richtete sich auf und öffnete die Augen, in denen Befriedigung funkelte. Dankbar nahm er einen Becher erfrischenden Arkturweines entgegen, den ihm Linni gefüllt hatte, und leerte ihn in großen Zügen. Das Getränk regte den Blutkreislauf an und gab ihm neue Spannkraft.

„Meine Vermutungen über dieses System sind von den Messergebnissen und durch das Robotgehirn bestätigt worden. Das Einstein’sche Feld, gebildet von den äußerst unterschiedlichen Massen der sieben Sonnen, ist nicht stabil. Die geringste Veränderung würde die Feldlinien, also die Raumkrümmungen, vollkommen umbilden. Weiterhin habe ich bei diesem Felddiagramm“ (er hob erläuternd das Kunststofftäfelchen hoch) „eine Ausbuchtung entdeckt. Das bedeutet, dass irgendwo in der Nähe ein weiterer Weltkörper vorhanden ist. Ich warte nur noch auf das Feldmodell; es scheint sehr schwierig zu sein, weil es so lange dauert.“

In gespannter Erwartung sahen alle auf eine quadratische Klappe, die im Augenblick noch geschlossen war.

Da - ein Klingelzeichen! Die Luke öffnete sich, und ein seltsam aufgebauschtes, durchsichtiges Gebilde schwebte träge in die weite Kabine. Es war eine schwerelose Ansammlung von reiner Energie, denn nur reine Energie kann raumzeitliche Zusammenhänge, wie sie ein Gravitationsfeld bildet, darstellen. Diese unwirklich-wirkliche Wolke glühte in allen Spektralfarben vom Infrarot bis zum Ultraviolett. Diese beiden Extremwerte konnten jedoch nur die überempfindlichen Mutantenaugen Ranis wahrnehmen. Für seine Mitarbeiter blieben solche Grenzbereiche des Spektrums unsichtbar. Weil aber gerade diese Wellenlängen für das Darstellen und modellmäßige Erkennen der Raumkrümmungen wichtig waren, kam es, dass nur sehr wenige Forscher, bei denen die Augengene durch Radiobestrahlung sprunghaft verändert worden waren, ein vierdimensionales Modell rein anschaulich erfassen konnten.

„Na, endlich, da ist es ja! Linni, den Führungsstrahl bitte."

Der untersetzte Kongoneger ging in der ihm eigenen schleifenden Gangart zu einer schmalen Schalttafel an der Vorderfont der Rechenmaschine und stellte die erforderlichen Werte ein. Der feine, schmalgebündelte Antigravitionsstrahl fingerte aus einer winzigen Öffnung über den jetzt toten Kontrollbirnchen, berührte die Energiewolke und schob sie, allen gut sichtbar, in die Mitte der kugeligen Zentrale.

„Etwas mehr nach rechts - so ist es richtig. Und jetzt noch den UV-Filter für eure Augen.“

Ein engmaschiges Lichtgitter legte sich zwischen Objekt und Beschauer. Es beugte die unsichtbaren Wellen und machte sie durch eine geringe Veränderung ihrer Eigenfrequenz sichtbar. Rani hob einen kurzen Stab und drückte den einzigen Stellknopf. Mit dem grünlichen Zeigestrahl, der daraus hervorstach, deutete er auf einige verschieden große Punkte in der Feldwolke: „Hier sind die sieben Sonnen und die dazugehörigen Krümmungen des Raum-Zeit-Gefüges. Zu schade, dass eure Augen für Grenzfarben nicht aufnahmefähig sind. Wenn ich den Lichtfilter wegnehme, seht ihr zwar die Farbenpracht der Sonnen, aber dafür könnt ihr das dazugehörige Feld nicht mehr wahrnehmen.“

Dann deutete er auf eine kaum sichtbare Ausbuchtung am Rande des räumlichen Modells.

„Das kann meines Erachtens nur ein Dunkelstern sein“, bemerkte Linni.

„Das ist möglich!ˮ nickte der Kommandant.

So schnell, wie es entstanden war, verschwand das Lichtgitter wieder. Aufmerksam untersuchte der Gelehrte die diffuse Energiewolke und sagte schließlich bestätigend: „Du hast recht, Linni. Es ist eine erkaltete Sonne, eine ganz beachtliche sogar. Seltsam ist nur, dass der dazugehörige Bezirk des Raum-Zeit-Feldes so schwach ausgebildet ist.“

„Vielleicht besitzt der Dunkle eine geringe Dichte“, warf Kido ein, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war. Der gelbhäutige Marsianer Asek Xirr Tubalek, der in lässiger Haltung im Pilotensessel saß und die Flugbahn der Magellan überwachte, verbesserte:

„Soviel ich weiß, besitzen erkaltete Sterne immer eine sehr hohe Dichte, weil sie das Endstadium einer roten Zwergsonne darstellen...“

„Halt, Asek“, entgegnete Rani Tan. „Denk an die Dunkelwolken, die große Räume der Milchstraße ausfüllen Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese interstellare Materie durch einen Auflockerungsprozess im Inneren eines Dunkelsternes entsteht. Oder habt ihr vielleicht schon daran gedacht, dass die ungewöhnliche Beschaffenheit dieses Einsteinschen Feldes eine teilweise natürliche Aufhebung der Schwerkraft bewirkt haben könnte?“

Er wandte sich wieder den Instrumenten zu. Das Bild des Siebengestirns, bisher in fast greifbarer, plastischer Wirklichkeit den Bildschirm bedeckend, verschwamm. Noch ein kurzer Blick auf das Modell, dann hatte sich Rani orientiert. Er stellte die erforderlichen Werte ein und dozierte: „Hier zuerst einmal die erkaltete Sonne selbst!“

Momente später schwebte die Gesuchte im Blickfeld der Optik - das heißt: Sie sollte!

Enttäuscht schauten sie sich an.

„Wenn das alles ist! Das kann genauso Linni sein, der bei Kurzschluss Essen kocht“, bemerkte Kido bissig, nicht ohne einen Seitenblick auf den Schwarzen zu werfen. Dieser entblößte nur grinsend das prächtige Gebiss und hob scherzhaft drohend seine Rechte. Doch der Kommandant ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schaltete einen Wärmeverstärker vor. Jede Masse, die keine Eigenwärme mehr besitzt, empfängt trotzdem aus allen Richtungen des Universums materielle Strahlung aller Wellenlängen, die beim Aufprall Reibung und damit - wenn auch nur geringe - Wärme entwickelt. Auf diese Weise kann man mit den nötigen technischen Hilfsmitteln selbst tote Sonnen, die keine Energie und kein Licht mehr aussenden, sichtbar machen.

Auf dem Bildschirm erschien ein grauer Ball auf grau gepunktetem Hintergrund. Doch nur die Augen der fünf Normalen empfanden diese Erscheinung als eine Folge von Dunkeltönen. Für Rani zeigte sich aber ein vollkommen andersartiges Bild. Eine rätselhafte kosmische Landschaft tat sich vor ihm auf. In den verschiedenen Abstufungen von Rot empfingen seine wunderbaren Augen den Eindruck einer trostlosen, unbelebten Welt. Wie eine lockere Zusammenballung von Staub kam sie ihm vor, aber inmitten dieses eintönigen Staubmeeres sah er auch feste, infrapurpurne und -zinnoberrote Flächen. Dazwischen waren Splitter in allen Infrarotschattierungen verstreut. Wenn er sich allerdings die richtigen Größenverhältnisse vergegenwärtigte, so musste jeder einzelne dieser vergleichsweise winzigen Splitter mindestens die Größe der Magellan haben. Am seltsamsten aber kamen ihm gefurchte und zerrissene Gebilde vor, die er entdeckte, als er den Stern immer näher und näher zog, bis er schließlich in der letztmöglichen Vergrößerung die gesamte Bildfläche bedeckte. Diese Brocken sandten eigentümliche Strahlen aus. Lange konnte Rani die Zeigerausschläge nicht einordnen. Aber dann fiel ihm eine kurze Notiz ein, die er vor dem Abflug in einer Fachzeitschrift gelesen hatte. Der Artikel behandelte die Auffindung einer neuen Strahlenklasse. Diese - Deltastrahlen genannt - wurden bei der Anregung von künstlichen Transuranen jenseits des Fermiums als sekundäre Partikelschauer frei. Dieselben dort aufgeführten Eigenschaften waren auch den Ausstrahlungen dieser Körper zu eigen. Er teilte die neue Entdeckung den Kameraden mit, die, wie immer in solchen Fällen, schweigend zugesehen hatten.

„Aber das würde ja bedeuten, dass die von uns künstlich geschaffenen Elemente auf dieser Sonne in natürlichem Zustand vorkommen! Warum hat man sie dann nicht schon früher auf anderen Dunkelsternen entdeckt?“

Barno hatte einen scheinbaren Widerspruch entdeckt, doch selbst Rani wusste im Moment keine logische Antwort. Prinn, der Venusianer, kam ihm zuvor. Er strich sich mit den durch feine Schwimmhäute verbundenen Fingern über die widerspenstigen Kopfschuppen. In seiner ruhigen, nachdenklichen Art trug er seine Ansicht vor: „In diesem Sonnenstaat herrschen in Bezug auf das Einstein’sche Feld insofern seltsame Verhältnisse, als vielleicht der Zerfall der instabilen Transurane verlangsamt oder ganz gehemmt wird, während bei anderen Dunkelsonnen unter normalen Raum-Zeitverhältnissen diese Elemente wie gewöhnlich zerfallen.

Man könnte noch fragen, wodurch diese Transurane angeregt werden. Aber ich glaube, die Strahlungsintensität der Sonnen des Siebengestirns, insbesondere des Blauen Riesen, ist so stark, dass sie dazu ausreicht.“

Rani nickte nur müde. Bleischwer waren seine Glieder, und so kam es, dass selbst ein erfahrener Schiffsführer wie Rani Tan eine unvorsichtige Bewegung machte und beim Aufstehen ungewollt den Schalthebel der Notbeschleunigung, der direkt über ihm aus der Wand ragte, hoch stieß. Ein fürchterliches Chaos war die Folge. Der sofort anlaufende Schiffsantrieb riss die Magellan mit sechsfacher Erdbeschleunigung vorwärts. Infolge der Massenträgheit verharrten alle Personen und alle beweglichen Gegenstände für Sekundenbruchteile in Ruhe, während die starren Wände auf sie losstürzten. Rani spürte einen stechenden Schmerz im Hinterkopf, als er wegrutschte und hart gegen die Kante des Kartentisches flog. Dann schwanden ihm die Sinne. Barno, der sich noch rechtzeitig an den offenen Bücherschrank klammerte, blieb als einziger auf den Beinen. Während die anderen teils ohnmächtig, teils hilflos an die Wand gepresst zu Untätigkeit verurteilt waren, suchte der Sirier verzweifelt einen Ausweg aus dieser Lage. Nachdem er den Hagel der aus dem offenen Schrank fliegenden Bücher glücklich überstanden hatte, arbeitete er sich langsam in Flugrichtung vorwärts. Im trübroten Schein der automatisch aufflammenden Notbeleuchtung kroch er, unter der unheimlichen Gravitationslast stöhnend, zum Beschleunigungshebel. Mit nervenzermürbender Langsamkeit brachte er den Arm hoch. Schon umwallten ihn die lockend-roten Nebel des Vergessens. Aber die wahnsinnige Angst um das Leben der Kameraden verdoppelte seine ohnehin schon übermenschlichen Kräfte, und mit einer letzten verzweifelten Anstrengung riss er den Hebel herunter und brach erst dann zusammen.

 

*

 

Asek und Prinn erwachten fast gleichzeitig. Mühsam rafften sie sich auf. Der Marsianer fuhr sich mit einer erstaunten Handbewegung über das rechte Auge. Blut war dort aus einer Platzwunde gequollen und geronnen. Mit zusammengepressten Zähnen unterdrückte er den Schmerz und half Prinn beim Aufstehen. Gemeinsam kümmerten sie sich dann um ihre Gefährten und brachten sie in die Kabinen. Zum Glück war keiner ernstlich verletzt. Barno erholte sich infolge seiner robusten Natur am schnellsten.

Kommandant Rani erwachte, als sie ihn vorsichtig auf sein Lager betteten. Er rieb sich stöhnend eine große Beule am Hinterkopf. Dann kniff er die Lippen zusammen, richtete sich auf und fragte besorgt: „Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes passiert?“

Als die beiden verneinten, ließ er sich erleichtert zurücksinken. „Ich habe mir zu viel zugemutet“, fuhr er fort. „In Zukunft werde ich die Arbeit besser einteilen. Und den Wein lasse ich am besten in Zukunft auch weg.“

Erschöpft schloss Rani wieder die Augen. Sie löschten das Licht und gingen leise hinaus. Draußen im Gang losten sie die Wache aus. Asek hatte Pech.

 

Der Marsianer war noch keine vier Stunden im Steuerraum, als er Schritte hörte. Gleich darauf ging die Tür auf, und herein kamen der Kommandant, Barno, Prinn und Kido. Sie hatten sich so weit erholt, dass sie beschlossen, die Fernuntersuchung des entdeckten Systems zu Ende zu führen.

„Wir wollen jetzt versuchen, die Bahn unserer geheimnisvollen Entdeckung zu bestimmen. Daher müssen wir den Dunkelstern gleichzeitig mit den sieben anderen sichtbar machen. Mit dem Doppelrotfilter könnten wir es schaffen.“

Rani ließ erneut die feinfühligen Finger über die komplexe Tastatur des Astrovisors gleiten. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm: Einträchtig hingen alle acht Sonnen scheinbar nebeneinander (wenngleich in der Realität recht weit voneinander entfernt). Mit hochempfindlichen Geräten wurden Geschwindigkeit und Bahn des Erkalteten bestimmt und vom Robotgehirn verarbeitet. Dann war es soweit. In großen Ziffern flammten die Ergebnisse auf einer Mattscheibe auf, darunter wurde die Sonnenbahn abgebildet. Leise pfiff Rani durch die Zähne. Er drehte sich um, deutete hinter sich auf die Leuchtbilder und sagte: „Der Dunkelstern bewegt sich in einem Lichtjahr Entfernung um das Siebengestirn, und zwar in einer Spirale!“

„Was? Eine Spirale? Das ist unmöglich. Eine Spirale ist keine mögliche Bahnform“, protestierte Prinn, „jedenfalls keine sehr stabile.“

„Sagtest du unmöglich, Prinn? Das geometrische Feld dieses Systems ist so verwickelt und die wechselnden Schwereeinwirkungen der sieben Sonnen sind so verschieden und jenseits aller Vorstellungen, dass eine spiralige Bahn sehr wohl möglich sein kann. Der Dunkle wird sich immer näher an seine sieben heißen Brüder heran schrauben. Seine Umlaufbahn wird immer unregelmäßiger werden, und mit wachsender Annäherung wird er heißer werden, aufglühen und sich mit den anderen Sonnen zu einer Nova vereinigen, zu einer Ultra-Super-Nova sogar!ˮ

Er machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, und fügte dann noch hinzu: „Dieses Ereignis werden wir miterleben.ˮ

„Wie lange dauert das denn noch?ˮ fragte Kido ahnungslos.

„Runde dreitausend Jahreˮ, erwiderte Rani in aller Seelenruhe.

„Drrreitausend Jahre?!ˮ echote der Junge. Auch Barno und Asek stießen erstaunte Rufe aus, und Prinn erklärte ganz entsetzt, dass zwar die Ärzte das menschliche Leben seit dem Ende des Dritten Jahrtausends um das Fünffache verlängert hätten, „aber selbst das reicht doch angesichts dieser dreitausend Jahre nicht aus. Und wenn ich auch tausendmal so alt würde, möchte ich doch nicht während dieser endlosen Zeitspanne darauf warten, dass acht Sonnen explodieren“ - er hielt einen Augenblick inne - „und wir vielleicht mit ihnen!“

„Keine Angst“, besänftigte ihn der Kommandant und lächelte, „so schlimm ist es gar nicht, denn bereits in drei Wochen ist es soweit. Mehr erfahrt ihr morgen.ˮ

Verstohlen gähnend, schickte er sich an, die Zentrale zu verlassen. Da rief ihn Barno, der die nächste Wache übernahm, nochmals zurück: „Was soll mit dem Feldmodell geschehen?“

„Löse es auf und leg das Diagramm zu den anderen in die Sammlung.“

Leise schloss sich die Tür hinter ihm. Die Zurückgebliebenen schauten sich ratlos und verwundert an. Kido tippte sich nur bezeichnend an die Stirn und bemerkte respektlos: „Erst sagt er dreitausend Jahre, dann drei Wochen. Da soll einer klug daraus werden. Ich glaube, unser Chef hat sich vorhin einen kleinen Knacks geholt, oder die neue Entdeckung hat ihn so mitgenommen, dass er den Raumkoller bekommen hat.ˮ

„Kommandant Rani und Raumkoller? Ich denke, das verträgt sich sehr schlecht miteinander. Durch 120 Jahren kosmischer Erfahrung ist er immerhin schon ein alter Raumhase.ˮ Unwillkürlich gebrauchte Barno, der den berühmten Forscher impulsiv verteidigte, diesen Slang-Ausdruck aus den Anfangstagen der Raumschifffahrt. „Außerdem hat er vor dem Start auf Luna allerhand rätselhafte Apparate verpacken lassen. Die halbe Ladung besteht daraus. Um im Übrigen hast du von deinem Kommandanten überhaupt nicht so respektlos zu reden.“

Schnell brachte sich Kido hinter Prinn in Sicherheit. Man konnte nie wissen, wie der Sirier reagieren würde, denn er fuhr immerhin schon über sechzig Jahre unter Ranis Kommando. Aber der Schreck war unnötig. Trotz seiner gewaltigen Körperkräfte hätte Barno keiner Fliege etwas zuleide getan.

„Ich habe die Geräte auch gesehen,ˮ bekräftigte Asek. „Ich bin gespannt, was es ist!ˮ

Mit den kühnsten Vermutungen im Kopf, gingen sie in ihre Räume. Nur Barno, der bronzehäutige Riese vom einzigen Siriusplaneten, blieb in der Schiffszentrale zurück. Nachdem er das Feldmodell in den Energiespeicher zurückgeschickt hatte, löschte er sämtliche Lampen. Nur der Astrovisor leuchtete noch und warf magische Lichtreflexe und Schattenbilder an die Rundungen der Steuerkabine. In wundervoller Elastizität schienen die starren Wände nach allen Richtungen auszuschwingen und in anschmiegsamen Kurven wieder in sich selbst zurückzugleiten, nur hier und da durch die harmonisch angeordneten Schaltpulte unterbrochen. In der Mitte der große Kartentisch, hinter den Wänden - jetzt unsichtbar - geräumige Schränke für Sternkarten und Bücher. Die zweckbetonte Architektur des Raumes wurde durch abwechslungsreiche Farben aufgelockert, bei denen besonders das beruhigende Grün in allen Schattierungen vorherrschte.

Barno lehnte sich behaglich in den bequemen Sessel vor dem Monitor und stieß einen tiefen Seufzer aus. Verträumt blickte er auf die flammenden Sterne. Bei der Betrachtung durchzuckte ihn unerwartet ein Gedanke: „Das ist doch die neueste Variante des Geräts, die bereits auf der Basis der kürzlich entdeckten ultraschnellen Wellen arbeitet. Ich müsste eigentlich den Sirius sehen können,ˮ murmelte er hoffnungsfroh und spielte bereits mit geübten Fingern auf der Stellskala. Lange Zeit verging.

„Endlich! Da ist er!ˮ Deutlich waren der blau funkelnde Sirius und sein weißer, zwergenhafter Begleiter zu erkennen. Beide standen gerade in einer solchen Stellung zueinander, dass sich ihre Lichthüllen zu berühren schienen. Der Sirier holte das Letzte aus dem Apparat heraus.

Laka, die Heimat! Ein freundlich schimmernder Globus schwebte zum Greifen nahe vor Barnos sehnsüchtigen Augen. Riesige Wolkenbänke segelten durch die klare Atmosphäre. Eine Zubringerrakete zischte mit flammenden Düsen quer über den Bildschirm. Alles atmete friedliche Stille.

 

2. Der Zeitraffer


Am anderen Morgen stand Rani beizeiten auf. Als er zum Frühstück den Speiseraum betrat, warteten schon die Kameraden auf ihn. Kido trug gerade das von Linni bereitete Essen auf: Bohnenkaffee (auch im Jahre 7218 noch ein besonders bei den Terranern beliebtes Getränk, wenn die Bohnen auch nicht von irdischen Kaffeeplantagen, sondern von Prokyon-Acht stammten) und Backspezialitäten von den verschiedensten Planeten, die infolge einer kurzen und unschädlichen Bestrahlung nach Jahren noch so knusprig waren, wie sie der Elektrogrill geliefert hatte. Für die starken Esser gab es gekochte Eier eines tolimanschen Laufvogels und venusianisches Haifilet.

Kido konnte seine Neugierde nicht länger bezähmen und überfiel den Kommandanten gleich mit Fragen. Der hob abwehrend die Hände: „Lass uns erst in aller Ruhe frühstücken; wir haben noch einen anstrengenden Tag vor uns.ˮ

Enttäuscht servierte der Hilfsastrogator weiter; schweigend wurde das üppige Essen eingenommen. Die Galaktische Zentralregierung ließ es ihren Forschern an nichts mangeln. Die Neugier verhinderte, dass die fünf in den ungetrübten Genuss der herrlichen Speisen kamen, und mancher bittende Blick erreichte den Kommandanten. Aber der blieb hart. Erst trank er seinen Kaffee. Kaum hatte er jedoch den letzten Schluck zu sich genommen und sich gemütlich in seinen Sessel zurückgelegt, da war es mit der Ruhe vorbei, und die seit dem Vorabend auf gespeicherte Spannung entlud sich in einem Schwall von Fragen, die auf ihm einstürmten.

„Immer mit der Ruhe und schön der Reihe nach. Also, Barno?ˮ

„Ich hege nur eine Vermutung - aber nein, das ist doch zu phantastischˮ, zögerte der Sirier.

„Sag es ruhig,ˮ ermunterte ihn Rani.

Barno holte tief Luft und sagte dann in die atemlose Stille hinein: „Du hast einen Weg gefunden zurˮ - nochmals stockte er - „Beeinflussung der Zeit!?ˮ

Die anderen vier schauten sich mit offenem Mund an. Langsam dämmerte ihnen, was da soeben für ein Wort gefallen war: „Zeitbeeinflussung!ˮ Die erstaunten Blicke wanderten von dem sehr ernsten Sirier zu Rani. Der nickte nur stumm. Dann begann er nach einer kurzen, gedankensammelnden Pause zu sprechen. Durch Zwischenfragen erfuhren sie allmählich die Wahrheit. Rani hatte eine Anordnung erfunden, die er Zeitkontraktor oder Zeitraffer nannte. Diese Apparatur bestand aus einem System von Strahlenquellen, die ein dichtes Netz ultraschneller Wellen um die Raumkugel legen und sie damit theoretisch dem Einfluss der Zeit entziehen würden. In der Praxis machte sich allerdings ein, wenn auch nur geringer Einfluss der Zeit bemerkbar, weil die Apparatur noch nicht vollkommen war. Diese ungeheuerliche Entdeckung verdankte Rani dem genauen Studium der erst seit wenigen Jahren bekannten Gruppe der ultraschnellen Wellen, die bereits der Einflusssphäre eines übergeordneten Kosmos, eines Übereinstein´schen Feldes, anzugehören schienen. Ungeahnte Ausblicke eröffneten sich hier für Wissenschaft und Technik. Rani begann bereits den Beginn eines neuen Zeitalters zu spüren. Der erste Schritt über die noch ziemlich verschwommene Schwelle war bereits getan. Weitere Entdeckungen würden folgen.


*


Mit einem vielfarbigen Konstruktionsplan und einer Liste der Einzelteile unter dem Arm, betrat der Kommandant den gewaltigen Laderaum. Automatisch schnappte hinter ihm das dünnwandige, aber äußerst robuste Schott in die Sicherungen, Die Kameraden waren bereits mit der Sichtung der Apparate und Kabel beschäftigt. Eben hob Barno mit seinen sechsfingrigen Händen ein spulenähnliches Etwas auf, musterte es eingehend und setzte es vorsichtig wieder ab. „Ich werde nicht klug daraus. In meiner ganzen Laufbahn als Raumschiffsingenieur sind mir noch keine solchen Apparate begegnet. Das da zum Beispielˮ - er deutete auf eine Halbkugel von fast zwei Meter Durchmesser - „das hat große Ähnlichkeit mit einem Photonenprojektor, aber was soll die Doppelantenne in der Mitte bedeuten?ˮ

Kopfschüttelnd drehte er sich zu Rani um.

„Übrigens, ist es nicht ein seltsamer, ich möchte beinahe sagen unlogischer Zufall, dass gerade in dem Moment, da wir ihn brauchen können, der Zeitraffer erfunden wurde und hier an Bord ist?ˮ

Fragend stellte der Sirier den Kopf schief und schaute den Gelehrten an.

„Erstens ist jeder Zufall unlogisch, sonst wäre es ja keiner, und zweitens war der ursprüngliche Zweck dieser Expedition die Erprobung des Zeitraffers, und nur zufällig fanden wir nach der Durchstoßung der Raumfalten dieses System. Nicht umgekehrt!ˮ

Hier hakte Kido, dem noch so manches unklar war, ein: „Weil gerade die Durchstoßung der Raumkrümmung erwähnt wurde, frage ich: Warum benutzt man eigentlich nicht die überschnellen Druckstrahlen, mit denen man theoretisch Lichtgeschwindigkeit erreichen könnte, zur Überwindung der kosmischen Entfernungen?ˮ

„Das ist sehr einfach. Das Einstein’sche Realivitätsgesetz enthält in der Erweiterung von Ako Rabonda aus dem Jahre 5011 den schwerwiegenden Satz: `Jede Veränderung eines Bewegungszustandes ruft eine stationäre Zusammenziehung der Zeit hervor, die bei wachsender Geschwindigkeit in Form einer Geometrischen Reihe zunimmt.´ Deshalb wählte man den besseren, aber auch ungewisseren Weg der Raumfaltendurchquerung durch zeitweilige Neutralisierung des Raumes mit Hilfe starker stationärer Gravitationsfelder.

Aber jetzt wollen wir mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Asek ...ˮ

Der Kommandant teilte jedem der fünf Männer seine Arbeit zu. Zunächst wurden 74 mattglänzende Kegel, die Sender für die ultraschnellen Wellen, ins Freie gebracht. Jeder holte sich aus einem kleinen Tresor neben der Ladeschleuse einen der durchsichtigen Raumanzüge und schlüpfte durch den dehnbaren Halsabschluss hinein. Gegenseitig halfen sie sich dann beim Aufsetzen der ebenfalls glasklaren Helme. Sauerstoffspender und Funksprechanlage wurden betriebsfertig gemacht.

Rani schaltete der Einfachheit halber das Schwerefeld des Laderaumes ab und sprach das Kennwort ins Mikrofon. Ruckartig flog die Schleusentür nach außen auf. Man ging hier den zeitsparenden Weg des Luftablassens, denn die Luftvorräte waren praktisch unbegrenzt; man hielt sie auf einer Temperatur, die dem absoluten Nullpunkt fast gleichkam, und konnte daher in den Spezialtanks unwahrscheinliche Mengen des lebensnotwendigen Sauerstoff-Helium-Gemisches mitnehmen.


*


Die nächsten Stunden waren voll ausgefüllt mit der Montage des Zeitraffers. Dazwischen wurde jede Stunde eine kleine Ruhepause eingeschaltet und ein stärkendes Tablettenmahl eingenommen. Zusehends wuchs die Anlage. In Abständen von einigen Metern ragte jeweils ein drei Dezimeter hoher Spitzkegel mit langer, nachträglich aufgepflanzter Silberantenne aus der fugenlos glatten Außenhaut der Raumkugel. Das Ganze wurde durch ein kilometerlanges Spinnennetz dicker Energiekabel verbunden und an die Kraftanlage im Schiffsinneren angeschlossen.

„Puh, das ist vielleicht eine Arbeit,ˮ stöhnte Linni und duschte sich das heiße Gesicht mit einem Schwall eisiger Frischluft. „Aber jetzt ist die Anlage bald fertig.ˮ

„Da täuschst du dich! Die eigentliche Arbeit beginnt erst. Jetzt müssen wir die einzelnen Ultrasender erproben und aufeinander abstimmen. Die Fernbedienung ist auch schon angeschlossen. Jetzt gehen wir erst einmal ins Schiff zurück. Morgen machen wir weiter.ˮ

Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und sie legten ihre Werkzeuge einfach auf die Schiffshülle. Das dort wirkende Feld zog sie an und hielt sie sicher fest.

Minuten später schloss sich die Schleusentür hinter dem letzten von ihnen. Ein Knopfdruck, und erst geräuschlos, dann immer lauter zischend strömte die Atemluft in den jetzt fast völlig leeren Laderaum. Nachdem der Druckausgleich hergestellt war, lösten sie die Helme und zogen, sich gegenseitig helfend, die Raumhüllen wieder aus. Bald darauf hingen diese durchsichtigen, federleichten Wunder einer vollendeten Technik wieder im Schrank.


*


Acht Stunden später waren sie wieder draußen und vollendeten das Werk. Dann zogen sie sich in die offene Luke zurück. Rani begab sich in die Zentrale und ließ die mächtigen Umwandler anlaufen. Die gesamte Kugeloberfläche der Magellan bestand aus einer Art Energieschwamm, der jegliche kosmische Strahlung, ungeachtet ihrer Wellenlänge, aufsaugte und sie dem Multitron zuführte. Dort wurden sie, in einer großen Halle gleich unter der zweiten Schutzhaut, mit Hilfe starker gravitätischer, elektrischer und magnetischer Felder in jede beliebige Materie oder Energieform transformiert und der Verbrauchsstelle zugeführt.

Unter Zuhilfenahme der notwendigen Tabellen und selbst entwickelten Diagramme ließ Rani die Maschinen ihre Arbeit beginnen. In den ihnen eigenen pulsierenden Stößen würden gleich die ultraschnellen Wellen die zahlreichen Kegelsender verlassen und nach allen Richtungen des Raumes davoneilen. Doch schon in einem halben Kilometer Entfernung würde sie das gewaltige, von Rani künstlich errichtete Einstein’sche Feld auffangen, ablenken und zu einem dichten Strahlennetz verweben. Zu einem Ultrafeld. Gleichzeitig würde das Raumecho ertönen, jenes immer noch ungeklärte Phänomen, das am nächsten mit dem Ultraschall verwandt war, nur mit dem einen Unterschied, dass bei letzterem der Weltraum selbst in Schwingungen gerät und nicht die Luft.

Noch einmal überprüfte Rani die Instrumente und überzeugte sich, ob alles stimmte. Dann schob er in gespannter Aufmerksamkeit auslösende Hebel bis zum Anschlag vor. In diesem Moment geschah das Entsetzliche. Linni bemerkte, dass auf einem der Kegel neben der Ausstiegsluke die Antenne schief stand. Er beugte sich aus der offenen Schleusentür und wollte den Fehler korrigieren, als ihn die ultraschnellen Wellen der ersten vier zusammengeschalteten Kegelsender erfassten. Ein grauenhafter Lautfetzen drang den Gefährten über die Lautsprecher ins Ohr und ließ sie totenbleich werden. Das letzte, was sie von ihm sahen, waren verschwommene Konturen. Dann nichts mehr.

Sie blieben in fassungslosem Entsetzen stehen. Jede Hilfe war hier vergebens. Rani, dessen Instrumente wie verrückt ausschlugen, brach den Versuch sofort ab und eilte voll banger Ahnungen durch eine kleine Hilfsschleuse in den wieder luftleeren Laderaum. Erst konnte er aus dem verwirrten Gestammel nicht klug werden, aber schließlich hatte sich wenigstens Barno so weit gefasst, dass er einen zusammenhängenden Bericht erstatten konnte. Der Schreck, der aus seiner Stimme herausklang, und das Fehlen des Schwarzen sagten Rani genug.

Da packte Prinn in aufgepeitschter Erregung die Schultern des Kommandanten und riss ihn rücksichtslos herum. In blitzartig auftauchenden, abergläubischen Erinnerungen an seine venusianische Heimat keuchte er wie verrückt: „Seht doch! Dort draußen! Das ist ein Raumanzug! Linnis Anzug!ˮ

Von Grauen geschüttelt, drehte er sich um und hielt wie schützend die Arme über den Kopf. Barno dachte etwas nüchterner. Mit einem riesigen Satz schnellte er sich aus der Halle und segelte zu der aus dem Nichts aufgetauchten Raumhülle hinüber. Mit zitternden Händen packte und befestigte er sie an einem Haken seines Schutzanzugs und dirigierte sich mit dem Anti-G-Strahler zurück ins Schiff. Sofort schlossen sie das Schott und setzten die Magellan wieder unter Druck und Schwerkraft. Prinn hatte inzwischen seinen ersten Schrecken überwunden und hielt sich zurück, während Barno den Leblosen in seine Kajüte trug und die anderen hinterher eilten.

Der Sirier legte den irdischen Gefährten sanft auf das Bett und nahm ihm den Helm ab. Sorgfältig untersuchte der Kommandant den Kongolesen, dessen breit gewölbter Brustkasten sich leise hob und senkte. Es war wenigstens ein, wenn auch nur schwaches, Lebenszeichen. Seine Gesichtszüge waren furchtbar eingefallen, so als habe er mindestens eine Woche lang nichts zu sich genommen. Die Lippen waren blutleer, spröde und stellenweise aufgesprungen.

Da geschah es, dass Rani zufällig auf die Skala von Linnis Frischluftspender blickte. Er fuhr zurück, umklammerte mit der Rechten, auf der vor Anstrengung die Knöchel schneeweiß hervortraten, die Bettkante und deutete stumm auf den Atmometer. Dann stöhnte er: „Noch zwei Tage, und er wäre erstickt! Schaut euch die Sauerstoffuhr an. Die Luftzylinder wurden vor dem Abflug frisch gefüllt und seitdem nur einmal, gestern, benutzt.ˮ

Der Kommandant schob die dehnbare Plastikhülle ganz vom Oberkörper des Reglosen und hob, schon mehr wissend als vermutend, das linke Handgelenk in die Höhe. „Seine Kalenderuhr zeigt den 79. Alkol!ˮ

Er legte den Arm vorsichtig zurück und schaute auf seinen eigenen Zeitmesser. „Und wir haben heute den 75. Alkol! Was das bedeutet, dürfte klar sein. Das Ultrafeld, in welches er geriet, schleuderte ihn in ein anderes Zeitkontinuum. Damit habe ich nicht gerechnet: Dass die Ultrawellen auch das Mittel für Zeitreise bilden! Ich rechnete nur mit einer Kontraktion. Ein Glück, dass nur vier Sender in Betrieb waren - so konnte ihn das schwache Schutzfeld seines Anzugs hinreichend vor der Vernichtung schützen, wenn auch nicht vor einer Reise in die Zukunft.ˮ

In kalt glitzernder Pracht umgaben die Milliarden und aber Milliarden Sterne das winzige Stäubchen Magellan, das doch Leben beherbergte.

3. Auf der dunklen Sonne


Drei Raumtage später war die Anlage zur Zufriedenheit aller fertig montiert und geprüft. Linni war zwar noch etwas blass, aber sonst vollkommen genesen. Bei dem Schwarzen hegte Rani anfangs die Vermutung, dass er, wenn er die Wahrheit erführe, einen fürchterlichen Schock bekommen würde. Aber der junge Forscher passte sich mit überraschender Fassung der neuen Lage an. Durch die übersprungenen fünf Tage hatte er keinen Gewinn oder Verlust, denn er verbrachte sie in ununterbrochener Bewusstlosigkeit, sehr zum Leidwesen der Kameraden, die allerhand Neues zu erfahren gehofft hatten.

Der Kommandant hatte sie in der Zentrale zusammengerufen: „Wir werden der Dunkelsonne noch einen kurzen Besuch abstatten. Soviel ich weiß, bin ich der einzige unter uns, der dieses Erlebnis bereits hatte, und ich möchte euch diese Gelegenheit nicht vorenthalten. Außerdem will ich noch einige spezielle Untersuchungen anstellen. Am besten fliegen wir durch einen der Sonnenkrater ein.ˮ

Lautlos begann der Druckstrahlenantrieb sein gigantisches Spiel. Im gleichen Maße, wie die Beschleunigung wuchs, wirkte der Schwereausgleicher dem Andruck entgegen, bis die Magellan mit annähernder Lichtgeschwindigkeit in Richtung auf die Dunkelsonne durch den Raum schoss. Innerhalb weniger Minuten war das Dunkelgestirn erreicht, und Rani ließ den Kugelraumer, bereits mit halber Kraft bremsend, in einem waghalsig erscheinenden Steilflug auf die Oberfläche zu rasen. Näher und näher stürzte die zerklüftete Sonnenlandschaft, als wollte sie das Forschungsschiff mit der ganzen Wucht ihrer ungeheuren Masse zerschmettern. Mächtige Gebirgsketten, Zeugen einer bewegten Vergangenheit, krochen über den Flachen Horizont heran, näherten sich mit wachsender Geschwindigkeit und huschten schließlich in hässlicher Deutlichkeit vorüber. Von einem der bequemen Flugsessel hinter Rani, in die sich die übrigen Besatzungsmitglieder - ihre Geräte in Reichweite - geschnallt hatten, kam ein verhaltenes Stöhnen. Kido, dem das alles noch neu und ungewohnt war, schloss verzweifelt die Augen und presste zwischen den zusammengekniffenen Lippen unverständliche Laute hervor. Aber seine Furcht war unbegründet. Im richtigen Augenblick stellte Rani, der aufmerksam Bildschirm und Entfernungsanzeiger beobachtete, die Bremsstrahler auf volle Kraft. Sanft fingen die Ausgleicher die millionenfache Erdbeschleunigung auf. Die Magellan schwebte über einer, wie es schien, endlosen Ebene von abgehobelter Glätte. Erst bei näherem Hinschauen konnte man die vielen winzigen Spalten und Einbrüche erkennen, die sich kreuz und quer und bis in verschwimmende Tiefen über die Sonnenoberfläche dahinzogen, Flache Hügelketten, durch Längs- und Quertäler voneinander getrennt, erstreckten sich nach allen Richtungen.

Mit leichter Gegenkraft glich Rani die etwa hundert G betragende Anziehungskraft der Sonne aus. Dann waren sie gelandet, gleich in der Nähe eines gewaltigen Kraters, dessen steiler Wall in niederdrückender Gewaltigkeit neben dem Raumschiff in die Finsternis der ewigen Raumnacht stieß. Rani warf die kraftvollen Gravitationsanker aus und verließ dann mit seinen fünf Begleitern das Schiff. Jeder schnallte sich einen der Schwereausgleicher um, und mit großen Sprüngen landeten sie, unbeschadet der Sonnengravitation, in dem zerklüfteten Gelände.

„Bleibt dicht beieinander,ˮ mahnte Rani. „Verliert die Magellan nicht aus den Augen. Wer sich einmal im diesem Labyrinth von Spalten und Hügeln verirrt hat, ist unweigerlich verloren. Die größtenteils aus Schwermetall bestehende Bodenstruktur unterbindet jede Funkverbindung über größere Strecken, und eine Suche mit Hilfe des Peilgerätes wäre in diesem Fall illusorisch.ˮ

Schaudernd vergegenwärtigten sich die Männer für einen Moment, was es bedeuten würde, sich in dieser Metallwüste zu verirren. Wenn auch Luft- und Nahrungsvorräte über eine Woche vorhalten würden, so wäre man doch spätestens nach zwei Tagen verrückt. Kein Mensch würde diese ununterbrochene Stille und Leblosigkeit aushalten. Aber trotz ihrer Unbelebtheit, die sich wie ein dunkler Mantel über die Gemüter der sechs Forscher legte, faszinierte sie die Landschaft. Die Wärmebrillen, die wie schauerliche Masken ihre halben Gesichter bedeckten, ermöglichten ihnen, das scheinbare Dunkel zu durchdringen und Einzelheiten zu erkennen. Rani, der infolge seiner besonderen Augen ohne Brille auskam, wandte sich dem Kraterwall zu und bedeutete seinen Kameraden, sie sollten ihm folgen. Er nahm eine kleine Einstellung an seinem Schwereausgleicher vor und schwebte an der Spitze der übrigen an der fugenlosen Steilwand hoch. Dann waren sie oben auf dem Gebirgskamm angelangt. Mit erstaunten Ausrufen gaben sie ihrer Verwunderung Ausdruck. In einer herrlichen Komposition von Infrarot in unzähligen Abstufungen breitete sich unter ihnen bis hinüber zum Horizont, der infolge der Größe des Sonnenballes schnurgerade sich in der Entfernung verlor, die Sonnenlandschaft. Wie erstarrte Wellen eines gigantischen Ozeans muteten die unzähligen erzenen Hügel an, wie die urplötzlich erkaltete Oberfläche eines Schmelzflusses von gigantischen Dimensionen. In unberührter Erhabenheit ragte in weiter Ferne eine Nadel von mehreren Kilometern Höhe, entstanden aus einer Springflut glühender Sonnenmaterie, wie ein mahnender Finger in den sternenglitzernden Himmel. Bizarre Klippen ragten hier und dort wie die Rückenkämme verflossener Saurier der irdischen Heimat aus der Ferne empor und weckten Erinnerungen an gefährliche Abenteuer auf noch urwüchsigen Planeten, von deren Systemen sie Hunderte von Lichtjahren trennten. Unwillkürlich wanderten ihre Blicke zu dem funkelnden Meer der Fixsterne empor.

„Schaut! Dort oben, direkt über uns, ist das Siebengestirn.ˮ

Neugierig folgten ihre Blicke Kidos deutender Hand, während ihre Hände die Wärmebrillen zur Seite schoben. Tatsächlich blitzte dort oben das herrliche Leuchtfeuer von Indra, wie sie den blauen Riesenstern genannt hatten, begleitet von vier gelb leuchtenden Diademen und von Agador und Agadarn, der roten und weißen Zwergsonne. Einen wunderbaren Kontrast dazu bildete das von einem dichten Sternenkranz umsäumte, rabenschwarze Tuch eines gewaltigen Dunkelnebels, auf dem das Siebengestirn wie die besten Edelsteine eines kosmischen Juweliers ausgebreitet lag. Nicht weit davon schimmerte wie eine lockende Verheißung der linsenförmige Nebel der Andromeda, und über den Horizont der Dunkelsonne ragte noch in flammendem Halbbogen die Milchstraße, in der irgendwo zwei Stecknadelköpfe mit Namen Sirius und Sol versteckt waren.

Linni unterbrach vorsichtig die Stille. „Rani, könntest du mal mit dem Wärmestrahler in den Krater hineinleuchten?“

Nur zögernd trennte sich der Angesprochene vom Anblick des gestirnten Himmelsgewölbes. Er nahm den handlichen Strahler und leuchtete in den Sonnenfleck hinunter. Den Männern schwindelte beim Anblick dieses Abgrundes. Wie ein Schlund der Hölle, der jeden Moment zu feuerspeiendem Leben erwachen konnte, verlor sich der Absturz in schwindelnde Tiefe, und ein kalter Schauer rieselte ihnen über den Rücken.

„Kommt! Gehen wir jetzt zurück zur Kugel, und schauen wir uns das Innere dieses Weltkörpers an. Ich bin gespannt, wie weit wir vordringen können.ˮ

Noch ein abwägender Blick zurück, dann schwebten sie an der Außenseite der Kraterwand wieder hinunter. Mit federnden Sprüngen überquerten sie ein kleines Plateau, das fußhoch mit kosmischem Staub und Meteortrümmern bedeckt war. Eine geringe Gegenschwere trug sie die fünfzig Meter bis zum Äquator der Magellan in die Schleuse des Schiffes hoch. Wenige Minuten später erhob sich das Kugelschiff schräg in den Himmel. In einigen hundert Metern Höhe stoppte Rani den Auftrieb, und der Raumer schwebte senkrecht über dem Sonnenkrater, der sich gähnend in der Tiefe des ausgebrannten Fixsternes verlor. Jetzt nahm der Kommandant die Außen-Antigravitation weg, und wie ein Meteor stürzte die Magellan haltlos in den unermesslichen Abgrund, der sich – einst aus einem gewaltigen Ausbruch glühender Gase entstanden - bis weit in die inneren Schichten erstreckte.

Etwa tausend Meter waren sie bereits eingedrungen, und immer noch zeigte sich auf dem Bildschirm, der die reflektierten Strahlen einiger Megawatt-Scheinwerfer auffing, kein Hindernis. Trotzdem bremste Rani den Sturz etwas, so dass sie mit nicht ganz zwei Sekundenkilometern weiter fielen. Wie ein endloser Schlauch erstreckte sich der Sonnenfleck in das Sterneninnere. Nach einer halben Stunde verjüngte sich der Schacht von 20.000 auf 200 Meter Durchmesser. Die Wände rückten bedenklich näher. Rani hatte die Fallgeschwindigkeit noch mehr gedrosselt, und sie befanden sich schon 1.500 Kilometer unter der Oberfläche. Ein weiteres Mal bremste Rani ab, auf 1000 und endlich auf 800 Stundenkilometer. Plötzlich sprangen die Wände auseinander und öffneten sich zu einem gigantischen Dom, in dem Deimos, der größte der beiden Marsmonde, gut und gern Platz gehabt hätte. Unter ungeheurem Druck musste sich hier in längst vergangenen Zeiten, als diese Sonne schon in ihren letzten Zuckungen lag und bereits erkaltete, Gas angesammelt haben, das dann dieses Gewölbe aufblähte.

Sanft setzte das Schiff auf.

„Wir sind angelangt. Macht euch bitte zum Aussteigen fertig.ˮ

Diesmal hatten sie auf die Infrarotbrillen verzichtet und dafür handliche und sehr energiereiche Scheinwerfer mitgenommen, die vom Schiff aus automatisch und drahtlos mit Elektrizität versorgt wurden. Suchend kreisten die scharf abgezirkelten Lichtkegel. Nur an einer Stelle fanden sie gewissermaßen Widerstand. Dort reichte das Gewölbe bis

auf einige hundert Meter an das Schiff heran. Mit seiner Lampe deutete Rani auf eine dunkle Öffnung in ziemlicher Höhe:

„Das dort oben scheint ein Gang zu sein. Vielleicht strömte da früher das glühende Gas ein und sammelte sich hier, um in einer ungeheuren Eruption zur Oberfläche auszubrechen und als feurige Protuberanz in den Himmel zu schießen. Was haltet ihr davon, wenn wir durch diese Öffnung weiter vordringen? Auch hier heißt es wieder: Beisammen bleiben. Achtet auf eure Radiometer! Hier unten werden bereits starke radioaktive Erzlager auftreten, und selbst der beste Raumanzug hält das auf die Dauer nicht aus, von uns selbst ganz zu schweigen.ˮ

Einer nach dem anderen ließen sie sich gegen die Stollenmündung treiben, begleitet von den Lichtfluten ihrer Scheinwerfer. Oben warteten sie kurz, bis Linni als letzter angelangt war und begannen dann den Marsch ins Ungewisse. Eigentlich war es mehr ein ständiges Schweben und Gleiten in dem doppelt mannshohen Gang. Auch diese natürliche Röhre verengte sich immer mehr, so dass sie schließlich doch gezwungen waren, zu gehen. Rein zufällig schaute Barno, der sich mit seiner Größe von viereinhalb Metern bereits bücken musste, einmal auf den Boden. Was er dort sah, ließ ihn zusammenzucken: Es waren Fußspuren, kleine, zierliche Fußspuren, die niemals von Rani oder Kido, die vorangingen, stammen konnten! Mit heiserer Stimme rief er:

„Rani! Ich habe Fußabdrücke entdeckt, fremde Fußabdrücke. Es war bereits jemand hier - vor uns! Und die Spuren führen nicht zurück!ˮ

„Wo, Barno?ˮ fragte Rani erregt zurück. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Blitzhaft tauchten Vermutungen auf, wurden wieder verworfen. Wer konnte vor ihnen hier gewesen sein? Im keinem der Kosmischen Archive auf Terra, die Bericht über alle bisher erfolgten Expeditionen gaben, war ein Hinweis über dieses Siebengestirn und die Dunkelsonne verzeichnet. Rani war sich dessen sicher, denn eine solch außergewöhnliche Entdeckung wäre ihm nicht unbekannt geblieben. Oder sollte vielleicht eine andere Raumfahrt treibende Rasse, mit der noch keine Verbindung auf genommen werden konnte, hier gewesen sein? Der Gelehrte bückte sich und untersuchte den Staub. Wie alt mochte diese Fährte sein?

„Kommt, beeilt euch! Ich muss sehen, wohin diese Spuren führen.ˮ

Mit langen Schritten eilte er vorwärts, und seinen Begleitern blieb nichts anderes übrig, als ihm ebenso schnell zu folgen. Bald erweiterte sich der Gang auch wieder, und sie konnten fliegen. Eine ungewisse Spannung bemächtigte sich ihrer. Sie erreichten das Ende der Röhre, und dort, am Rande zu einem neuen Absturz, fanden sie ihn. Ihn, den Menschen. Er war zur Hälfte von Erzbrocken verschüttet. Nur der Oberkörper, geschützt durch einen durchscheinenden Raumanzug, und der behelmte Kopf waren frei. Rani wischte mit einer sanften Bewegung die dicke Staubschicht ab, bis man seine Gesichtszüge erkennen konnte. Es war ohne Zweifel das Antlitz eines Erdenbewohners. Eine friedliche Stille verklärte ihn und ließ nichts von den Schmerzen ahnen, die er gelitten haben mochte, als er verschüttet wurde und auf sein Ende wartete.

„Ein Mensch! Ein richtiger Terraner. Ich kann es kaum glauben,ˮ flüsterte Rani, als fürchte er, die Ruhe des Toten zu stören.

„Aber wie kommt er hierher?ˮ fragte Linni ebenso leise. „Es kann nur ein Terraner sein, denn alle übrigen Raumrassen sind, den andersartigen Umweltbedingungen zufolge, verschieden von uns, den Bewohnern der Erde. Seht euch nur Prinn an. Seine ganze Gestalt war ursprünglich für das Wasserleben auf der sumpfigen Venus geschaffen.ˮ

„Aber seiner kleinen Statur nach kann es höchstens ein Mensch des Jahres 100 sein, und damals gab es noch keine Raumfahrtˮ, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu und schaute sich ratlos um. Doch der einzige, der eine Antwort auf alle diese Fragen hätte geben können, lag tot vor ihnen.

„Welches Ereignis hat ihn eigentlich hier unter diesem Schutthaufen begraben? Schaut, dort hinten liegt noch mehr von diesem Zeug, und dort unten der Schacht ist auch verschüttet und eingebrochen.“ Barno beugte sich weit vor und leuchtete in den Abbruch vor ihm.

„Vielleicht gab es hier ein Beben“, vermutete Rani, „während die Dunkelsonne einen besonders kritischen Punkt ihrer Bahn passierte, und der Fremde wurde davon überrascht und unter den niederstürzenden Gesteinsmassen begraben. Seine Gefährten konnten ihm nicht helfen. Wahrscheinlich mussten sie sich selbst in Sicherheit bringen.“

Der Kommandant beugte sich wieder nieder und betrachtete sinnend den Toten, den die Abgeschlossenheit seiner Raumhülle für alle Zeiten konserviert hatte.

Da, was war das? Hatte sich nicht eben der Fußboden ein wenig bewegt? Rani richtete sich auf und schaute sich suchend nach allen Seiten um.

„Habt ihr es auch gespürt?“ fragte er, und seine Stimme schwankte zwischen Erstaunen und Erschrecken.

„Ja, ich merke es auch! Der Boden wird durch irgendetwas erschüttert“, erwiderte Barno.

„Allmächtiger Himmel! Sofort zurück ins Schiff. Das ist ein Sonnenbeben! Macht schnell“, drängte Rani in Erkenntnis der drohenden Gefahr. Von der Decke bröckelten bereits kleine Teilchen und stürzten, von der mächtigen Schwerkraft gepackt, mit ziemlicher Härte auf die Fliehenden herab, denen der kalte Angstschweiß über die Stirn lief. Nicht auszudenken, was geschah, wenn sie hier eingeschlossen und lebendig begraben würden! Nie würde jemand etwas über ihren Verbleib erfahren.

An manchen Stellen zeigten sich bereits kleine Risse, die rasch größer wurden, und als hinter ihnen ein massiver Block unhörbar in die Tiefe stürzte, gab es kein Halten mehr. So schnell wie nur möglich rannten und schwebten sie wieder durch den Gang, zurück zum rettenden Schiff.

Mühsam und mit knapper Not wichen sie dem herabstürzenden Gestein aus. Immer zahlreicher wurden die herunter brechenden Brocken und erschwerten die Flucht. Vorn war bereits die Gangmündung zu erkennen, und Barno schöpfte neue Hoffnung. Aber die Freude war zu früh; wenige Schritte vor ihnen löste sich ein ganzes Stück der Decke und verschüttete den Weg.

Einen bangen Augenblick lang kämpften sie mit dem Entschluss, sich angesichts des Endes auf den Boden zu werfen und in stumpfer Verzweiflung dem Tod ins Auge zu sehen. Aber nur einen Augenblick lang. Dann fingen sie an, mit fliegenden Fingern das Gestein wegzuräumen. Doch ihr Bemühen war aussichtslos. Zu groß war der Trümmerhaufen, zu gering ihre Möglichkeiten.

„Mein Gott“, stöhnte Barno in grimmiger Wut auf, „dass ich daran nicht gedacht habe!“ Er nestelte an seinem Gürtel herum und zog aus einem Halfter den Strahler, ein unentbehrliches Hilfsmittel aller Forscher. Er holte tief Atem, um seine Nerven ein wenig zu beruhigen, und richtete das Gerät aus. Tief, so tief als nur möglich, drückte er den Auslöseknopf in die Furche des kurzen Strahlzylinders. Unter dem breiten Purpurfächer reiner Energie schmolz das stark metallhaltige Gestein zusammen, verformte sich unter dem Einfluss der Tausende von Hitzegraden und bedeckte schließlich als weißglühender Überzug, von dem in dichten Schwaden Metalldämpfe aufstiegen, den Boden. Die absolute Temperaturlosigkeit ließ die erkaltende Schlacke rasch alle Glühstadien durchlaufen. Noch als die Masse in tückischer Rotglut glomm, hasteten sie bereits hindurch, ganz im Vertrauen auf die Temperaturfestigkeit ihrer Raumhüllen. Nur noch hundert, noch fünfzig Meter, dann war es geschafft. Wie von tausend Teufeln gehetzt, stürzten sie sich aus der Schachtmündung, und gleich darauf barg sie das sichere Innere des Raumers.

Nur die starken Schwereanker verhinderten, dass die Magellan und ihre Bewohner hin und her geschleudert wurden. Dafür schlingerte das Schiff wie wahnsinnig.

„Es nützt nichts, wir kommen nicht mehr durch. Schalte das stärkste Schutzfeld ein, damit uns die stürzenden Massen nicht zermalmen“, rief Barno Asek zu, als sie sich in der Zentrale versammelt hatten, um zu starten. Kaum hatte Asek die nötigen Handgriffe getan, da zeigte ihnen der Astrovisor bereits, wie der gewaltige Felsendom über ihnen zusammenbrach. Zuerst erschien im Licht der Scheinwerfer ein Riss, der sich rasch verbreiterte, die ganze Steinkuppel hoch lief, sich in Nebenzweige verästelte und schließlich das überdimensionale Naturgewölbe zum Einsturz brachte. Aber die Massen erreichten den Körper der Magellan nicht. Etwa hundert Meter vorher wurden sie von dem unsichtbaren Zaubermaterial des Antigravitationsfeldes gestoppt.

Unwillig heulte der Massenumwandler auf und steigerte sein sonst unhörbares Arbeitsgeräusch zu einem warnenden Brummen. Die riesige Belastung ließ die Skalen der Kräfteregler beängstigend in die Höhe klettern. In wachsender Besorgnis beobachtete der Marsianer dieses Schauspiel. Doch dann beugte er sich auf atmend zurück. Der Zeiger war auf 17 000 Garsin stehengeblieben, machte noch einen kurzen Sprung in die Nähe des roten Striches, was

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag
Bildmaterialien: vss-verlag, Jürgen vom Scheidt
Lektorat: Chris Schilling
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2015
ISBN: 978-3-7368-8823-4

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