Schmökerkiste – Band 20
Albert F. De Bary – Das tötende Auge
La Salle, Teil 12
1. eBook-Auflage – Februar 2015
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung des Originalcovers der Romanheftserie
Lektorat: Hermann Schladt
DAS TÖTENDE AUGE
Albert F. De Bary
Der Posten zuckte unwillkürlich zusammen, als sich die Tür des Blockhauses in seinem Rücken fast lautlos öffnete. Die Dämmerung lag noch nebelgrau über dem Fort, aber hinter den Palisaden im Südosten verkündete ein mattsilberner Streifen bereits das Erwachen des Morgens. Der Mann, der, die Muskete zwischen den Knien, gegen den Pfosten gelehnt gestanden hatte, fuhr hastig herum und blickte in ein Paar kaltglühender Augen, die ihn ansahen, als sei er ein Gegenstand. Die Bewegung, mit welcher der Soldat Pierre Mauriac nach der Sitte der Zeit die Muskete zum Gruß anwinkelte, hatte etwas Automatenhaftes an sich. Der Mann ging an ihm vorbei und schritt quer über den noch von den Schatten der Nacht erfüllten Platz, der, vorläufig mehr einem Bauplatz als dem Innenraum einer Fortbefestigung glich. Der Soldat nahm klirrend das Gewehr zurück und starrte dem Rücken des Davongehenden nach.
„Diable!“ murmelte er zwischen den Zähnen, „die Rothäute haben recht, wenn sie ihn ,Das tötende Augeʼ nennen. Offengestanden: Tontys Eisenarm ist mir immer noch lieber; man weiß wenigstens wie man mit ihm dran ist.“
Das beunruhigende Gefühl, das den Soldaten Mauriac angesichts eines Blickes überkam, der ihn nur scheinbar unbeteiligt streifte, hatte freilich einen tieferen Grund. Der Soldat Mauriac hatte vor einer Reihe von Wochen, auf dem Marsch zwischen Fort Frontenac und Piqua, der Bundeshauptstadt der Miamis, an einer verunglückten Rebellion teilgenommen, die deren Anführer, dem Korporal Valcour und zwei Männern das Leben und drei anderen bis auf weiteres Freiheit und Waffen gekostet hatte. Er selber, mit drei Kameraden durch Hauptmann Tonty zur Pardonierung empfohlen, war zwar um jede Strafe herumgekommen, durfte Waffen tragen und Dienst tun, wie alle anderen, aber der Gouverneur sah ihn nicht, oder vielmehr: er sah ihn doch, er nahm nur keine Kenntnis von ihm, aber Mauriac hatte das unangenehme Gefühl, die letzte Windung seines Gehirns liege vor La Salle frei, wenn der unpersönliche Blick seiner eiskalten Augen ihn streifte, als sei er ein Baumstamm oder sonst ein uninteressanter Gegenstand. Er fand, die drei anderen hätten es besser getroffen, obgleich sie wie die Höllenhunde geflucht hatten, als Tonty sie für das Begleitkommando der Pelzflotte auswählte und Kapitän Renoir zur Verfügung stellte.
Die Pelzflotte war nun schon lange unterwegs; sie war noch vom großen Miami aus auf die Reise geschickt worden. Nach dem überwältigenden Siege des Häuptlings Wenonga über die Seneca und nach dem feierlichen Vertrag, den der Gouverneur mit den Sagamoren des Miamibundes geschlossen hatte, war seine Bitte, ihm eine indianische Rudermannschaft zur Verfügung zu stellen, auf keinerlei Schwierigkeiten gestoßen. Im Gegenteil: der Häuptling Talla-nuk, ursprünglich ein ziemlich hartnäckiger Gegner La Salles, der während des Siegeszuges Wenongas eine starke Oneida-Horde aufgerieben und dabei die Freundschaft des Hauptmanns Tonty gewonnen hatte, hatte sich selbst erboten, die Führung der indianischen Mannschaft zu übernehmen. Kapitän Renoir, der alte Seebär, der nur ungern mit den »Wilden, wie er alle Indianer ausnahmslos nannte, zu tun hatte, wäre freilich lieber mit einer weißen Mannschaft gefahren, aber daran war nach Lage der Dinge nicht zu denken. Es ging darum, so viel Pelze und Felle wie möglich nach Montreal zu schaffen. Da der „Greif“, das eigens zu diesem Zweck erbaute Segelschiff, geraubt und entführt worden war, ohne dass es bisher möglich gewesen wäre, eine Spur von ihm zu entdecken, kam alles darauf an, die verlorengegangene Pelzladung zu ersetzen, denn der Gouverneur brauchte Geld; die Gläubiger in Quebec und Montreal drohten bereits mit unangenehmen Zwangsmaßnahmen; La Salles Gegner, an der Spitze der reiche und skrupellose Pelzhändler Perrot in Quebec, taten alles, um seinen Kredit zu untergraben; Frankreich und der König waren weit, und die Banken in Quebec verweigerten weitere Zahlungen. Ein zweites Schiff war so schnell nicht zu bauen, also mussten Boote und indianische Kanus bis zur Grenze ihrer Ladefähigkeit vollgepackt und entsprechend bemannt werden, und dazu hätte La Salles ganze gegenwärtige Mannschaft kaum ausgereicht.
So waren die sechs schweren Boote und zehn indianische Kanus denn unter Kapitän Renoirs seemännischer Führung mit einer ausschließlich indianischen Rudermannschaft auf Fahrt gegangen. Renoir hatte nur ein kleines Begleitkommando von sechs seemännisch geschulten Soldaten unter Sergeant Robin mitgenommen. Und unter diesen sechs Soldaten befanden sich Gregoire, Matin und St. Clair, die drei Männer, die Hauptmann Tonty oder Häuptling Eisenarm, wie die Indianer ihn nannten, dem Gouverneur, ebenso wie den Soldaten Mauriac, zur Pardonierung vorgeschlagen hatte. Von La Salles alter Mannschaft hatte Renoir weiter die Männer Thibault, Denis und Noirot mitgenommen. Häuptling Talla-nuk aber war mit rund siebzig ausgewählten Kriegern in die Boote und Kanus gegangen; es reizte ihn wohl, auf diese Weise nach Norden zu kommen und die Jagdgebiete der Irokesen zu streifen der „Fünf Nationen“, deren eine, die Seneca, ihre erst vor Wochen eingesteckte Niederlage sicher noch nicht verwunden hatte. —
Die Pelzflotte gehörte der Vergangenheit an, sie musste eigentlich schon am Ziel ihrer Reise angekommen sein oder doch dieser Tage ankommen, aber dem Soldaten Mauriac kam sie unwillkürlich in den Sinn, als der Gouverneur jetzt, in der Dämmerung dieses Spätsommermorgens, an ihm vorbei über den von Palisaden eingezäunten Fortplatz schritt und zur Uferseite hinüberging. Das war, weil er an seine drei Kameraden denken musste, die jetzt vielleicht schon in Montreal waren und sich in irgendeiner Hafenkneipe zu Geigengedudel und Banjomusik die Kehle volllaufen ließen. Er wusste nicht, ob sie oder er den besseren Teil erwählt hatten. Ganz dunkel nur keimte in ihm der Gedanke, es möchte vielleicht eine Auszeichnung darin liegen, dass er bleiben durfte. Und dies, obgleich der Gouverneur, wie gesagt, durch ihn hindurchsah, als sei er aus Glas.
Wie gut hatte er es etwa im Vergleich zu Croisel, Lacroix und Philips, den dreien, die sich damals hauptsächlich an der Meuterei beteiligt hatten und nicht zur Begnadigung vorgeschlagen worden waren! Mauriac dachte noch mit Schaudern an die Szene in Piqua, als der Gouverneur vor der angetretenen Mannschaft über sie Gericht gehalten hatte.
„Ich könnte euch alle sieben kurzerhand aufhängen lassen", hatte La Salle gesagt, „und vielleicht sollte ich das tun, ich führe wahrscheinlich besser dabei, denn die kommende Zeit wird Anforderungen an uns stellen, die jeden Versuch zu Ungehorsam und Aufsässigkeit zu einem unsühnbaren Verbrechen machen. Nicht nur an mir, sondern an jedem einzelnen unserer Männer. Ich habe gar keine Lust, mit einer Bande verrotteter Haderlumpen in die Wildnis zu ziehen, ich brauche Männer um mich, auf die ich zählen kann, wenn es kritisch wird. Und es werden kritische Tage kommen, das versichere ich euch! Wenn ihr euch eingebildet habt, bei njir ein Luderleben führen zu können, dann habt ihr euch geirrt. Ich habe ein Ziel, und dieses Ziel ist höher und strahlender, als ihr zu begreifen vermögt. Obgleich ihr euch also wie Schweinehunde benommen habt, will ich für dieses Mal noch Gnade für Recht ergehen lassen. Die vier Männer, die Hauptmann de Tonty zur Begnadigung empfohlen hat, sind frei, sie empfangen nachher ihre Waffen zurück; was ich einstweilen von ihnen halte, ist meine Sache, mein Vertrauen werden sie sich verdienen müssen, und sie tun gut daran, sich das nicht zu einfach vorzustellen. Die anderen drei, die ohne jede Frage den Galgen verdient haben, verlieren für acht Wochen die Waffen und alle besonderen Rechte bei Verdoppelung ihrer Pflichten: sie essen allein, schlafen allein und arbeiten allein; sie sind Gefangene und werden beim geringsten Versuch zur Aufsässigkeit erschossen. Nach Ablauf dieser acht Wochen werde ich mir überlegen, was ich mit ihnen anfange; es wird weitgehend von ihnen selber abhängen.“
Mauriac liefen in Erinnerung an diese Szene Schauer über den Rücken. Damals hatten Miami-Indianer herumgestanden und zugeschaut. Sie hatten zwar wohl kaum etwas von dem, was La Salle sagte, verstanden, aber sie hatten deutlich genug gesehen, was vorging: die sieben Männer vor der Front der anderen, die bewaffneten Posten zur Linken und Rechten, die jede ihrer Bewegungen bewachten, die stumpfen, trotzigen oder niedergeschlagenen Mienen der Sieben und die Augen des einen Mannes, der vor ihnen stand und zu ihnen sprach. „Leuchtendes Auge" nannten die Miamis den Gouverneur, und freilich, seine Augen konnten auf eine besondere Weise leuchten, sie konnten zuweilen in einem schier unheimlichen Glanz aufstrahlen, dann fielen einem, sofern man kein ganz reines Gewissen hatte, alle seine Sünden ein. Jetzt erst, im Bereich der Winnebagos, war das Wort vom „Tötenden Auge“ gefallen; irgendwann einmal, aus irgendeinem Anlass war es dagewesen, und jetzt schlich es schon zwischen den Männern umher.
Der Soldat Mauriac starrte in die graue Düsternis, die sich im Hintergrund allmählich aufzuhellen begann. Er sah den Gouverneur nicht mehr, der war jenseits des riesigen Stapels passrecht geschnittener und behauener Stämme, die sich auf dem Hofplatz türmten, im Schatten der gegenüberliegenden Palisadenwand untergetaucht, aber seine Stimme drang jetzt von dorther herüber. Mauriac biss die Zähne zusammen, dass es knirschte; Der Gouverneur lachte. Er konnte zuweilen lachen wie ein Junge. Er konnte einem Mann von
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: bookworm by vss
Bildmaterialien: vss-verlag
Lektorat: Hermann Schladt
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7661-3
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