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Shogun – Band 11

Ryonosuke Akutagawa - Rashomon

1. eBook-Auflage – August 2014

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Masayuki Otara

Übersetzung: Armin Schnell

Lektorat: Armin Bappert

 

Ryonosuke Akutagawa

 

Rashomon

 

Vier Meisterwerke

 

Rashomon

 

Drei Fenster

 

Die Qualen derHölle

 

Der Christus von Nanking

 

Rashomon

Eines Abends wartete ein Mann unter dem Rashomon auf das Ende des Regens.

Er war allein unter dem weit ausladenden Tor. Nur auf einer der mächtigen runden Säulen, von denen der rote Lack an vielen Stellen schon abblätterte, saß ein Heimchen.

Da die breite Suzaku-Allee am Rashomon vorbeiführt, hätte man annehmen können, dass außer dem Mann noch ein paar Marktweiber mit ihren Strohhüten oder einige Herren mit vornehmer Kopfbedeckung hier Schutz vor dem Regen gesucht hätten. Doch der Mann war allein. Der Grund dafür? In den letzten zwei, drei Jahren war ein Unglück nach dem anderen über die Hauptstadt hereingebrochen: Erdbeben, Wirbelstürme, Feuersbrünste, Hungersnöte. Die Stadt bot ein nie gesehenes Bild der Verwüstung. In alten Chroniken heißt es, dass Buddhastatuen und Tempelgerät zerschlagen und die mit rotem Lack übergezogenen, mit Gold- und Silberfolie verzierten Hölzer an den Wegen gestapelt und als Brennmaterial feilgeboten wurden. Unter diesen Verhältnissen fand sich natürlich niemand, der sich die Pflege des Rashomon auch nur im geringsten hätte angelegen sein lassen. Füchse und anderes Getier machten sich das zunutze und suchten im Tor Unterschlupf. Auch Diebsgesindel hauste hier. Und schließlich wurde es sogar üblich, die Leichen, um die sich sonst niemand weiter kümmerte, einfach hierherzuschaffen.

So kam es, dass jedermann nur mit Unbehagen an diesen Ort dachte und niemand gern den Schritt in die Nähe des Tores lenkte, sobald der Tag sich neigte.

Dafür fanden sich hier aber scharenweise die Krähen ein. Nicht zu zählen waren sie, wenn sie tagsüber ihre Kreise zogen und krächzend den Dachfirst umflogen. Wenn dann der Himmel über dem Tor im Abendrot erglühte, glichen sie ausgestreutem Scsamsamcn. Sie kamen, um an den Leichen, die im Dach des Tores lagen, herumzuhacken. Heute jedoch, vielleicht weil es so spät war, ließ sich nicht eine Krähe blicken. Nur auf der stellenweise schon sehr verwitterten Treppe, in deren Rissen und Spalten langes Gras wuchs, leuchtete ihr Dreck wie helle Punkte.

Der Mann saß auf der obersten der sieben Steinstufen auf seinem vcrwaschenen blauen Überkleid. Er widmete seine ganze Aufmerksamkeit einem großen Geschwür auf seiner rechten Wange und starrte gedankenverloren in den strömenden Regen.

Wir sagten eingangs, dass der Mann auf das Ende des Regens wartete. Doch selbst wenn es nicht geregnet hätte, er hätte nicht gewußt, wohin er seine Schritte lenken sollte. In normalen Zeiten wäre er natürlich in das Haus seines Herrn zurückgekehrt. Indes, man hatte ihn vor ein paar Tagen aus dem Dienst entlassen. Wie schon erwähnt, war Kioto zu jener Zeit in einem noch nie gekannten Ausmaß zerstört und dem Verfall preisgegeben. Den Mann, der da von seinem Herrn, dem er lange Jahre gedient hatte, aus dem Hause gejagt worden war, hatte nichts als ein kleiner Ausläufer jener großen Woge allgemeinen Niedergangs erfaßt. Deshalb sollte man statt „der Mann wartete auf das Ende des Regens“ wohl auch treffender sagen: „Der eingeregnete Diener hatte nirgends mehr ein Unterkommen und wusste sich keinen Rat mehr.“ So war es wohl auch kaum allein der wolkenverhangene Himmel, der ihn traurig stimmte. Der Regen, der schon seit Stunden herniederströmte, schien nicht enden zu wollen. Während der herrenlose Diener gleichgültig lauschte, wie der Regen auf die Suzaku-Allee klatschte, fragte er sich immer wieder: Wovon soll ich morgen nur mein Leben fristen? Ist mein Schicksal denn unabwendbar?

Laut prasselnd zog der Regen von fern heran und hüllte das Rashomon ein. In der Abenddämmerung wirkte der Himmel noch niedriger. Das schräge Ziegeldach des Tores schien die schweren, tiefschwarzen Wolken zu stützen.

Viel Zeit, zu wählen zwischen dem, was er tun oder was er lassen sollte, blieb dem Mann nicht. Entschied er sich für den ehrenhaften Weg, dann hatte er nur die Wahl, wo er Hungers sterben wollte: an einer Mauer oder am Straßenrand. Man würde ihn schließlich in dieses Tor bringen und, einem Hunde gleich, in eine Ecke werfen. Wenn er... Wie oft seine Gedanken auch diesem gewundenen Weg folgen mochten, immer lief das Ergebnis auf das gleiche hinaus. Das Wenn blieb stets dasselbe entscheidende Wenn. Ihm war klar, dass er im Grunde keine andere Wahl mehr hatte; aber er brachte nicht den Mut auf, sich einzugestehen, dass die einzige Möglichkeit, diesem schicksalsschweren Wenn zu entgehen, Raub war.

Er nieste einmal kräftig und erhob sich mühsam. Der Abend in Kioto war so kühl, dass man sich nach einem wärmenden Feuer sehnte. Ungehindert strich der Wind, der das nächtliche Dunkel herantrug, durch die Säulen des Tores. Auch das Heimchen, das auf einem der rotlackierten Pfeiler gesessen hatte, war verschwunden. Der Mann zog den blauen Umhang, den er über dem gelblichen Unterzeug trug, über die Schultern, reckte den Hals und sah sich im Tor um. Er war entschlossen, hier den Morgen abzuwarten, vorausgesetzt, dass er einen Platz zum Schlafen fände, wo er vor Wind und Regen geschützt und vor den Augen zufälliger Passanten verborgen wäre.

Glücklicherweise fiel sein Blick auf eine breite, rotlackierte Leiter, die in das Dachgeschoß des Tores führte. Selbst wenn er dort oben Menschen begegnete, würden es gewiß nur Tote sein. Er setzte die Füße, die in Strohsandalen steckten, auf die unterste Leitersprosse, ängstlich darauf bedacht, das Schwert, das an seiner Seite hing, nicht aus der Scheide gleiten zu lassen.

Nur wenige Augenblicke waren vergangen. Schon hatte er die breite Leiter zur Hälfte erstiegen, da schmiegte er sich plötzlich wie eine Katze nahe an die Sprossen, hielt den Atem an und spähte nach oben. Ein schwacher Lichtschein fiel aus dem Dachgeschoß auf die rechte Wange des Mannes, wo zwischen den Bartstoppeln das eitrige, entzündete rote Geschwür aufleuchtetc. Von Anfang an hatte er fest damit gerechnet, hier oben nur Tote vorzufinden. Aber kaum war er weitere zwei, drei Stufen hinauf geklettert, da sah er schon, dass irgend jemand nicht nur ein Licht angezündet hatte, sondern es sogar umherzutragen schien. Jedenfalls glaubte er aus dem tanzenden Widerschein des flackernden gelben Lichtes an der mit Spinnetzen behangenen Decke darauf schließen zu können. Gewiß war es kein gewöhnliches menschliches Wesen, das in dieser Regennacht hier im Rashomon ein Licht angezündet hatte!

Lautlos wie ein Gecko kroch er bis zur letzten Sprosse hinauf, schmiegte sich so eng wie möglich an die Leiter, streckte den Kopf, so weit wie er nur konnte, vor und spähte angsterfüllt in den Dachraum des Tores.

In der Tat hatte man, wie erzählt wurde, ohne viel Umstände eine Anzahl Leichen hier hergeworfen. Der Umkreis, den das Licht erhellte, war kleiner, als er anfangs angenommen hatte, und so konnte er nicht genau erkennen, wieviel Leichen eigentlich hier lagen. Doch er sah, wenn auch nicht deutlich, dass einige völlig nackt, andere dagegen in einen Kimono gehüllt waren. Es schienen sowohl Männer als auch Frauen zu sein. Wie sie mit weit geöffnetem Mund, die Arme von sich gestreckt, in wirrem Durcheinander auf dem Fußboden lagen, glichen sie aus Lehm gekneteten Figuren, und man konnte anzweifeln, ob diese Menschen wirklich jemals gelebt hatten. Die für ewig Stummen schwiegen. Ein schwacher Schein des Feuers fiel ihnen auf Brust und Schultern, wodurch die Schatten auf den unteren Körperteilen noch dunkler wirkten.

Unwillkürlich grilf sich der Mann an die Nase, denn der Verwesungsgestank war unerträglich. Aber schon im nächsten Augenblick vergaß die Hand, die Nase zuzuhalten. Ein Schreck hatte ihn plötzlich des Geruchssinnes beraubt.

Sein Blick war auf einen Menschen gefallen, der zwischen den Leichen kauerte: auf ein altes Weib, affenähnlich, klein, verhutzelt, weißhaarig, mit einem dunkelbraunen Kimono bekleidet. In der Rechten hielt es einen Kienspan, die Augen waren auf das Gesicht einer Leiche gerichtet, einer Frau, wenn man nach dem langen Haar urteilte.

Der Mann, von sechs Teilen Furcht und vier Teilen Neugier beherrscht, vergaß für einen Augenblick sogar zu atmen. Um mit den Worten des Verfassers einer alten Chronik zu sprechen: „Die Haare sträubten sich ihm an Kopf und Körper.“

Die Alte steckte den Kienspan zwischen die Dielen, nahm den Kopf der Leiche, die sie bis jetzt betrachtet hatte, in beide Hände und begann, wie eine Affenmutter, die ihr Junges laust, ihr die langen Haare einzeln auszureißen. Die schienen ganz leicht der Bewegung ihrer Hand zu folgen.

Mit jedem Haar, das das Weib ausriß, schwand die Furcht des Mannes. Statt dessen entflammte in seinem Herzen ein wilder Hass auf die Alte. Doch nein, „auf die Alte“ ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Es war eher ein Abscheu gegen alles Böse und Schlechte, der sich von Minute zu Minute steigerte.

Wenn ihm in diesem Augenblick jemand von neuem die Frage vorgelegt hätte, die er sich vorhin unten im Tor selbst gestellt hatte, nämlich ob er verhungern oder sich entschließen wolle zu rauben - der Mann hätte jetzt wohl ohne Zögern den Hungertod gewählt. Wie das Feuer des Kienspans, den die Alte in eine Ritze gesteckt hatte, loderte der Hass in seinem Herzen.

Dabei wusste er noch nicht einmal, warum die Alte den Leichen die Haare ausriss. Folglich konnte er auch nicht sagen, ob ihr Handeln aus Gründen der Vernunft als gut oder als böse bezeichnet werden musste. Aber für ihn war es nun einmal ein unverzeihliches Verbrechen, in dieser Regennacht im Rashomon die Leichen ihrer Haare zu berauben. Natürlich dachte er nicht mehr daran, dass er vor wenigen Augenblicken noch selbst erwogen hatte, ein Dieb zu werden. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und sprang mit einem Satz von der Leiter auf die Alte zu, die Hand am Knauf des Schwertes. Die Alte fuhr zusammen. Den Blick starr auf den Mann gerichtet, schnellte sie wie vom Katapult geschleudert hoch.

Halt, wo willst du hin?“ schrie er sie an. Er versperrte ihr den Weg, als sie über die Leichen davonstolperte und zu entkommen suchte. Sie stieß ihn zur Seite, aber er hielt sie fest. Eine Weile rangen die beiden wortlos miteinander. Über den Sieger gab cs jedoch vom ersten Augenblick an keinen Zweifel. Schließlich packte er sie am Arm, drehte ihn herum und zwang sie zu Boden. Wie ein Hühnerbein, nur Haut und Knochen, war dieser Arm.

Was machst du hier? Sprich! Wenn du den Mund nicht aufkriegst, helfe ich nach.“

Blitzschnell zog er sein Schwert aus der Scheide und schwang die blitzende Klinge vor den Augen der Niedergeworfenen. Aber die Alte schwieg. Ihre Hände zitterten. Sie rang nach Atem. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, dass die Augäpfel aus dm Hohlen zu quellen schienen, doch ihr Mund blieb hartnäckig verschlossen, als sei noch nie ein Wort über diese Lippen gekommen. Als er sie so vor sich sah, wurde er sich zum ersten Mal in aller Deutlichkeit bewusst, dass das Leben der Alten jetzt völlig in seinen Händen lag, woraufhin sein lodernder Haß erlosch. Zurück blieb jenes angenehme Gefühl des Stolzes und der Zufriedenheit, das einen überkommt, wenn man ein Werk vollendet hat. Deshalb sagte er auch in einem etwas sanfteren Ton: ..Ich bin kein Häscher der Polizei. Bin nur ein Wanderer. Mein Weg führte mich zufällig durch dieses Tor. Ich will dich nicht binden und verhaften, sondern nur wissen, was du hier oben treibst!"

Als sie diese Worte hörte, wurden ihre ohnehin schon weit aufgerissenen Augen noch größer. Ihre Lider waren gerötet, ihr Blick, der stechend war wie der eines Raubvogels, haftete auf seinem Gesicht. Dann bewegte sie die Lippen, die man inmitten all der Runzeln kaum von der Nase unterscheiden konnte, als kaue sic etwas. In ihrem dürren Hals hob und senkte sich der spitz hervortretende Adamsapfel. Schließlich drangen aus jenem Halse Laute, die in den Ohren des Mannes wie das Krächzen eines Raben klangen: „Ich zupfe das Haar aus! Ich zupfe das Haar aus! Will Perücken daraus machen!"

Der Mann war sehr enttäuscht, dass die Antwort so unerwartet gewöhnlich ausfiel. Mit dieser Enttäuschung schlich sich wieder der alte Haß in sein Herz ein, jetzt gepaart mit kalter Verachtung. Sein Gegenüber schien seine Gefühle zu erraten. Die langen Haare, die sie der Leiche geraubt hatte, noch in der Hand, erzählte die Alte mit flüsternder Stimme, die wie das Gequake einer Kröte klang, diese Geschichte: „Gewiß, es ist sicher sehr schlecht, den Leichen die Haare auszureißen. Aber die Toten hier haben es ja nicht anders verdient. Denn diese Frau zum Beispiel, der ich soeben die Haare ausriss, schnitt Schlangen in vier Zoll lange Stücke, trocknete sie und verhökerte sie dann bei den Soldaten als Dörrfisch. Sie täte es vermutlich noch, wenn sie nicht an der Seuche gestorben wäre. Wie es heißt, hat ihr Dörrfisch sogar gut geschmeckt. Die Soldaten haben es nie versäumt, ihn als Beikost zum Reis zu kaufen. Ich kann in dem, was diese Frau tat, nichts Schlechtes sehen. Hätte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag
Bildmaterialien: vss-verlag
Lektorat: Armin Bappert
Übersetzung: Armin Schnell
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2014
ISBN: 978-3-7368-3341-8

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