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Amazing SF – Band 9

Daniel Schlegel – Der Geist der Adlerschwinge

1. eBook-Auflage – Dezember 2013

© vss-verlag Hermann Schladt

 

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.freepik.com/

Lektorat: Werner Schubert

 

 

Daniel Schlegel

 

Der Geist der Adlerschwinge

 

 

1. Der Treffpunkt

Die Tür schwang auf, protestierte dabei mit knarrendem Ächzen.

Licht fiel in den Flur, als Theodor die Wohnung betrat. Kleine Staubpartikel tanzten in der Luft, verwirbelten, während er eiligst in die Küche huschte. Seine Schuhe zog er nicht aus; der alte, verfilzte Teppich war ohnehin nicht mehr zu retten. Lediglich seine Tasche und die Geldbörse legte er auf der Kommode ab. Dem selbst gemalten Bild, das nicht so recht zu der vergilbten Tapete passte, schenkte er keine Beachtung. Die Küchenwände präsentierten sich in einem ähnlichen Farbton – ein gelblicher Stich, über dem Ofen dagegen rußgeschwärzt. In der Mitte stand ein Tisch, flankiert von einigen Stühlen; ein Waschbecken, Schränke. Wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man weitere Wohnquartiere sehen, und in einiger Entfernung sogar die Rauch speienden Ausläufer der Industrieanlagen.

Er setzte sich an den gedeckten Tisch und nahm Messer und Gabel zur Hand. Drei Augenpaare sahen ihn an, die seiner beiden jüngeren Brüder und das seiner älteren Schwester. Zwei der sieben Plätze blieben leer. Auf ihnen standen zwei Fotografien, eingerahmt und mit einem schwarzen Band verziert.

»Da kommst du ja doch noch«, ertönte hinter ihm die fürsorgliche Stimme seiner Mutter. »Wir haben dich schon vermisst und dachten, du würdest gar nicht mehr zum Mittag erscheinen.«

»Die Schutzübungen haben etwas länger gedauert, Frau Mutter«, erwiderte er.

Die Hand seiner Mutter strich ihm durch die Haare. Ihr warmes Lächeln konnte die tiefen Sorgenfältchen in ihrem Gesicht jedoch nicht verbergen. »Möchtest du nicht deine Uniform ausziehen, bevor du isst?«

Er begriff die versteckte Aufforderung, nickte und stand auf. Im Flur öffnete er die linke Tür. Drei Doppelstockbetten und ein breiter Schrank verstärkten den klaustrophobischen Eindruck eines viel zu kleinen Zimmers – hier schliefen sie, er und seine Geschwister. Eines der Doppelstockbetten war unberührt, Laken und Decke waren glatt gestrichen und akkurat angeordnet, auf dem Kissen fand sich kein einziges Haar. Darüber hing eine Fotografie, dieselbe, die auch auf dem Essenstisch stand, ebenfalls mit einem schwarzen Band verziert.

Ein kurzer, nachdenklicher Blick.

Dann kramte er seine Alltagskleidung aus dem Schrank, an deren Stelle er seine Uniform legte. Er richtete Kragen und Ärmel und wischte die Fusseln von den Schultern.

Ein Geräusch lenkte seinen Blick zum Fenster. Ein Kind in seinem Alter klopfte gegen die trübe Glasscheibe. Weit aufgerissene Augen und ein aufgeregtes Auf-und-ab-Gehüpfe nahmen die Brisanz der Botschaft bereits vorweg.

»Theodor? Theodor!«, hallte es dumpf von draußen.

Er öffnete das Fenster, sah, wie sich augenblicklich die Erleichterung im Gesicht seines Freundes breitmachte. »Ja, Spendrin? Was gibt’s denn?«

»Gesegnet seien die Götter, du bist hier! Du musst sofort mitkommen!«, stammelte Spendrin, vor Begeisterung außer sich. »Leonard hat damit angegeben, dass er die Metallkrypten betreten möchte! Er hat geschworen, dass er mindestens drei Minuten in völliger Dunkelheit und ohne zu schreien oder zu flennen aushalten wird. Du musst mitkommen! Sofort!«

»Was? Jetzt?«

»Natürlich, jetzt! Wann denn sonst? Komm, beeil dich, Theo, sonst verpassen wir alles!«

»Ich weiß nicht so recht …«

»Ach, Theo, dass man für dich immer noch eine Predigt halten muss, bevor du dich aufraffst. Das wird ein Ereignis, sage ich dir! In zehn, zwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahren wird man noch davon sprechen – und du willst nicht dabei sein?«

»Hm, na gut«, besann er sich, von Spendrins Enthusiasmus angesteckt. »Aber warte einen Moment, ja? Ich muss erst essen, dann komme ich.«

Sein Freund trampelte im Freudentaumel. »Ja, ja, wunderbar! Iss, aber beeil dich! Ich sag den anderen Bescheid, wir treffen uns dann am alten Dampfwerk! Bring am besten noch jemanden mit, je mehr wir sind, desto besser!« Und schon rannte er davon.

»Hast du eine Ahnung, wen ich mitbringen könnte?«, rief Theodor, doch Spendrin war bereits hinter der Hausecke verschwunden. Sein Herz begann aufgeregt zu klopfen, als eine Idee in sein Bewusstsein drängte – und mit ihr das Gesicht von Luise.

Theodor vergeudete keine Zeit, rauschte durchs Zimmer bis in die Küche – und vernahm noch, wie seine Mutter sagte: »Jetzt, da wir endlich vollzählig sind, können wir anfangen zu essen.«

Er schlang seine Mahlzeit hinunter. Anschließend schnell eine glaubwürdige Lüge ersonnen, die Sachen gepackt und raus aus der Haustür.

»Wann kommst du wieder?«, hörte er hinter dem sich schließenden Türspalt.

»In den Abendstunden«, antwortete er, schloss die Tür und trat auf die Straße.

Trockener Sand knirschte unter seinen Sohlen. Bräunlich gelbe Rauchschwaden dämpften das Sonnenlicht, diffuse Schatten auf die Häuser werfend. Ein altbekannter, stechender Geruch stieg ihm in die Nase. Der Wind hatte gedreht, nun wehten die Abgase der Fabriken über die Mietskasernen.

Menschen liefen die Straße entlang. Viele von ihnen waren in Arbeitskleidung gehüllt, mit ölverschmierten Gesichtern und Händen, in leicht gebückter Haltung. Es waren die Gruben- und Bergwerksarbeiter, die ungewöhnlich früh aus den Minen heimkehrten. In der Schule hatte es geheißen, dass ein Stollen zusammengestürzt sei und die Arbeiter nach Hause geschickt worden waren. Daneben sah er Frauen in graublauen Kleidern: Trödlerfrauen und Lieferantinnen, die neue Waren zum Markt brachten, in jeder Hand einen Korb tragend oder einen Karren vor sich herschiebend. In seiner Gegend nannte man sie nur »Straßenfurien«. Angesichts der Rücksichtslosigkeit, die sie während ihrer Hatz durch die Straßenzüge an den Tag legten, erschien ihm diese Bezeichnung äußerst passend.

»Und wo gehst du wirklich hin?«

Theodor drehte sich um und sah seine große Schwester allein vor der Haustür stehen. Ihr bohrender Blick und der abgeklärte Tonfall verboten es, ihr eine weitere Lüge aufzutischen. »Ich gehe zu den Metallkrypten.«

Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. »Du weißt, dass es dort spukt, oder? Ein Geist treibt dort sein Unwesen. Die Seele einer vor langer Zeit verstorbenen Adlerschwinge, die nun auf Rache sinnt an allen, die ihr Reich betreten.«

»Blödsinn!«, tat es Theodor ab. »Kleinkinder kannst du damit vielleicht verschrecken, aber mich nicht. Mit dreizehn Jahren weiß man nämlich schon, dass es keine Geister gibt.«

Sie zwinkerte ihm zu. »Wie du meinst, Brüderchen. Aber wenn du inmitten der Dunkelheit plötzlich zwei lodernde Augen siehst, dann denk an mich – ich habe dich gewarnt!«

»Warst du überhaupt schon mal in den Metallkrypten?«

»Was für eine Frage! Natürlich, Brüderchen«, raunte sie, aber Theodor wusste nicht, ob sie log oder die Wahrheit sagte. »Schon vor Jahren. Da war ich sogar noch jünger als du.«

»Glaub ich nicht! Wenn du wirklich dort gewesen bist, kannst du mir sicherlich erzählen, wie es da aussieht.«

»Dunkel, stockdunkel. Man sieht die eigene Hand vor Augen nicht. Eine ewige, unergründliche, allumfassende Finsternis, in der sich irgendwo der Geist versteckt. Und dann, wenn man sich allein glaubt und in Sicherheit wiegt, kommt er aus seinem Versteck und verschleppt dich. So viele Kinder sind bereits in die Tiefen hinabgestiegen – nicht alle kehrten zurück.«

»Mir graust es jetzt schon«, sagte Theodor mit sarkastischem Unterton.

»Ich wusste es«, neckte seine Schwester. »Ein Angsthase durch und durch. Die mag der Geist am liebsten, weil sie so schön schreien.«

»Ich muss leider los und habe keine Zeit mehr für deine Märchen, Schwesterchen.« Er streckte ihr die Zunge raus und schritt rückwärts auf die Straße. »Aber verrate der Frau Mutter nichts, ja?«

Sie grinste. »Nur, wenn du rechtzeitig zum Abendessen wieder daheim bist!«

Theodor wandte sich um, fort von ihrem Haus, einem der massenhaften Quartiere zwischen Mietskasernen und Baracken. Er bog nach rechts ab, rannte einige Meter den staubigen Pfad entlang, bis er die Seitengasse verließ und schließlich den harten Asphalt der Hauptstraße unter seinen Füßen spürte.

Wie eine zähe Masse wälzte sich ein menschlicher Strom durch die Straße. Die Motoren der Dampfautomobile – seltene Anblicke in diesem Viertel – bockten und husteten, Pferdehufe klackerten, eine Peitsche knallte. Der Lärm war ohrenbetäubend und chaotisch. Mehrere Meter über der Straße spannte sich ein weitläufiges System von Flaschenzügen, Metallstreben und Kabeln, mit dessen Hilfe Frachtbehälter zeitsparend zu ihren Bestimmungsorten transportiert wurden.

Arbeiter, Kaufleute, Ordnungshüter, Kinder – ihm schien, als sei die halbe Stadt zugegen. Inmitten der vielen einfach gekleideten Leuten erspähte er auch einige vornehmere Damen und Herren, unschwer erkennbar an ihrer aufwendigen Garderobe. Sie trugen piekfeine Anzüge oder Turnürenkleider, aus Tunika und Rock bestehend; Schirme und Hüte schützten sowohl vor der Sonne als auch vor dem sauren Regen, der von Zeit zu Zeit über dem Viertel niederging. Vereinzelt befanden sich Eisenmänner – menschenähnliche Roboter – in ihrem Gefolge, die das Gepäck schleppten.

Grübelnd verharrte Theodor am Straßenrand. Geradeaus und direkt zum Dampfwerk oder nach rechts zu Luise? Er zögerte. Abermals geriet sein Blut in Wallung. Die Hände zu Fäusten geballt, vergaß er seine Scheu und setzte sich in Bewegung.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag
Bildmaterialien: vss-verlag
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6660-0

Alle Rechte vorbehalten

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