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Düstere Welten – Band 4
Willy Seidel – Das älteste Ding der Welt
1. eBook-Auflage – Februar 2013
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.freepics.com/
Lektorat: Hermann Schladt


Willy Seidel

Das älteste Ding der Welt

Die drei Zeichen

Es war an einem deutschen Fluss – sagen wir an der Lahn – und in einem Städtchen, das man sich wie Limburg vorstellen mag. In den tiefen Buchenwaldungen der Umgebung ging der achtzehnjährige Harald von Calmus, einziger Sohn des bejahrten, aber geistig noch regen Reichsfreiherrn von Calmus-Dunkelstedt – Kammerherrn und pensionierten Offiziers – sehr gern spazieren.
Wie schon öfter, war es Harald durch eine kleine Finte gelungen, seinen Hauslehrer abzuschütteln, der an einem sonnigen Samstagnachmittag bereits auf Montags-Lektionen erpicht war, denn er bereitete den Schüler auf die Maturitätsprüfung vor.
Harald ging allein durch die Felder auf das Pfaffenwäldchen zu. In ungestörtem, trächtigem Frieden reifte die kommende Ernte dem Herbst entgegen. Jeder Atemzug war Frieden. Die Lerchen, wie Punkte ins weite Blau gestreut, tröpfelten friedliche Triller hernieder. Der Wind umschmeichelte das fahle Grün der strotzenden Saat wie mit trägem, von Frieden erschlafftem Fächer. Insekten schrillten und summten; ihr Getön verwob sich zu feinmaschigem Netz von Lauten, sanft auf alle Daseinsängste sinkend. Irgendwo blinkte ein Teich hervor und spiegelte winzige weiße Wolken; gab dem hellen Blau funkelnde Verklärung zurück. Die Oberfläche dieses Teiches zitterte leise wie die Haut eines großen Tieres in Wollust der Ruhe.
Während Harald so schritt, machte er sich keineswegs Gedanken über die bevorstehende Prüfung, sondern er trug, ganz für sich, seine Andacht dahin zu den großen und stillen Linien, zu der strotzenden Natur; und in ihm fand jeder wispernde Ton des sich erfüllenden Wachstums dankbar liebevolles Echo. Er geriet, wie oft bei solchen Wanderungen, in eine Art entrückten Zustandes, der ihn für Stunden gefangen nehmen konnte gleich sanfter Hypnose durch brennende Farben, einlullende Lieder. Das Hemd stand ihm offen auf der Brust, der weiche Kragen war zurückgeschlagen. Aus den kurzgeschnittenen Ärmeln pendelten die gebräunten Arme lässig zu seinen Seiten, und seine blauen, halb zugekniffenen Augen spähten in die Ferne, ohne doch etwas Bestimmtes zu sehen. Er war selbst zu einem Stück der Natur geworden, wie er so wunschlos einher trottete ohne Bedürfen. Eines wusste er: dass er sich unendlich wohlfühlte; dass nichts ihm übelwollte, und dass er von Talenten und Möglichkeiten trächtig sei wie dieser von Keimen und fruchtbaren Zersetzungen erfüllte Boden.
Die von jungem Blut prall durchpulsten Lippen hielt er halb geöffnet in dem warmen Dunst und schlürfte die Luft, die ihn durchdrang wie Wein. Eine Mütze trug er nicht, das bräunlich goldene Haar ward frei von jedem Wind durchwühlt. Heute hing es ihm halb in die Stirn, und er schüttelte es zuweilen mit zuckender Bewegung des Nackens hinters Ohr.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
Ein grauer Stein fiel aus der Luft herab. Hierauf erhob sich Wogen der Halme und wildes Rascheln dort, wo er eingeschlagen. Als ob ein kleiner Wirbelwind an jener Stelle entstehe, sträubten sich die Ähren. Er hörte klatschendes Geräusch, schnell mehrmals wiederholt; zwei quiekende Töne – und nach kurzer Zeit arbeitete es sich aus den Ähren hervor, um in trägem Flug ein kleines Wesen davon zu schleppen, was noch zuckte, quer eine Gasse nach dem Wald zu in das Getreide peitschend: ein mächtiger Habicht, der einen Junghasen in den Krallen trug, eng an sein mörderisches Herz gepresst. Harald stürzte nach der Einfallstelle und sah mohnblumenrote Tröpfchen im Umkreis verspritzt. Er suchte nach einem Stein, gab es bald auf, ging mit zielbewussteren Schritten weiter.
Das Pfaffenwäldchen, ein größerer Buchenbestand, nahm ihn auf. Er folgte ungefähr der Richtung, die der Habicht genommen; doch der Boden hier, uneben, gestattete kein gerades Vorwärtsdringen.
Er hatte kaum hundert Schritte in den Wald hinein getan, und die Klänge der sommerlichen Felder verschollen hinter ihm. Ab und zu war es noch, als trage ein warmer Windstoß eine Welle von Insektengezirp herzu, die sich jedoch nur flüchtig im Ohr hielt und wie ein zarter Aufschrei verebbte.
Es war tempelstill. Er sah nichts als grüne Dämmerung, wellig bewegten Boden, von stillen Lichtern gesprenkelt. Seine Tritte versanken im Moos oder stießen hart auf hervorbrechende Steine, und als er um die große Eiche bog, die auf einer kleinen Lichtung etwa in der Mitte des Wäldchens stand, geschah ein Zweites.
In spindelförmigen Drehungen glitten zwei braune Körper um einen knorrigen Ast. Dazwischen blitzte es gelb von schlangenhaft gewundenem Leib: ein Edelmarder. Wie ein zuckender Bausch von brauner Watte fuhr kurz vor seiner Nase der Schwanz eines Eichhorns hinweg. Sie stoben um den Baum: Verfolgtes und Verfolger. Rindenfetzen regneten herab. Oben aus turmhoher Spitze schossen sie durch ein Stück Blau wie Flieger, und man sah, dass der schwerere Körper mit größerer Schnellkraft den kleineren überholte. Man hörte ein gleichzeitiges Aufschlagen beider am nächsten Stamm, knirschendes Geräusch, einen Ton wie einen Pfiff, und dann Stille.
Harald eilte herzu. Noch sah er nichts. Zunächst kam noch ein Rindenstückchen – dann taumelten in sachten Schwingungen braune Haarflöckchen herab . . . Plötzlich fuhr er zusammen und erschrak im Tiefsten.
Es war, als ob ein leiser Finger ihn an der Schulter rühre, die aus dem geöffneten Hemde geglitten war. Er starrte darauf hin: ein Tropfen Blut saß auf seiner weißen Haut und sickerte, seine Rinnen entfaltend, die Brust herab. Er wischte es aufatmend mit dem Hemde weg, etwas Angstvolles trat in seinen Blick, für den Moment Ratloses – dann, in seinem Unvermögen, des Mörders habhaft zu werden, peitschte er mit einem Zweig wütend auf den Stamm los.
Langsam ging er weiter. War er in eine Gegend geraten, in die er sich so selten begab, dass sie ihm fast unbekannt dünkte? Es waren zwar immer Bäume, Moos, Steine, kleine Klüfte; aber es schien, als sei er nun in einem Bereich, der sonst gemieden wurde. Vorjähriges und vorvorjähriges Laub schwärte, von fauligem Wasser durchsetzt, in Löchern, die keinen Abfluss gestatteten. Der Boden trug das Gepräge vulkanischer Zerrissenheit, soweit ein sanftes deutsches Waldbild diese Form entwickelt.
Er erkannte, dass hier ein Sumpfgebiet war, das man ungern durchschritt; zwar war es nicht gefährlich, aber es ermüdete und führte zu keiner Entdeckung. Besser, man streifte am Rande dieses Teiles entlang, bis man auf die Straße zurückkam.
Aber er war nun einmal schon fünfzig Schritte hineingeraten, und er fand nicht den Entschluss, wieder umzukehren – seltsam überzeugt plötzlich, er werde noch auf etwas Bestimmtes stoßen; worauf, das wusste er nicht. Er sprang über die moorigen, von schlammigem Humus erfüllten Löcher, kam dann wieder auf trockene Stellen und merkte auf einmal an dem Ansteigen des Bodens, dass er an das »Hünengrab« gelangt sein müsse.
Dies war ein Hügel, den man in der Gegend so nannte, obwohl oberflächliche Untersuchungen längst festgestellt, dass von einem Grab keine Rede war. Nur die seltsam spitzige Form des Hügels hatte den Namen entstehen lassen. Außerdem knüpfte sich, wie ihm jetzt einfiel, lächerlicher Aberglauben an diesen Hügel. Da er im Freien lag, so hatte sich wohl vor Jahrhunderten ein Wirrkopf, der hier eingeschlafen, einen Sonnenstich geholt und allerhand gefaselt, was recht gut in den Rahmen durch Foltern erpresster Berichte gepasst haben mochte.
Eine andere Tatsache, die den Ort im Volksmund verfemte, war die, dass die hier wachsenden Pilze einen »Hexenring« bildeten – einen Ring, dem Bannkreis entsprossen, den dunkler Künste Fähige hier gezogen. Harald stand in praller Sonne dicht vor diesem »Hexenring«. Ja, da war er; Hunderte von Fliegenpilzschirmen leuchteten aus dem Grase hervor – wie Blutspritzer..
Ihn fröstelte. Wie kam ihm nur der Gedanke an Blut so ständig wieder in den Sinn?! – Zwei Morde hatte er erlebt, ja, da war's: alltägliche Morde, versteckte, lächerliche und belanglose Morde, die in den Kreislauf gehörten wie alles andere. Und doch scheute er sich, mit dem Fuß den Ring zu stören, sondern setzte mit breitem Schritt darüber hinweg in das Innere. Da er sich außer Atem fühlte, ließ er sich auf einem Stein nieder und blickte nachdenklich vor sich hin.
Plötzlich regte sich etwas im Grase. In rasenden Sprüngen, wie es sonst ganz gegen die Gewohnheit solcher Amphibien ist, durchquerte ein großer, brauner Frosch vor ihm das Gras. Er war unablässig beschäftigt, seine Schenkel zu gebrauchen, und längst auf der anderen Seite entschwunden, als der züngelnde Kopf einer mächtigen, meterlangen Ringelnatter auftauchte und sich schwarzäugig und zuckend umher drehte. Dann schoss sie davon wie ein grauer Pfeil.
Jäher Impuls riss den Jungen empor: Hier endlich, hier, beim dritten Male, dass er einen Mord sah, diesen zu verhindern. Wie rasend suchte er nach einem passenden Stein. Endlich, als es gerade noch Zeit war, gelang es ihm, ein mäßig großes Stück herauszubrechen. Er stürzte der Natter nach und zermalmte sie damit in der Mitte des Leibes. Sie wandte ihm den Kopf zu mit geöffnetem Rachen, eifrig weiterzüngelnd; – dann versteinte diese Gebärde. Der Schwanz zuckte; dann verlor sich das Leben. Harald sank ins Gras nieder und sah, wie das anklagend geöffnete schwarze Mäulchen ruckweise zurückfiel.
Wie war das? – Er hatte etwas verhindern wollen, und nun hatte er es selber getan! Das Verhinderte hatte Sinn gehabt; das, was er getan, war zwecklos. Was ging ihn der Frosch an! Wirre Gedanken, mit einer halben Schläfrigkeit verknüpft, kreuzten seinen Kopf. Dass er nicht weiterging, daran war wohl noch diese leichte Müdigkeit schuld . . .
Als der Stein die Schlange zerquetscht hatte, war ein seltsamer Ton zu hören gewesen, wie wenn man mit einem Hammer an Metall schlägt. Er untersuchte den Fleck, und seine Finger erfassten etwas Hartes, von Sonne stärker Durchhitztes. Kein Zweifel: hier sah ein Stückchen Metall, hellgrau, und von kleinen Zacken besetzt, aus dem Boden hervor. Er bemühte sich, es herauszureißen, doch schürfte er sich nur die Finger daran wund.
Mit einem Male befing ihn so tiefe Schläfrigkeit, vermischt mit seltsam abwehrenden Gedanken an das Blut an seinen Fingern und an die blutroten Pilze ringsum. »Ich glaube, ich mache mich in den Wald zurück«, dachte er. Doch es gelang ihm nicht mehr, den Vorsatz auszuführen; er sank mit dem Kopf auf den Rasen mitten zwischen eine Gruppe von Pilzen, die mit kühler Berührung seine erhitzte Wange streichelten. Dann war er traumlos entschlafen.
Er schrak empor. Es war halb finster. Die Sonne war gesunken. Er riss seine Uhr heraus, doch sie war stehengeblieben. Er erhob sich mit Beschwerlichkeit und ging auf der anderen Seite des Hügels in den Wald hinab, wo er des ungewissen Lichtes halber öfters stolperte und in schlammige Mulden einsank bis zum Knie.. Ein glühendroter Abendhimmel verblutete hinter den Stämmen am Rande, dort, wo die Straße war. Es war schwül, kein Lüftchen regte sich. Endlich hatte er sich aus dem wässerigen Bezirk herausgefunden und war auf festen Boden gelangt. Es kam ihm unbegreiflich vor, dass er von zwei Uhr nachmittags bis zum Sonnenuntergang unterwegs gewesen und einen so großen Teil dieser Zeit verschlafen haben sollte.

Verhext

Er stand auf der Straße. Die Abendglut war erstorben, und klarer Sternenhimmel wölbte sich über ihm.
Während er vorwärts ging, spürte er, dass er keine Eile mehr habe, heimzukommen; ja es schien, als sei er durch irgendeine Behinderung gezwungen, seine Schritte mit weit größerer Gemächlichkeit zu setzen, als er es sonst zu tun pflegte, wenn er von ausgedehnten Spaziergängen abends zurückkehrte. Es war beinahe, als müsse er im selben Tempo, wie er vor Stunden in der Sonnenglut in den Wald hineinspaziert, auch den Heimweg machen; und dies fiel ihm leicht; denn jedes Bedürfnis war ausgelöscht, schnell nach Hause zu kommen.
Der Gedanke an sein Zuhause widerte ihn auf einmal an. Dort drüben, wo der zackige Schattenriss des

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Hermann Schladt
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2013
ISBN: 978-3-7309-1171-6

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