Vergangene Zukunft – Band 3
Edgar Allan Poe – Hans Pfaall
1. eBook-Auflage – Juni 2012
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
Es jagen in meinem Kopfe sich wütende Phantasien,
mit feurigem Ross und funkelndem Spieß will ich in die Wüste zieh'n.
Tom O'Bedlams Lied
Nachrichten, die vor Kurzem aus Rotterdam eintrafen, besagen, dass sich die Stadt in einer erregenden geistigen Auseinandersetzung befindet. Es sind dort so wundersame, so unerhörte Dinge geschehen, dass ich keinen Augenblick zweifle, ganz Europa werde in Kürze in Aufruhr geraten, die Philosophie und die Astronomie aber einander in die Haare kommen und die Physik eine völlige Umwälzung erleben.
Wie es scheint, so hatte sich am ... des Monats ... (das Datum ist mir nicht mehr gegenwärtig) eine ungeheuer große Volksmenge auf dem großen Börsenplatz der alten Handelsstadt Rotterdam versammelt. Warum? Das weiß ich nicht zu sagen. Es war warmes, für die Jahreszeit ungewöhnlich warmes Wetter, kaum dass ein Lüftchen wehte; und die Leute waren nicht ärgerlich, dass sie dann und wann durch kurze, wohltuende Regenschauer ein wenig durchnässt wurden, die aus gewaltigen weißen Wolkenmassen stürzten, welche das blaue Himmelszelt fast gänzlich verdeckten. Trotzdem bemächtigte sich der Menge gegen zwölf Uhr eine leichte, aber doch deutlich spürbare Unruhe; zehntausend Zungen kamen mit einem Male in Bewegung, und einen Augenblick darauf waren zehntausend Gesichter dem Himmel zugewandt, während gleichzeitig aus zehntausend Mündern ebenso viele Tabakspfeifen genommen wurden und ein nur dem Brausen des Niagara vergleichbares Jubelgeschrei lang, laut und ungestüm durch die ganze Stadt und die ganze Umgebung von Rotterdam hallte.
Bald genug lernte man die Ursache des Lärms kennen. Hinter einem der erwähnten Wolkenberge sah man ganz langsam aus einem kleinen blauen Fleck ein wunderliches, fremdartiges, anscheinend aber festes Ding hervortauchen, das so seltsam gestaltet und zusammengesetzt war, dass die wackeren, mit offenem Munde dastehenden Bürger sich schlechterdings keinen Begriff davon machen und sich nicht genügend darüber wundern konnten. Was mochte das sein? Was mochte das bei allen Teufeln Rotterdams zu bedeuten haben? Niemand wusste das; niemand konnte es sich auch nur im Entferntesten denken; niemand – der Bürgermeister Mynheer Superbus von Underduk selbst nicht ausgenommen – besaß auch nur das kleinste Fädchen, um sich in diesem rätselhaften Labyrinth zurechtzufinden. Alle nahmen daher, da nichts Besseres zu tun war, ihre Pfeife wieder in den Mund, blickten weiter auf die Erscheinung, qualmten drauflos, hielten inne, trotteten umher und brummten bedeutsam, bis sie wieder zurücktrotteten, wieder brummten, innehielten und – qualmten.
Unterdessen aber näherte sich der guten Stadt immer mehr der Gegenstand so vieler Neugierde und die Ursache so vielen Rauchens. Schon nach wenigen Minuten kam das Ding so nahe, dass man es deutlich erkennen konnte. Es schien eine Art Ballon zu sein, ja, es war tatsächlich ein Ballon; sicherlich aber hatte man in Rotterdam noch nie solch einen Ballon gesehen. Denn man erlaube mir, den verehrten Leser zu fragen, ob er schon von einem Ballon gehört habe, der ganz und gar aus schmutzigen Zeitungen gemacht worden ist? So viel ist auf jeden Fall gewiss, dass man in Holland noch nie so etwas gesehen hatte; und doch stand das Ding vor der Nase der guten Leute und war, wie ich aus bester Quelle weiß, gerade aus dem Material gefertigt, das ich genannt und das man noch nie zu einem solchen Zweck verwendet hatte.
Die Rotterdamer Bürger wussten gar nicht mehr, was sie von der Sache halten sollten; sie waren völlig verwirrt. Was die Gestalt der Erscheinung betrifft, so fanden sie sie noch weit unbegreiflicher, da sie genau einer riesigen, umgekehrten Narrenkappe glich. Und je länger die Menge hinschaute, umso weniger konnte sie darüber einem Zweifel Raum geben; hing doch von der Spitze eine ungeheure Quaste herunter, während der obere Rand des Kegels eine Menge kleiner, Schafglöckchen gleichender Instrumente zeigte, die in einem fort erklangen, so dass man die bekannte Melodie »Wilhelmus von Nassauen« zu hören glaubte.
Aber es sollte noch ärger kommen. An blauen Bändern hing unten an der phantastischen Maschine ein riesiger, lichtbrauner Biberhut, der, die Stelle einer Gondel vertretend, einen ungeheuren Rand und eine halbkugelförmige Krone mit blauem Bande und silberner Schnalle sehen ließ. Es ist gleichwohl etwas auffallend, dass gar viele Rotterdamer Bürger schworen, sie hätten den gleichen Hut früher schon öfter gesehen, und wirklich schien auch jedermann ihn als eine wohlbekannte Erscheinung zu betrachten, während Mevrouw Grettel Pfaall, als sie des Dings ansichtig wurde, ihrer Überraschung durch einen Freudenschrei Luft machte und geradezu erklärte, es sei nichts anderes als der Hut ihres lieben Mannes.
Das war nun ein umso bemerkenswerterer Umstand, als Pfaall mit drei Bekannten vor etwa fünf Jahren plötzlich und in völlig unerklärlicher Weise aus Rotterdam verschwunden war, so dass bis auf den Tag unserer Erzählung alle Versuche, die Sache aufzuklären, gescheitert waren. Allerdings hatte man vor noch nicht langer Zeit östlich der Stadt an einem abgelegenen Ort Knochen gefunden, die, mit einer Menge wunderlich aussehenden Schutts vermischt, für Menschengebeine gehalten wurden; und es gingen etliche schon so weit, dass sie meinten, es sei an dem fraglichen Orte ein furchtbarer Mord verübt worden, die Unglücklichen aber seien höchstwahrscheinlich niemand anders als Hans Pfaall und seine Freunde. Allein, es waren nur Vermutungen, die sich durch nichts beweisen ließen.
Der Ballon (denn ohne Zweifel war es einer) stand jetzt nur noch hundert Fuß über der Erde, so dass die Menge die darin sitzende Person ganz deutlich sehen konnte. Die Person war ein Wesen, wie es nicht kurioser hätte sein können. Sie war höchstens zwei Fuß groß; so gering aber seine Größe war, so hätte sie doch ausgereicht, das Gleichgewicht des Männchens zu zerstören und es über den Rand seiner winzigen Gondel hinausfallen zu lassen, wäre nicht ein kreisrunder Reif gewesen, der, dem Männchen um die Brust gelegt, durch dicke Schnüre an dem Ballon befestigt war. Was den Körper des Männchens betrifft, so war er unverhältnismäßig breit, so dass die ganze Gestalt eine höchst komische Fülle bekam. Die Füße des Männchens waren natürlich unsichtbar, seine Hände ungeheuer groß, seine Haare grau und hinten zu einem Zopf vereinigt; die Nase war übermäßig lang, gebogen und rot; das Auge klar, feurig und scharf; Kinn und Backen, obschon die Runzeln des Alters zeigend, hingen breit aufgedunsen herab; von Ohren irgendwelcher Art aber war an keinem Teile seines Kopfes auch nur eine Andeutung zu sehen. Das wunderliche Männchen war mit einem im Winde wehenden Überrock von himmelblauem Atlas sowie mit eng anliegenden Hosen von dem gleichen Stoff bekleidet; letztere wurden an den Knien durch silberne Schnallen gehalten. Seine Weste war aus blassgelbem Tuch gefertigt; eine weiße Seidenkappe saß lustig auf einer Seite seines Kopfes, und schließlich umhüllte ein seidenes, blutrotes Tuch seinen Hals und fiel in einem ungewöhnlich geschlungenen Knoten von ungeheurer Größe zierlich auf seine Brust hinab.
Nachdem, wie wir bereits gesagt haben, das kleine, alte Männchen sich etwa nur noch hundert Fuß über der Oberfläche der Erde befand, wurde es mit einem Male von einem unerklärlichen Zittern befallen und schien nicht geneigt, der terra firma noch näher zu kommen. Es schüttelte daher eine gewisse Menge Sand aus einem Leinensack, den es nur mit vieler Mühe in die Höhe hob, und der Ballon blieb in der Luft stehen. Sofort zog es eilig und bewegt eine große, in Saffian gebundene Brieftasche aus einer Seitentasche seines Überrocks heraus. Misstrauisch wog es sie in einer Hand, dann schaute es dieselbe höchst überrascht an und war offenbar über deren Schwere erstaunt. Endlich öffnete das Männchen die benannte Brieftasche, um einen riesigen, mit rotem Siegellack gesiegelten und mit rotem Band sorgfältig umwickelten Brief daraus hervorzuziehen, den es gerade vor die Füße des Bürgermeisters Superbus von Underduk niederfallen ließ.
Seine Exzellenz beugte sich, um den Brief aufzuheben, während der Luftschiffer, offenbar immer noch höchst verwirrt, sich anschickte, mit seinem Ballon sich wieder zu entfernen, da er nun anscheinend nichts mehr in Rotterdam zu schaffen hatte. Um jedoch wieder aufsteigen zu können, musste er sich eines Teils seines Ballastes entledigen, weshalb er nacheinander sechs Sandsäcke auswarf, die alle samt und sonders unglücklicherweise den Rücken des Bürgermeisters trafen, was zur Folge hatte, dass der würdige Mann vor allen Rotterdamern nicht weniger denn ein halbes Dutzend Purzelbäume schlug. Es ist indessen nicht anzunehmen, dass der große Underduk solche Grobheit ungestraft hingehen ließ. Es heißt im Gegenteil, er habe während seiner sechs Purzelbäume nicht weniger als sechs verschiedene und wütende Züge getan, woraus zugleich ersichtlich ist, dass er sich von seiner lieben Pfeife um keinen Preis trennen wollte. Und das wird er, so Gott will, so halten, bis endlich der Sensenmann vor ihm steht.
Unterdessen stieg der Ballon gleich einer Lerche in die Lüfte und schwebte hoch über der Stadt, bis er endlich hinter einer jener wunderlichen Wolken verschwand, von denen bereits die Rede war, und so für immer den staunenden Augen der guten Rotterdamer Bürger entzogen wurde.
Jetzt wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Brief zu, dessen Herabfallen alsbald für die Person und Würde Seiner Exzellenz von Underduk so unheilvolle Folgen gehabt hatte. Gleichwohl hatte der eben genannte hohe Beamte, während er so wunderliche Bewegungen machte, es nicht unterlassen, den wundersamen Brief festzuhalten, der, wie sich bei genauerer Untersuchung zeigte, gerade in die rechten Hände gefallen war; denn er war wirklich an den Bürgermeister und an Professor Rubadub, in ihrer Eigenschaft als Präsident resp. Vizepräsident des astronomischen Kollegiums von Rotterdam, adressiert. Die beiden genannten Würdenträger öffneten ihn daher auf der Stelle und fanden darin die nachstehende außerordentliche und dabei doch durchaus ernstgemeinte Mitteilung:
„An Ihre Exzellenzen von Underduk und Rubadub, in Ihrer Eigenschaft als Präsident resp. Vizepräsident des staatlichen Kollegiums für Astronomie in der Stadt Rotterdam.
Eure Exzellenzen entsinnen sich vielleicht noch eines bescheidenen Handwerkers namens Hans Pfaall, der das Gewerbe eines Blasebalgflickers betrieb und vor etwa fünf Jahren mit noch drei anderen Bürgern aus Rotterdam in einer Weise verschwand, die wohl allen unerklärlich gewesen sein muss. Wenn es indessen Euren Exzellenzen so gefällt, so bin ich, der Schreiber dieses Briefes, jener Hans Pfaall in eigenster Person. Wie allgemein bekannt, bewohnte ich vierzig
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2013
ISBN: 978-3-7309-1006-1
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