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Missouri – Band 4
Owen Wister – The Virginian
1. eBook-Auflage – November 2012
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.gratis-foto.eu/
Übersetzer: Tom Schilling
Lektorat: Hermann Schladt
www.vss-verlag.de
Owen Wister

The Virginian

Die Kampfansage

Nicht zum Vergnügen war der Richter in seinem Dogcart auf dem Wege nach Bear Creek, wo ein Ochsenbratenfest mit Tanz stattfand. Auch nicht allein deswegen fuhr er dorthin, um sich unter den anwesenden Frauen eine Haushälterin auf Zeit zu suchen, obwohl ihn dieses Problem gerade in Gedanken beschäftigte.
„Der Teufel hole Madam Ridge!" knurrte er vor sich hin, die sich beißenden Pferde durch einen leichten Klaps mit der Peitschenschnur auseinandertreibend. „Was das Weibervolk bloß in Europa sehen will?"
Der unchristliche Wunsch, dass der Teufel jemanden holen möge, war auf die Vorsitzende des Frauenklubs gezielt, die vor einiger Zeit von Ranch zu Ranch kutschiert war, um Frauen und Mädchen für einen gemeinschaftlichen Europatrip zu gewinnen. Auch auf der Ranch des Richters hatte sie Erfolg mit ihrer Überredungskunst gehabt, und so war es gekommen, dass dort ein weibliches Wesen fehlte, um Küche und Keller zu verwalten, die verschwitzte Wäsche der Cowboys zu waschen, die Wohnräume in Ordnung zu halten und das ganze Haus mit einer gemütlichen Atmosphäre zu erfüllen.
Eine neue Verwünschung, die zwar auch mit der Hölle zu tun hatte, aber nicht Madam Ridge galt, entfuhr dem Richter. Der kräftige Fluch galt vielmehr der ElkhornRailway Company, der Bahn, auf welche die Rancher der nördlichen Weidegebiete angewiesen waren, wenn sie ihre Rinder nach den Schlachthallen der großen Städte transportieren wollten.
„Erpresserbande!" Der Richter war mit Zorn geladen,und als sich die Pferde jetzt wieder einmal mit den Zähnen „in den Haaren" lagen, hieb er kräftiger zu.
Aus der Richtung von MuddyCrossing näherte sich ein Reiter. Er lachte und schwenkte den Hut. Etwa an der Wegegabel stieß er auf den Dogcart. „Hallo, Richter!" Er lenkte sein Pferd an die Seite des Wagens.
„Hallo, Doc!" Die Männer tauschten einen Händedruck. „Schätze, auch Sie zieht es nicht wegen des Ochsenbratens nach Bear Creek", sagte der Richter.
„Richtig kalkuliert!" Der Doktor nickte. „Mr. Hugheys wünscht, dass ich mir seine neugeborenen Zwillinge einmal anschaue und natürlich die Mutter auch. Scheint ja ganz närrisch vor Vaterfreude zu sein, der gute alte Hugheys. Hängt einen ganzen Ochsen übers Feuer, bestellt Musiker und lädt halb Wyoming ein."
„Wer wird ihm seine Freude verdenken", entgegnete der Richter. „So spät geheiratet und sofort zwei Stammhalter auf einmal."
„Ja, ja, fast ein Witz!" lachte der Doktor. Auf eine einladende Handbewegung des Richters, der seine Pferde angehalten hatte, stieg der Doktor aus dem Sattel, band sein Pferd an und nahm im Wagen Platz.
Ein Schnalzer mit der Zunge genügte, und schon zog das Gespann wieder an.
„Stimmt es, was man sich erzählt?" fragte der Arzt.
„Und was erzählen sich die Leute?" Ein verdecktes Lächeln huschte über die Züge des Richters.
„Dass Sie mit einer Herde die Südbahn erreichen wollen."
„Jawohl, die Berlington-Bahn!" „Durchs Hochgebirge?" fragte der Doktor entsetzt. „Einen anderen Weg gibt's nicht, lieber Doc, wenn wir Rancher der Elkhorn-Bahn die Stirn bieten wollen." „Eine grausame Strecke", bemerkte der Doktor. „Ich weiß!"
„Indianer aus dem Reservat sollen sich mit weißem und halbweißem Gesindel zusammengetan haben."
„Ich weiß! Die Kavalleristen von Fort Smith schlafen, statt das Reservat zu bewachen. Ich weiß aber auch, dass ich Cowboys habe, die ihre Colts nicht mit dem Herdeisen abziehen."
„Sie meinen den Virginier", sagte der Doktor.
„Natürlich, in erster Linie ihn. Aber auch Trampas ist nicht zu verachten. Und dann Bull. Bei Manitu, lieber Doktor, der nimmt's mit einem Grizzly auf. Hat auch ein Brustfell fast wie ein Bär. Schade, dass der Junge ein bisschen — na, dumm kann man nicht sagen, aber wenn ich ihm seinen Monatslohn aushändige, kann er nur mit drei Kreuzen quittieren."
Der Doktor lachte auf.
„Dagegen ist Steve wieder ein ganz heller Kopf", fuhr der Richter fort, „grinst, wenn ihn jemand beleidigt, und sucht bei Streitigkeiten immer einen Ausgleich herbeizuführen. Früher soll er ja in Nebraska recht heikle Sachen gemacht haben. Na, wer kann es beweisen? Und schließlich ist er jetzt auch älter und reifer geworden. Als Cowboy ist der Junge auf jeden Fall erstklassig, und beim letzten Preisschießen hat er die goldene Coltnadel gewonnen."
„Und Lin McLean? Habe gehört, den hätten Sie auch für den Transport bestimmt."
„Die lieben Nachbarn weit und breit sind schon verdammt gut im Bilde", bemerkte der Richter. „Ob ich McLean nehmen soll, habe ich mir lange überlegt. Der Kerl säuft wie ein Loch, das heißt zeitweise. Plötzlich kriegt er den Moralischen, flucht dem Whisky, schmeißtdie Flasche gegen die Wand und schwört, keinen Tropfen mehr anzurühren."
„Bis zur nächsten Versuchung, nicht wahr?"
Der Richter nickte. „Dann hat ihn Mr. Satan Alkohol erst recht am Nackentuch. Aber Lin kennt sich vorzüglich im Gebirge aus, ist mutig und geht den wildesten Leitbullen mit den bloßen Händen an. Auf Lin McLean kann ich nicht verzichten. Die Schluchten in den Rocks sind tief, die Pässe und Pfade häufig unheimlich schmal, steil oder glitschig." Die Stirn des Richters umwölkte sich, als sähe er im Geiste seine brüllende Herde durch das Hochgebirge ziehen. „Tscha, und dann Tom Nebrasky", erzählte er weiter. „Ein merkwürdiger Boy, dieser Tom. Wer ihm etwas befehlen will, findet in ihm den größten Faulpelz zwischen den Blauen Bergen und den Seen. Wer ihn aber zu nehmen versteht, hat in ihm einen Goldjungen. Es macht ihm gar nichts aus, für andere die Wache zu schieben oder schmutzige Hemden im Bach zu waschen oder sonstige Gefälligkeiten für die Kameraden zu tun. Wehe aber, wenn das nach einem ,Muss' riecht. Aus, Feierabend! Ein Felsquader wäre dann ansprechbarer als Tom."
„Ist das nicht ein bisschen gewagt mit diesem Mann?" bemerkte der Doktor.
„Eigentlich schon", nickte der Richter, „aber ich vertraue auf Virginian. Er hat die richtige Art, mit seinen Kameraden umzugehen. Er strahlt Autorität aus, ohne sie zu beanspruchen. So etwas kann man nicht lernen, das ist angeboren."
„Wie bei Ihnen, Richter", lächelte der Doktor.
„Wenn Sie mir noch einmal ein solches hundsföttisches Kompliment machen, werfe ich Sie aus dem Wagen, Doc!" Der Richter war ernstlich erzürnt.
„Also diese sechs sollen das Kunststück fertigbringen, mit einer Rinderherde durch die Rocky Mountains zu ziehen", lachte der Angeschnauzte.
„No, stop!" Und jetzt lachte auch der Richter wieder. „Da ist noch ein siebter. Shorty nennen ihn die Kameraden, weil er ein bisschen zu kurz geraten ist. So gut wie nichts versteht er von dem, was ein Mensch in unserem Land zumindest verstehen muss. Eigentlich ein armer Kerl. Lässt sich willig als Hanswurst verschleißen. Irgendein Schicksal hat ihn vor einem halben Jahr nach dem Westen verschlagen. War vorher Koch in den feinsten Hotels: New York, Boston, Philadelphia. Oder auch Kellner oder Empfangspage oder Tellerspüler, wie es gerade kam. Manieren hat Shorty, als sei er Doktor der Anstandslehre. Sie können sich denken, wie er damit bei unseren Naturburschen ankommt."
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen!" erheiterte sich der Arzt. „Aber, Richter, ist das nicht ein Ballast für die anderen?"
„Danebengeschossen, lieber Doc! Was meine Leute zum Lachen bringt, kann dem Unternehmen nur förderlich sein. Womit sollen sie sich denn auch beschäftigen, wenn sie sich tagelang in den Waggons herumdrücken? Im Übrigen ist Shorty ein zu guter Koch, als dass man auf ihn verzichten würde. Gerade jetzt hätte ich ihn gern auf der Ranch gehabt; Sie wissen doch, meine Ranch ist entweibt worden von dieser ..."
„Ridge", fiel ihm der Doktor lachend ins Wort. „Habe schon manchen vereinsamten Mann auf Madam Ridge fluchen hören. Wenn sich die Flüche alle erfüllen würden, käme Mrs.Ridge mit ausgefallenen Zähnen, ausgerauften Haaren, Heuschnupfen, Krätze und einem gut gezielten Hexenschuss aus Europa zurück."
15

In angeregter Unterhaltung näherten sich die Männer Bear Creek, einem schmalen Tal. Etwa ein Dutzend Rancher und Farmer hatten sich hier angesiedelt. Sie hatten große Viehbestände und wogende Ährenfelder. Während der Schuldienst bisher von der Witwe eines Farmers recht und schlecht ausgeübt worden war, genossen die Kinder nunmehr einen richtigen Schulunterricht bei Miss Mary Stark Wood, einer jungen, hübschen Lehrerin aus Neuengland. Miss Wood hatte sich in kurzer Zeit die Sympathie nicht nur der Kinder, sondern aller Bewohner von Bear Creek erworben. Die Rancher hatten ihr ein kleines, aber hübsches Holzhaus gebaut, versorgten sie überreichlich mit Nahrungsmitteln, zahlten ihr ein monatliches Gehalt und stellten der beliebten Lehrerin gern zu jeder Zeit ein Pferd zum Reiten oder einen Wagen zum Ausfahren zur Verfügung. Miss Molly, wie sie genannt wurde, war ein von allen wie ein Kleinod gehüteter Schatz. Selbst die wildesten Cowboys wurden in ihrer Nähe zahm, sittsam und höflich.
Richter und Doktor waren am Fuße des letzten Hügels angelangt, der sie von dem Besitztum des Ranchers Hugheys, der sogenannten Goose Egg Ranch, trennte.
Der Richter schnupperte die Luft ein. „Riechen Sie auch etwas Angenehmes, Doc?"
„Den duftenden Ochsen am Spieß, aber ein Whisky mit Soda geht mir bei meinem Durst noch vor den Ochsen."
Und dann lag die Goose Egg Ranch vor ihnen, im Festschmuck von Girlanden und Fähnchen. Viele Wagen und Pferde standen an der von der Sonne abgewandten Seite des Hauses. Auf dem Vorplatz und in dem bekränzten Eingang ergingen sich die Besucher.
Mr. Hugheys kam den neuen Gästen lachend entgegen und begrüßte sie. Ein Stallbursche kümmerte sich sofort um die Pferde.
„Richter, Ihre Boys sind im Tanzsaal genauso frech und angriffslustig wie auf den Weiden", scherzte der Rancher. „Haben sich sofort die besten Plätze gesichert, nachdem Ihr Virginier die Lehrerin mit dem Lasso eingefangen hatte."
„He?" sagte der Richter.
„Tatsächlich! Ihre Boys kamen in den Tanzsaal herein, der Virginier flüsterte seinen Kameraden etwas zu, verschwand, kam mit dem Lasso zurück, und schon flog die Schlinge in die äußerste Ecke, wo Fräulein Wood zwischen anderen Frauen und Mädchen stand. Das Gezeter und Gebrüll hätten Sie hören müssen, als Virginian das schönste Girl mit dem Lasso einzog! Jetzt sitzt sie bei Ihren Boys am Tisch, und die anderen Jungs müssen sich mit weniger hübschen begnügen."
Der Richter lachte. „Wollen Sie Virginian einen Vorwurf machen, dass er sich die beste Stute aus dem Wildrudel herausfischt?"
Der Hausherr bewirtete die Neuangekommenen zunächst mit einem kühlen Trunk. Dann führte er sie durch den breiten Hausflur, wo an den Seiten köstliche, handliche Delikatessen auf langen Holzbänken arrangiert wurden, und geleitete sie in einen Raum, wo Kübel mit Waschwasser bereitstanden und große frische Handtücher an den Wänden hingen. Draußen, ein Stück hinter dem Fenster, wurde der Ochse geröstet. In sauberer Kleidung, mit neuen Halstüchern, rasiert und mit sorgfältig gescheitelten Haaren standen Cowboys herum und beobachteten die Zubereitung des Festschmauses. Alle hatten blanke Stiefel, und auf blitzende Sporen mit dollargroßen Spornrädern schien jeder Wert zu legen.
Nach der Säuberung begab sich der Doktor in die Privatwohnung des Gastgebers, während der Richter in den Tanzsaal ging, einen großen Raum, der sonst allen möglichen Zwecken, auch Besprechungen, Theateraufführungen und Bibelstunden, diente. Freundlich von allen Seiten begrüßt, nahm der Richter an dem Tisch Platz, wo seine Cowboys bei Whiskygläsern saßen, die Shorty immer fleißig füllte. Unmittelbar neben der kleinen Empore, wo die Musik spielte, stand das große Whiskyfass.
Miss Wood saß zwischen Virginian und Trampas, und diese beiden kamen auch wohl in erster Linie als Tänzer in Frage. Steve konnte nicht tanzen, Bull genierte sich, Nebrasky hielt den Cowboy einer anderen Ranch im Auge, mit dem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte, Lin McLean interessierte sich nur für den Whisky, der nichts kostete, und Shorty hatte genug zu tun, seine Kameraden zu bedienen.
Der Richter setzte sich mitten unter seine Boys. Ein männlicher Schlag auf diese und jene Schulter, das war mehr als ein Dutzend Begrüßungsworte. Der Richter schaute sich gelassen die junge Lehrerin an, ließ dann den Blick von einem Cowboy zum anderen wandern und grinste. Shorty stand am Tisch, ein paar leere Gläser in der Hand, und wurde unsicher. Jemand musste nun doch vorstellen. Die Lehrerin war ja noch funkelnagelneu, wenigstens für den Richter. Die Cowboys wussten schon nach 24 Stunden von ihrer Existenz, denn so etwas Hübsches sprach sich auf Hunderte von Meilen bei den Cowboys schneller rund, als ein Postpferd galoppieren konnte.
Endlich fasste sich Shorty ein Herz. Wenn es der Richter vergaß, sich der Dame vorzustellen, dann musste er es schon tun. Darum räusperte er sich und sprach dann feierlich: „Gestatten die Herrschaften, dass ich Sie miteinander bekannt mache: unser Boss, der Richter — Miss Molly, die Lehrerin."
„Freut mich, Sie zu sehen", sagte Molly und reichte dem Richter die Hand. „Habe schon manches von Ihnen gehört."
„Ich von Ihnen auch, Miss Lehrerin", sagte der Richter. Ein schelmisches Lächeln flog über sein Gesicht. „Leider wurde mir nicht alles wahrheitsgetreu von Ihnen berichtet."
Molly schaute den Richter gespannt an.
„Keiner hat mir wahrheitsgemäß berichtet, wie hübsch Sie sind."
Molly errötete, während die Cowboys am Tisch applaudierten. So etwas gefiel den Jungs.
„Und mein Whisky, Shorty?" rief der Richter. „Willst du deinen Boss aus Rache für den niedrigen Monatslohn verdursten lassen?"
Soweit des Richters Stimme reichte, wurde gelacht. Man rückte näher, denn man wusste: Wo der alte Richter aufkreuzt, da ist was los. Shorty rannte zum Whiskyfass, diesmal hatte er keine Schwierigkeit. Die bereits Anstehenden traten gern vom Kran zurück.
Rancher Westfall, ein Mann mit Doppelkinn und Bierbauch, wankte heran. „Sie wollen Ihre Herde durch die Rocky Mountains jagen? Viel Glück, Richter. Aber wenn dadurch Ihre berühmte Ranch unter den Hammer kommt, ich biete keinen Cent. Und wissen Sie auch, warum, Richter? Aus Freundschaft zu Ihnen! Und ausFreundschaft zu Ihnen rufen wir Ihnen alle zu: LassenSie ab von diesem Plan, Richter! Ihre Herde geht zum Teufel!"
Bravorufe und Händeklatschen im ganzen Saal. Nur der Richter und seine Mannschaft rührten sich kaum. Auch Molly schaute stumm auf den Tisch.
Shorty schob dem Richter behutsam das Whiskyglas hin. Er nahm es mechanisch auf, führte es aber nicht zum Mund. Nachdenklich blickte er in die Ferne, dann glitt sein Auge zu Virginian hinüber. Der Virginier lächelte. Es war kein dummes, überlegenes Lächeln, sondern es lag alles darin, was einem Schicksalspartner Vertrauen einflößen konnte: Ruhe, Entschlossenheit, Übersicht und Mut.
Die Musikanten stimmten ihre Geigen. Der Richter bat sie, noch ein paar Minuten mit dem neuen Tanz zu warten. Er war aufgestanden und hatte sein Glas wieder abgesetzt. „Bürger", sagte er, „ich bin der Einladung von Mr. und Mrs.Hugheys gefolgt, um wie Sie an der Freude der Eltern über die glückliche Geburt eines Stammhalters in doppelter Ausfertigung ..." Der Richter wurde durch Händeklatschen und lustige Beifallsrufe unterbrochen. Aber dann konnte er fortfahren: „… wollte sagen, an der Freude über die glückliche Geburt zweier Knaben teilzunehmen. Ich wiederhole meinen Glückwunsch und hoffe, dass aus den beiden Windelboys einmal gute Sattelboys werden."
Erneuter Beifall.
„Aber nun, Bürger, ein paar Worte über das, was sich bereits herumgesprochen hat. Es stimmt! Der alte Richter jagt eine ganze Herde durch die Rocky Mountains zum Verladebahnhof Medicine Bow. Doch wer glaubt, der Richter denke wegen der hohen Viehpreise in Chicago nur an seinen persönlichen Gewinn, der irrt!"
Gelassen wartete der Richter, bis das allgemeine Gemurmel abgeklungen war. Dann fuhr er fort: „Was ich tue, geht jeden von euch an, der Vieh verkauft oder hütet. Ihr wisst alle, dass die Elkhorn-Bahn uns Ranchern ungerechte, ja unerhörte Transportgebühren berechnet. Die Herren von der Elkhorn Company glauben, sie könnten uns die Tarife nach eigenem Gutdünken diktieren. Sie glauben es, weil sie annehmen, uns stünde ja gar keine andere Transportmöglichkeit als die Elkhorn-Bahn zur Verfügung. Nun, in etwa ist das schon richtig, denn wir wohnen in einem wilden, weit abgelegenen Gebiet. Aber trotzdem" — und nun schlug der Richter mit der geballten Faust auf den Tisch —, „wir lassen uns von der Elkhorn Company nicht den Hals abschneiden!"
Beifall, gemischt mit Schimpfworten auf die Elkhorn Company, wurde laut.
Der Richter nahm einen Schluck aus seinem Glas, tupfte sich den Mund und die Stirn ab und fuhr fort: „Statt neunzehn Dollar pro Rind würde die Berlington-Bahn unser Schlachtvieh für acht Dollar pro Rinderschwanz nach Chicago befördern. Aber zwischen uns und dem Schienenstrang der Berlington Company liegt zerklüftetes Hochgebirge. Und das freut die Gentlemen von der Elkhorn-Bahn. Schätze jedoch, die Herren freuen sich zu früh. Ich werde beweisen, dass es möglich ist, eine große Viehherde durchs Gebirge zum Verladebahnhof Medicine Bow zu treiben, in den nächsten Tagen schon. Ich weiß sehr wohl, der Weg ist weit, beschwerlich und gefährlich. Aber wenn es einmal bewiesen ist, dass es trotzdem geht, dann werden wir alle gemeinschaftlich auf dem ganzen Weg durchs Gebirge Rast- und Futterstationen einrichten. Gemeinschaftlich werden wir dann der Bahn im Norden die Stirn bieten und von ihr keinen Kuhschwanz mehr transportieren lassen. Helft mir, Leute! Seid einig! Kampf der Elkhorn-Bahn!"
Ein dröhnender Applaus ließ das Gebäude erzittern. Rufe wie: „Nieder mit der Elkhorn-Bahn!" — „Ihre Schienen sollen verrosten!" hallten auf.
Der Richter spülte den Rest aus seinem Whiskyglas herunter und rief: „Dann sollen sie mit ihren Güterwagen Heuschrecken transportieren!"
Lärmende Heiterkeit löste die Empörung der Zuhörer ab. Als es dem Richter schließlich gelang, wieder zu Wort zu kommen, zeigte er auf seine Mannschaft am Tisch. „Ich bin leider zu alt, aber diese Jungs werden den ersten Treck durchs Hochgebirge wagen. Sie haben mir versprochen, ihr Bestes zu leisten, damit die Herde den Verladebahnhof im Süden erreicht. Was sie tun, das tun sie nicht nur für des Richters Ranch, sondern für alle Ranches in unserem Gebiet. Um zehn Dollar kann jeder Rancher hierzulande den Lohn für seine Cowboys erhöhen, wenn mein Plan Wirklichkeit wird und wir nicht mehr auf den Erpresser-Tarif der Elkhorn Company angewiesen sind!"
Wieder erhob sich ein Beifallssturm. Die Cowboys trampelten, dass der ganze Saal bebte. Die Rancher, vorneweg der glückliche Zwillingsvater, traten an cfen Richter heran und drückten ihm die Hand. Alle wünschten der Mannschaft ein glückliches Gelingen.
Der Richter setzte sich und fand auch sogleich wieder ein Scherzwort. Er fragte die Lehrerin leise, damit es Bull nicht hörte, warum sie denn Bulls Liebesbriefe nicht beantwortet hätte.
Miss Molly wusste nicht, warum Virginian, Trampas und Steve, die in der Nähe saßen, so ausgelassen lachten, sie wusste ja auch nicht, dass Bull weder lesen noch schreiben konnte.
Die Instrumente spielfertig in der Hand, schauten die Musiker ratlos in die Runde, denn überall wurde noch eifrig über die Worte des Richters debattiert.
Der dicke Rancher Westfall fragte die Lehrerin mit lallender Zunge: „Nun, Miss Wood, hick . . . ! Wie beurteilen Sie die Chancen für den Viehauftrieb durch die Rocky Mountains?"
Ungeniert wurde über die Frage gelacht, denn jeder wusste, dass die hübsche Lehrerin, die aus einer Großstadt des Ostens gekommen war, von solchen Dingen wie Viehtreiben durch die Rocky Mountains so viel Ahnung hatte wie ein Grizzly vom Eierlegen.
Aber so leicht war Molly nicht zu verblüffen. „Mr. Westfall", sagte sie, „ich weiß nicht, ob man ein Rind an den Hörnern oder am Schwanz in den Stall zieht, aber ich habe Respekt vor jedem wagemutigen Mann. Nicht die Zauderer haben unser Amerika groß gemacht, sondern mutige Pioniere wie unser Richter."
„Bravo!" rief der Virginier und klatschte ganz nahe an Mollys Ohr Beifall. Die Lehrerin hielt sich das linke Ohr zu. Da duldete es Trampas nicht mehr auf seinem Sitz, er sprang auf und schlug seine Hände an der rechten Seite von Mollys Kopf zusammen. Nun hielt sich Molly beide Ohren zu. Zum Vergnügen der Gäste versuchten sich die beiden Weidereiter im Händeklatschen zu überbieten. Da machten die Musiker ernst mit ihrem Spiel. Fast zur gleichen Zeit verneigten sich Virginian und Trampas vor der schönen Lehrerin, um sie zum Tanz zu bitten.
Miss Wood schaute verwirrt und zögerte.
Der Richter lachte und sagte: „Dann nehmen Sie schon den, der Ihnen am lautesten Beifall geklatscht hat."
„Wenn ich das nur wüsste", lachte Molly. „Mir hat's in beiden Ohren geklingelt."
Mrs. Taylor tuschelte ihrem Mann ins Ohr: „Was hältst du von Molly? Bevorzugt sie den Virginier oder Trampas?"
„Das wird die Zeit ergeben", tat Rancher Taylor die neugierige Frage ab. „Vielleicht haben beide das Nachsehen, wenn ein dritter kommt."
Und der dritte kam. Zu aller Verblüffung war es Shorty, der mit vollendeter Grazie die Lehrerin auf die Tanzfläche führte, während Virginian und Trampas noch mit Händeklatschen wetteiferten.
Nun, Shorty war keine ernsthafte Konkurrenz. Er wagte kaum, seine Tanzpartnerin zu berühren. Dazu machte er ein solch feierliches Gesicht, als handele es sich um einen Todestanz.
Der Richter beobachtete, wie sich der Virginier und Trampas wegen des hübschen Girls etwas in die Wolle gerieten. Das passte ihm nicht.
„Dann knobelt doch, wer den nächsten Tanz hat", riet er. Er reichte jedem drei Schwefelhölzer. Trampas nahm sie in die Hosentasche und streckte dann gleich die geschlossene Hand aus.
Ohne zu überlegen, sagte der Virginier: „Drei!"
Trampas öffnete die Hand. Es waren zwei Streichhölzer darin.
Blitzschnell griff Virginian nach Trampas' Hand und öffnete ihm die Finger. Das dritte Streichholz fiel auf den Tisch. Trampas tat, als habe er sich nur einen Jux erlaubt.
„Es war mir ein Vergnügen", sagte Shorty, als er seine Dame zum Platz zurückbegleitet hatte. Dazu machte er eine Verbeugung, als stehe er vor der Königin von England. Seine Kameraden grinsten, nur Bull schien den kleinen Mann, der so viele feine Manieren kannte, zu bewundern. Sein breiter Unterkiefer war ständig in Bewegung, man hätte meinen können, Bull mahle Mais zwischen seinen Zähnen.
„Ich habe Sie mit Knobeln gewonnen", sagte Virginian zu Molly, als der nächste Tanz fällig war, und führte sie zur Tanzfläche. Trampas schaute den beiden wehleidig nach.
Da schob sich ein Spitzbart über seine Schulter. Es war Gipsy, wie er allgemein genannt wurde. Den richtigen Namen des Zigeuners — wenn er überhaupt einen gehabt hatte — kannte niemand. Gipsy handelte mit allem, was die Menschen auf den weltabgelegenen Ranches gebrauchen oder auch nicht gebrauchen konnten. Sein Laden stand und lief auf vier Beinen. Es war sein Maultier, das neben einem Warenpacken auch noch den Zigeuner zu tragen hatte. Diesmal bot er aus seinem umgeschnallten Bauchladen allerlei glitzernde Bijouteriewaren, Ringe, Kettchen, Ohrringe und ähnliche Schmuckwaren, an. Er hatte aber auch Puderdöschen, Haarspangen mit „Brillanten" besetzt und Fläschchen mit Parfüm anzubieten. Natürlich kreuzte Gipsy gern dort auf, wo etwas los war. Und das wusste er immer genau, auch ohne Marktkalender.
Gipsy hatte ein Gesicht, das es ihm sehr schwergemacht hätte, in einen guten Ruf zu kommen, denn es war eine ausgesprochene Gaunervisage. Er hatte längst beobachtet, dass Virginian und Trampas wegen des netten Girls in Konkurrenzstreit geraten waren. Wo er seinen Einkauf deckte, war unbekannt, interessierte auch niemanden, jedenfalls hatte er immer ein reichhaltiges Angebot.
„Bei unser Leut Nebenbuhler kaputt oder Schatz kaufen mit schöne Geschenke", begann er seine Verkaufsverhandlungen, wobei er den Bauchladen auf den Tisch stellte.
Trampas griff sofort nach einem kitschigen Collier, das an einem silberglänzenden Halskettchen hing.
„Gib dafür kein Geld aus, Junge", riet der Richter. „Eine Dame wie die Lehrerin trägt solchen Plunder nicht."
Da öffnete Gipsy eine Parfümflasche und hielt sie Trampas unter die Nase. Er behauptete, das Parfüm enthalte einen geheimen Liebeszauber. Die Dame, die es gebrauche, müsse immer an den Mann denken, der es ihr geschenkt habe.
Es nützte nichts, dass der Richter über den Schwindel lachte; Trampas, der gerade gesehen hatte, wie eng sich die Lehrerin beim Tanzen an den Nebenbuhler schmiegte, kaufte ohne Besinnen.
Als der Tanz zu Ende war, wurde Molly von Mrs. Taylor beschlagnahmt. Virginian kam zum Tisch seiner Kameraden zurück und sah, wie Trampas an dem offenen Parfümfläschchen roch. Beim Hinsetzen tippte Virginian seinen Kameraden kurz unter den Ellbogen, worauf das Parfüm herausschwappte und sich über Trampas' Hemd ergoss. Die Kameraden brüllten vor Lachen, auch der Richter konnte nicht anders, Trampas aber war wütend aufgesprungen.
„Entschuldige, Trampas", sagte der Virginier, „es war ein Versehen. Ich kaufe dir ein neues Fläschchen."
Da kam Molly auf ihren alten Platz zurück, schnupperte, schaute Trampas an und sagte: „Ach, Sie sind das, der so grässlich riecht."
Trampas ballte die Fäuste und verließ den Tanzsaal. Auch am Abend, als draußen der geröstete Ochse frei von der Hand verspeist wurde, war sein Zorn noch nicht verraucht. Immer hielt er sich bei der Mannschaft einer anderen Ranch auf. Der Richter nahm sich vor, den Frieden zwischen Trampas und dem Virginier wiederherzustellen. Auf ihnen lag die Verantwortung für das Gelingen des gewagten Unternehmens, und nichts könnte das Gelingen mehr in Frage stellen als Uneinigkeiten innerhalb der Mannschaft.
Auch der Doktor kam zum Ochsenbraten. „Die sind alle drei topfit", sagte er zum Richter, womit er die Zwillinge und die Mutter meinte. Lachend zeigte er auf die Lehrerin und den Virginier. Beide hatten ein Stück Fleisch auf der Hand, aber jeder aß von dem Stück des anderen. „Dafür habe ich Verständnis", bemerkte er amüsiert, „die Lehrerin, das ist ein knuspriger Braten."
„Der Braten sticht aber auch Trampas in der Nase", erwiderte der Richter. „Und das ist ein Jammer. Mir wäre es schon lieber, Miss Wood hätte einen Buckel, krumme Beine, eine Warze im Gesicht und eine Brille auf der Nasenspitze."

Fragwürdige Gentlemen

Die drei maßgebenden Herren von der Elkhorn Railway Company waren gute Freunde, aber nur insoweit, wie man gute Freundschaft unter Dunkelmännern betrachtet. An jedem Samstag trafen sie sich im vornehmen Lincoln-Hotel der Bezirksstadt, um sich bei Champagner und kalifornischen Weinen, bei Musik und adretten Tanzmädchen von den Strapazen einer arbeitsreichen Woche zu erholen. Das gleiche Bedürfnis hatten einige Herren vom nahe gelegenen Kupferbergwerk und die Hauptaktionäre eines Unternehmens, das im Sweetwater-Gebiet große Kohlengruben unterhielt. Ein Rancher, Farmer oder Schafzüchter gehörte nicht zu dem feudalen Klub, der die staatliche Unordnung des Wyoming-Territoriums rücksichtslos zum eigenen Vorteil ausschlachtete.
Im Saloon des Lincoln-Hotels rochen die Plüschvorhänge und kostbaren Teppiche auch dann noch nach Sekt und guten mexikanischen Zigarren, wenn kein Gast anwesend war; aber diesmal war der Klub der Millionäre wieder versammelt, und unter dem Licht großglockiger Petroleumlampen, die in Bronzebehältern von der Decke hingen, ging es so fröhlich zu, als habe Kolumbus Amerika nur zum Wohle dieser Gentlemen entdeckt. Geschäftig liefen die befrackten Kellner hin und her, die Herren unterhielten sich über Politik, Geschäft oder erzählten Witze, die an den Tischen der Gäste sitzenden Tanzmädchen lachten laut, und die gestriegelten Geiger spielten Wiener Walzer, schottische Ekossaises und feurige ungarische Tänze, aber auch wehmütige Weisen, wie es die Gäste wünschten.
Der Geschäftsführer des Hotels trat an einen Tisch, wo sich drei Herren bei kalifornischem Ratoma-Wein anscheinend recht vergnügt unterhielten. Er wandte sich an einen Gentleman, dessen strenge Gesichtszüge durch einen blanken Nasenklemmer noch mehr hervorgehoben wurden, und tuschelte ihm zu: „Da will Sie ein Zigeuner sprechen, Mr. Scott. Ich soll Ihnen nur das Stichwort ,Gipsy' sagen."
Der Angeredete nickte. „Er soll warten.
Meine Herren", lächelte er, nachdem der Geschäftsführer gegangen war, „ich will die Gelegenheit wahrnehmen, Sie mit einer Maßnahme bekannt zu machen, die ich als technischer Direktor der Elkhorn-Bahn vor kurzem getroffen habe. Da mir auch der Schutz der Bahnanlagen, des rollenden Materials und der Fracht übertragen ist, habe ich, um die Sicherheit zu erhöhen, unseren polizeilichen Bahnschutz auf die Hälfte der Belegschaft reduziert."
Die beiden anderen Herren hoben verblüfft die Köpfe.
„Was ist das für ein Nonsens, Mr. Scott?" fragte der Vorsitzende des Aufsichtsrates, ein Herr mit aufgequollenem Gesicht. Seine Augen waren nur teilweise zu sehen. Meist versteckten sie sich hinter Fettpolstern.
„Jawohl, Mr. Jackson", lächelte der technische Direktor.
„Den Bahnschutz reduziert?" Die Frage des anderen Herrn klang nicht weniger verwundert. „Als kaufmännischer Direktor der Elkhorn-Bahn begrüße ich natürlich Einsparungen an Personal, aber wir können doch unsere Bahnstrecke nicht ohne ausreichenden Schutz lassen. Und wie wollen Sie die Sicherheit erhöhen, wenn Sie die Hälfte des Bahnschutzes entlassen?"
„Mr. Sullivan", sagte der technische Direktor, „unsere Bahn wird mit der Hälfte der Wachmannschaft besser geschützt sein als vordem. Wir müssen hier in diesem Land, das erst noch ein Staat werden will, mit anderen Mitteln operieren als im entwickelten Osten Amerikas oder gar in Europa. Ihre Verwunderung wird sich noch steigern, wenn ich Ihnen zur Kenntnis bringe, dass ich eine Zigeunersippe als Ersatz für die entlassenen Wachleute vorgesehen habe."
„Zigeuner?" rief Mr. Jackson. „Aber, Mr. Scott, sind Sie denn von Sinnen? Die sind es doch gerade, die am meisten unsere Züge plündern."
„Stimmt!" nickte Mr. Scott. „Und die dabei mehr vernichten oder beschädigen, als der Wert des gestohlenen Gutes, das sie obendrein noch billig verramschen müssen, ausmacht. Das habe ich dem sogenannten Zigeunerbaron Spadaro, wie er sich nennt, klargemacht und mit ihm vereinbart, dass er für ein festes monatliches Gehalt dafür Sorge trägt, dass sich erstens keiner seiner Leute mehr an dem Eigentum der Elkhorn-Bahn vergreift, dass er zweitens seine Sippe veranlaßt, die Ohren zu spitzen und mir sofort Nachricht zukommen zu lassen, wenn von irgendeiner anderen Seite etwas gegen die Elkhorn-Bahn geplant wird. Ich denke dabei vornehmlich an das Gesindel, das sich im Indianerreservat herumtreibt. Sie wissen doch, jeder weiße Bandit, Neger oder Kreole, der eine Indianerin heiratet, erwirbt damit auch das Wohnrecht im Reservat. Auch Zigeuner leben dort, aber sie habe ich jetzt zu unseren Verbündeten gemacht. Können Sie sich ausmalen, was das für die Elkhorn Railway Company bedeutet?"
„Bessere Information und Einsparung an Personal zugleich!" rief Mr. Jackson, und sein feistes Gesicht glänzte wie die Sonne bei gutem Wetter. „Mr. Scott, Sie sind ein Genie! Wird ja auch Zeit, dass die Aktionäre höhere Dividenden bekommen", wandte er sich an den kaufmännischen Direktor der Company. Er rieb sich die Hände. „Zieht man noch in Betracht, dass es jetzt bei den hohen Rinderpreisen mit dem Viehtransport richtig losgeht, dann sehe ich goldene Zeiten für unsere Company. Zwanzig Dollar für jedes Rindvieh, das in die Schlachthallen von Chicago transportiert werden will. . . Gentlemen, ich glaube, wir müssen Champagner knallen lassen!"
„Nicht zwanzig Dollar, sondern neunzehn", berichtigte der kaufmännische Direktor. „Ich habe den Ranchern, mit denen ich verhandelte, einen Dollar nachgelassen. Aus Menschlichkeit!"
Es war dem dürren Mann nicht anzusehen, ob er selber an seine Menschlichkeit glaubte, oder ob er die Bemerkung ironisch gemeint hatte.
„Nun ja", feixte der Hauptgeldgeber der Bahngesellschaft, „bei den berechneten Eigenkosten von. zweieinhalb Dollar machen sich die neunzehn für jedes Rindvieh noch immer ganz respektabel aus." Er gab dem Kellner einen Wink. „Stellen Sie ein paar Flaschen französischen Champus kühl, wir haben mal wieder einen besonderen Anlass, hahahaha!"
„Sehr wohl, Sir!" verneigte sich der Kellner.
Mr. Scott erhob sich. „Während die ,Franzosen' kühlen, werde ich mir meinen Zigeuner-Agenten anhören. Aber wollen Sie nicht gleich mitkommen, Gentlemen? In Deutschland sagt man: .Geteilte Freude ist doppelte Freude.' Kalkuliere, Spadaro schickt uns einen guten Tip."
„Ja, kommen Sie, Mr. Sullivan!" rief der Dickwangige interessiert und fasste den kaufmännischen Direktor belustigt um die Taille, wie man eine Bohnenstange unter den Arm klemmt.
Der Geschäftsleiter des Hotels stand schon wartend im Portal. Als er die Gentlemen kommen sah, öffnete er dienstbeflissen die Tür zum Besuchsraum.
Gipsy, der spitzbärtige Zigeuner, sprang aus dem Polstersitz, zupfte sich das Bärtchen und grinste dreist und anbiedernd.
„Nun, mein Freund, was lässt mir dein Baron sagen?" fragte Mr. Scott.
„Nix Spadaro", sagte Gipsy. „Ich direkt von Bear Creek kommen. Schnell! Immer draufgehauen auf Mule und gesagt: ,Lauf, lauf!' Mule kaput, Sir! Ich versteckt meine Shop und gelaufen bin wie Hase für große Meldung."
„Also hast du wohl einen regelrechten Marathonlauf gemacht, he?" lachte Mr. Scott, wobei er die anderen Herren ansah, als wollte er sagen: Da seht ihr, wies klappt. „Und was hast du für einen Sieg zu melden?" wandte er sich wieder an den Zigeuner.
„Rancher groß Fest in Bear Creek", berichtete der Spitzbärtige. „Richter gemacht groß Rede. Gesagt, Elkhorn-Bahn kaput, alle Waggons voll Heuschrecken und alle Schwanz nach Medicine Bow!"
Verständnislos blickten sich die Herren von der Elkhorn Railway Company an. „Was faselt der Mann?" entfuhr es dem Vorsitzenden der Aktionäre.
„Alle Rancher wollen machen Elkhorn-Bahn kaput!" rief Gipsy ungeduldig. „Cowboys gerufen: .Aufhängen, alle aufhängen, die Gentlemen von Elkhorn-Bahn!"
„Hoho!" sagte Mr. Scott gedehnt. „Gegen offenen Aufruhr gibt es ja noch eine Kavallerie-Schwadron der Union im nahen Fort. Scheint den Cowpunchern wohl irgendwo zu jucken wegen der neunzehn Dollar. Sollen sich kratzen, wenn es sie juckt, aber bei den neunzehn Dollar bleibt es."
Der kaufmännische Direktor nickte. „Die Stärkeren sind wir. Wollen mal sehen, ob sie lieber ihre Herden eingehen lassen oder neunzehn Dollar für die Fracht bezahlen. Was wollen die Leute überhaupt? Der Rinderpreis ist um dreißig Dollar gestiegen. Nicht einmal um die Hälfte des Mehrwertes ist unsere Taxe gestiegen."
„Ich werde die Lage vorbeugend mit Captain O'Neil besprechen", sagte Mr. Scott. „Ist ja immerhin möglich, dass die rabiaten Burschen von den Weiden draußen im Land auf die verrückte Idee verfallen, mit den Colts durchzusetzen, was sie mit dem Kopf nicht können. — Apropos", sprach er den Zigeuner an, „was hast du da von Heuschrecken und Medicine Bow gesagt und von dem Richter?"
„Ist wohl der Großrancher am Shildon Creek, der alte Richter, der immer zu meckern hat, wenn es um die Transporttarife geht", schaltete sich der kaufmännische Direktor ein. „Der von der — na, wie heißt doch seine Ranch, Mr. Scott?"
Mr. Scott überhörte die Frage, er sperrte gerade den Mund auf, als ihm Gipsy radebrechend erzählte, die Rancher wollten ihre Schlachttiere von der Berlington-Bahn transportieren lassen. Er starrte den Zigeuner an. „Jetzt sind die Viehzüchter ganz verrückt geworden!" stieß er kopfschüttelnd hervor. „Total crazy!" Und dann brach er in ein Gelächter aus. „Uber hundert Meilen durch die Rocky Mountains, mit einer großen Rinderherde, durch ein Gebiet, wo eine Bergziege Schwierigkeiten hat. Stellt euch vor, Gentlemen: durchs Hochgebirge bis zum nächsten Verladebahnhof der Berlington-Bahn mit einer Masse hungernder, durstender, sich wild gebärdender Spitzhorn-Rinder. Das ist der Witz des Jahres! Hahahaha! Für die paar Rinder, die in Medicine Bow glücklich ankommen, braucht der dickköpfige Richter keine zwei Güterzüge, da genügen zwei Draisinen mit Fußbetrieb! Großartig, die Nachricht!" Anerkennend schlug Mr. Scott dem Zigeuner auf die Schulter.
„Aber meine Mule kaput!" sagte Gipsy und hielt die schmutzige Hand auf.
Gutgelaunt klatschte ihm Mr. Scott eine 20-Dollar-Note in die Hand. „Hier, mein Freund, kauf dir einen neuen Esel!"
Als die Gentlemen unter Witzen und Spaßen über das Gehörte zu ihrem Platz zurückkehrten, standen Sekt und Gläser schon bereit. Eilfertig kam der Kellner.
„Laß den Korken knallen, Junge, und wenn er in die Lampe trifft!" rief Mr. Scott übermütig. „Jetzt, lieber Sullivan, kommt die Reihe an Sie, als dem Leiter des kaufmännischen Sektors. Sobald der Verzweiflungsplan der Rancher in den Rocky Mountains zusammengebrochen ist, werden die Viehzüchter butterweich werden. Kalkuliere, wenn Sie ihnen dann fünfundzwanzig Dollar pro Rindvieh diktieren, werden die wildgewordenen Männer Ihnen noch die Hand küssen."
„Fünfundzwanzig Dollar — unmenschlich wäre das nicht", sagte Mr. Sullivan nachdenklich. „Im Grunde hätten die Rancher dann immer noch etwas an den hochgeschnellten Rinderpreisen verdient."
Lachend prosteten sich die Gentlemen zu.
Mr. Jackson sah an einem Nebentisch einen Bekannten. Es war der Geologe Mr. Dennis, der in staatlichem Auftrag mit einem Team von Mitarbeitern im Wyoming-Gebiet Bodenuntersuchungen anstellte und kartographische Aufzeichnungen machte. Geheimnisvoll winkte er den Wissenschaftler an den Tisch.
„Ich rate Ihnen, Aktien der Elkhorn Company zu kaufen", sagte Mr. Jackson gönnerhaft. „Ein Tip, auf den Sie sich verlassen können." Er rückte einen Stuhl vor, und der Geologe nahm Platz. Sofort erschien der Kellner mit einem vierten Sektglas.
„Sie wissen, ich bin Wissenschaftler und kein Börsenspekulant", lächelte Mr. Dennis, „aber immerhin, neugierig bin ich auch. Was versetzt denn die Gentlemen der Elkhorn Company in solche Rosenlaune?"
„Wir transportieren jetzt nur noch Heuschrecken!" tuschelte Mr. Jackson, worauf die beiden anderen Herren einen Brüller von sich gaben, der die geschäftstüchtigen Tisch- und Tanzdamen aufhorchen ließ. Zwei Girls kamen mit lächelndem Mund an den Tisch, auch ein Geiger meinte, an dem Tisch anspielbare Gäste zu finden, trat hinter den Dicken und wimmerte ein Puszta-Liebeslied von den Saiten.
„Haut ab, alle weg hier!" schnauzte Mr. Jackson. „Was wir zu lachen haben, lachen wir unter uns!"
Girls und Geiger zogen mit langen Gesichtern ab.
„Erklären Sie unserem alten Freund die Lage", sagte der Hauptaktienbesitzer zu Mr. Scott und schlürfte faul an seinem Glas.
„Natürlich hoffen wir dabei auch Ihrerseits einen guten Wink zu bekommen, falls Sie in unserer Mutter Erde Realisierbares entdecken sollten", schaltete sich Mr. Sullivan noch schnell ein.
„Kurz gesagt", begann Mr. Scott, „die Rancher, die immer schon aufbegehrt haben, wenn wir die Transportkosten für Schlachtvieh dynamisch entsprechend den Marktpreisen in Chicago gesteigert haben, wollen die Elkhorn-Bahn boykottieren und ihr Rindvieh der Berlington-Bahn anvertrauen. Nur dumm, dass der wildeste Streifen der Rocky Mountains zwischen ihren Viehweiden und dem Schienenstrang der Berlington Company liegt. Aber anscheinend wachsen Hörner nicht nur am Schädel von Rindviechern. Ein alter Rancher, der früher Richter war und großen Einfluss besitzt, will uns und den Felsen der Rocky Mountains die Stirn bieten und eine große Herde, wahrscheinlich als Testfall, durchs Hochgebirge treiben lassen."
„Als wenn es Gemsen und keine Rinder wären!" lachte Mr. Jackson fett auf. An den Rändern seiner Augensäcke hafteten Lachtränen.
„Klar, dass der Versuch misslingt", fuhr Mr. Scott fort. „Und dann dürfte jedem Rancher, auch dem dümmsten, klargeworden sein, dass es gegen die Tarife der Elkhorn Company eben keine Auflehnung gibt. Dann können wir gemächlich die Tarife noch mehr erhöhen, und unsere Aktien werden klettern. Also unser Tip: Kaufen Sie Aktien der ElkhornRailway Company!"
„Verstehe", sagte der Wissenschaftler, „aber Ihre Logik, Gentlemeri, verstehe ich durchaus nicht. Warum soll das denn nicht möglich sein, eine Rinderherde durchs Hochgebirge zum südlich gelegenen Schienenstrang zu leiten?"
Die Gesichter der drei Gentlemen erstarrten.
„Aber, Mr. Dennis ..." stotterte der technische Direktor. „Weit über hundert Meilen durch eine Felsenöde, wie es sie sonst kaum noch in der ganzen Welt gibt..."
„Sie brauchen mir nichts zu erzählen", sagte der Wissenschaftler gelassen. „Ich kenne das Gebiet. Habe es zum Teil sogar vermessen. Natürlich ist es mit seinen Schluchten, schmalen Gebirgspfaden und hochgelegenen Pässen ein schwer zu überwindendes Gebirge, aber unmöglich ist die Überquerung nicht. Es kommen hier die Ausläufer der sogenannten Windgruppe in Frage, vulkanische Ketten mit zahlreichen Quellflüssen. Zuweilen gibt es dort auch Täler mit einer üppigen Vegetation. Wer sie kennt und sozusagen von Oase zu Oase hüpft..." Mr. Dennis hob die Schultern. „Und ich bin überzeugt, diese Naturburschen, die jahrelang mit ihrem Vieh und der einsamen Umwelt zusammenleben, wissen ganz genau, was sie ihren Tieren unter Berücksichtigung der Umwelt zumuten können. Da täuschen Sie sich nicht, Gentlemen! Ich habe die Männer kennengelernt. Die sind hartgesotten, haben einen Orientierungssinn und einen Instinkt, die ihnen mehr helfen als Karten, Kompass und alles wissenschaftliche Rüstzeug."
Die Mienen der drei Gentlemen glichen jetzt nur Masken. Der genossene Alkohol, der sich schon deutlich bemerkbar gemacht hatte, schien mit einem Schlag verflogen zu sein. Regungslos starrten sie immer noch auf den Geologen, auch nachdem dieser sein Glas langsam ausgetrunken hatte.
„Sollte ich Ihre Hoffnung in Frage gestellt haben, dann tut es mir leid, Gentlemen", sagte er höflich, stand auf, bedankte sich für den Drink und nahm wieder seinen Platz an einem entfernten Tisch ein.
Mit glanzlosen Augen sahen sich die Herren von der Elkhorn Company an. Mr. Jackson fuhr sich mit einem Seidentuch zwischen Kragen und Hals und pustete: „Heiß!" Als die anderen immer noch stumm blieben, fragte er: „Also doch Heuschrecken?" Und nach einer Weile, als immer noch keine Antwort erfolgte, ungehalten: „Bitte, meine Herren, was wollen Sie unternehmen? Schließlich handelt es sich um mein Geld und das der vielen kleinen Aktionäre. Wenn das gelingt und Schule macht, was sich der Rancher in den Kopf gesetzt hat, dann ist die Elkhorn Company bald pleite. Jawohl, ich sage es frei heraus, pleite!"
Das Joviale aus dem Gesicht des Dicken war verschwunden, er glich jetzt einer Dynamitpatrone, die bei unvorsichtiger Behandlung explodieren kann.
„Schätze, dass die Viehherde nicht durchkommt", sagte Mr. Sullivan tonlos.
„Wollen Sie das von Ihren Kontobüchern aus besser beurteilen können als ein Geologe?" fuhr ihn Mr. Jackson an. Sein Blick wanderte zu dem technischen Direktor hinüber, und nun zeigte es sich, wer der eigentliche Herr der Elkhorn Company war. Der Blick war befehlend, fordernd. „Und Sie, was sagen Sie jetzt?"
„Sie — kommen — nicht — durch!" sagte Mr. Scott, jedes Wort einzeln betonend. Er nahm den Kneifer von der Nase. Dort, wo die Klemmfedern gesessen hatten, zeigten sich Eindrücke in der Haut, die aussahen, als wollten sie bluten. „Sie kommen nicht durch!" Mit verkniffenem Mund putzte er die Gläser, setzte den goldenen Klemmer wieder auf und zischte: „Wenn die Natur nicht stark genug ist, den Plan zum Platzen zu bringen, muss der Mensch eben ein bisschen nachhelfen."
Der Dicke schaute hoch, kniff die Augen zusammen und blickte wieder auf den Tisch. „Mr. Scott", sagte er. „Es ist Ihre Sache, das Problem zu lösen. Ich brauche mich nicht mit den Details der Bahnverwaltung zu befassen. Aber das eine sage ich Ihnen: Wird das Problem nicht in unserem Sinne gelöst, verkaufe ich meine Aktien so schnell und geschickt wie eben möglich. Den Letzten beißen die Hunde. Das sind die kleinen Aktionäre und — Sie natürlich, meine Herren, denn wo ein Unternehmen pleite macht, da braucht man keinen technischen und auch keinen kaufmännischen Direktor mehr! Guten Abend, Gentlemen!"
Mr. Jackson erhob sich und ging. Als sich die Portiere hinter ihm geschlossen hatte, stürzte Mr. Sullivan ein volles Glas Champagner in einem Zuge hinunter. „Der Teufel hole diesen Dickschädel von Richter! Was machen wir, Scott?"
„Morgen bin ich im Reservat und spreche mit dem Zigeunerbaron", entgegnete der technische Direktor.
„Tanzen Sie heute überhaupt nicht?" Eine junge Dame mit kostbaren Rüschen am Kleid, eng geschnürt und mit einem leuchtenden Rot auf den Lippen, war an den Tisch herangetreten.
„Tanzen Sie mal, wenn Sie Zahnschmerzen haben",
grollte Mr. Scott.
„Sie auch, Mr. Sullivan, haben Sie auch Zahnschmerzen?" fragte die junge Dame naiv.

Rinderkiller gesucht

Schon sehr früh am Morgen war Mr. Scott in seinem Buggy, einem leichten vierrädrigen Zweispänner, aufgebrochen, um Spadaro, das Oberhaupt einer in Wyoming weitverzweigten Zigeunersippe, aufzusuchen. Spadaro, der sich Baron nannte, hatte seine Residenz im Indianer-Reservat Shoshone aufgeschlagen, und er wußte auch, warum. Im Reservat durfte ohne die Erlaubnis des staatlich beauftragten Inspektors keine Verhaftung vorgenommen werden, ja, sogar das Betreten des Reservats war ohne dessen Genehmigung verboten. Dass sich in dem weiträumigen Gebiet mit fruchtbaren Tälern, bewaldeten Hängen, klaren Wildbächen und jagdbarem Getier trotz aller Absperrung so viel weißes Gesindel herumtrieb, lag an einer Masche des Gesetzes. Jeder, der eine Indianerin heiratete, erwarb automatisch das Heimatrecht im Reservat.
Der Zigeunerbaron hatte auch eine Indianerin geheiratet, das heißt, wie die meisten Fremden, nur auf dem Papier. Es wäre ihm schwergefallen, unter den vielen Indianerinnen, die mit ihren Familienstämmen irgendwo im Reservat wohnten, seine Frau zu erkennen. Gipsy und noch eine ganze Anzahl anderer Zigeuner hatten sich auf die gleiche Art das Heimatrecht im Reservat ergaunert.
Scotts erster Besuch galt dem Inspektor, einem Quäker mit weißem Vollbart, sanfter Stimme, kurzsichtigen Augen, schlechtem Gehör und beschränktem Verstand, glaubte er doch, die Ordnung im Lager mit viel Güte, Nachsicht und christlicher Unterweisung aufrechterhalten zu können. Da aber die Regierung der Union, die ihn beauftragt hatte, anscheinend der Meinung war, dies allein genüge nicht, die Rothäute und deren angeheiratete Schwippverwandtschaft im Zaum zu halten, hatte sie in einem alten Fort eine Schwadron Kavallerie mit Winchestergewehren und großkalibrigen Colts, Marke Smith-Wesseling, hinbeordert. Die Soldaten hatten es gut, denn bevor der Quäker die rohe Gewalt in Anspruch genommen hätte, würde er sich den weißen Rauschebart Haar für Haar ausgerissen haben.
Es war gegen 11 Uhr vormittags, als Scott mit seinem Gespann in das kleine, liebliche Tal einbog, wo sich die Verwaltungszentrale des Reservats befand. Die Verwaltungsgebäude bestanden aus einfachen Holzhütten und mehreren großen Lagerhallen, wo Güter untergebracht wurden, die der Staat den Indianern zukommen ließ oder die von Wohltätigkeitsorganisationen stammten.
Scott sah, wie farbige, aber auch weiße Leute mit würdigen Schritten in einen Holzbau hineingingen. Von überall aus den kleinen Hütten kamen sie und verschwanden in dem Holzbau. Er fragte nach dem Inspektor. Ein Weißer mit zerbeultem Hut, blatternarbigem Gesicht und listigen Mongolenaugen musterte ihn kritisch, war! einen taxierenden Blick auf das Pferdegespann und sagte: „Kommen Sie mit, Sir, ich bin auf dem Wege zu Vater Whitefield."
Scott stieg aus und ließ die Pferde an einem Brunnentrog stehen. Sie betraten eine Holzhütte, die sich in nichts von den anderen Wohnhäusern unterschied. Scott stutzte, als sein Blick auf den Zigeunerbaron traf, der mit einem aufgetakelten Indianer an einem roh gezimmerten Tisch saß und sich in einem Schreibheft Notizen machte. Der technische Direktor der Elkhorn-Bahn hatte das Reservat noch nie besucht, seine Bekanntschaft mit dem Oberhaupt der Zigeunersippe rührte von einer Begegnung außerhalb des Reservats her.
Spadaro grinste verstohlen, als er Scott erkannte, der Indianer im vollen Schmuck seiner Häuptlingswürde schaute ihn lässig von der Seite an, und das Narbengesicht sagte zu dem weißbärtigen Alten im schlichten, schwarzen Rock ohne Kragen und mit einem breitrandigen schwarzen Hut auf dem Kopf: „Der Fremde fragte nach dir, Vater Whitefield."
„Scott, Direktor von der Elkhorn-Bahn", stellte sich der Besucher vor. „Habe ich die Ehre mit dem Herrn Inspektor des Reservats?"
Gütig, aber ein bisschen mitleidig schaute der Alte den Besucher an. „Nenne mich nicht Herr, denn es gibt nur einen Herrn, nenne mich auch nicht Inspektor, denn es gibt nur einen einzigen Titel, und den führt der da oben." Der Alte zeigte mit dem Finger zur Decke. „Sage auch nicht ,Sie' zu mir, denn wir kommen alle aus einem Stamm, sind also Brüder und Schwestern. Was führt dich zu mir, womit kann ich dir dienen?"
So in etwa kannte sich Scott in den Gebräuchen und Anschauungen der Quäker aus, aber so viel Menschenfreundlichkeit und Brüderlichkeit hatte er doch nicht von einem Vertreter der Sekte erwartet. Schnell jedoch fand er sich damit zurecht. „Vater Whitefield", sagte er, „die Elkhorn-Bahn braucht Arbeitskräfte. Wir müssen die Gleisanlagen erneuern, und da möchte ich um die Erlaubnis bitten, mich im Reservat nach Arbeitskräften umzusehen."
Wohlgefällig nickte der Alte. „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen", sagte er. „Es fügt sich, dass meine Vertrauensleute gerade hier sind, mit ihnen magst du nach der Versammlung beratschlagen. Dort sitzt Bruder Spadaro, dort" — er wies auf den baumlangen Indianer — „sitzt Bruder Big Tree, und der dich hierhin begleitete, ist Bruder Renato Abruzzo. Sie mögen dir Leute empfehlen. Ich stelle nur eine Bedingung: kein Unterschied der Rasse, weder bei der Auswahl noch bei der Entlohnung. So, und jetzt lasst uns in die Versammlung gehen. Die Brüder und Schwestern warten."
Beim Verlassen der Holzhütte flüsterte Spadaro dem Direktor zu: „Es dauert nicht lange, warten Sie." Er sprach ein fehlerfreies Englisch, wenn auch mit einem italienischen Akzent, ähnlich wie der Mann mit dem Narbengesicht.
Scott ging zu seinem Wagen zurück und machte sich seine Gedanken über den Quäker-Inspektor und seine Vertrauensleute. Dass der angebliche Zigeunerbaron zu allem zu gebrauchen war, daran zweifelte Scott nicht, den Mann mit dem zerbeulten Hut und dem Narbengesicht schätzte er nicht anders ein, nur diesen Indianerhäuptling, darüber war sich Scott noch nicht klar. Big Tree nannte sich die Rothaut, großer Baum, anscheinend einer vom Stamm der Navajos, die nicht den besten Ruf genossen, oftmals aus dem Reservat ausbrachen und sich dann stehlend umhertrieben, falls sie nicht völlig betrunken von den Kavalleriestreifen aufgegriffen und ins Reservat zurückbefördert wurden.
Scott hörte frommen Gesang. Unauffällig ging er an den Versammlungsraum heran und lugte durch die Ritzen der Holzwand. Da saß die Gemeinde auf ungehobelten Brettern, und mitten unter ihnen saß der Weißbart. Kein Mann war ohne Kopfbedeckung. Alle sangen, nur der Indianerhäuptling saß stumm und steif auf der Bank. Am lautesten sang Spadaro, er hatte eine gute, alles übertönende Stimme, dieser Zigeunerprimas; nur, dass er solche fromme Weise sang, passte durchaus nicht zu ihm. Noch weniger eigentlich zu dem verschlagenen Gesicht des Narbigen.
Nach dem Gesang herrschte Schweigen, und Scott dachte, nun würde der gute Alte aufstehen und eine Predigt halten, aber das geschah nicht. Einige Minuten schaute jeder still vor sich hin. Dann beendete Vater Whitefield die Versammlung mit den Worten: „Da sich niemand gedrungen fühlt zu reden und Zeugnis abzulegen, schließe ich die Versammlung."
Zwar war Scott etwas verdutzt über die Bräuche bei den Quäkern, aber schließlich war er ja nicht hierhin gekommen, um die Bräuche dieser hilfreichen, in der ganzen Welt geachteten Glaubensgemeinschaft zu studieren.
Spadaro gab ihm einen Wink, als er aus dem Versammlungsraum heraustrat, so wie man einem Kollegen einen Wink gibt. Er zeigte durchaus nichts Unterwürfiges einem Mann gegenüber, der doch immerhin Direktor einer Bahngesellschaft war. Er führte Scott über die Holzbrücke eines Baches. Im Schatten eines Kiefernhains stand ein Wohnwagen, an dem eine Unmenge Silber- und Goldbronze verschwendet worden war. Der Wagen war mit Teppichen ausgelegt und die Innenwände mit Gobelins behangen.
Spadaro war ein Mann von Welt, an seinen Manieren gab es nichts zu tadeln. Er nötigte den Besucher, auf der Couch Platz zu nehmen, und stellte ein silbernes Tablett mit einer Karaffe Kognak und vier Gläsern auf den kleinen Mahagonitisch.
„Auf Ihr Wohl, Mr. Scott!" Seine dunklen Augen lächelten ihm einladend zu. „Zum Wohl, Baron!"
„Sie wollen den Treck der Rinderherde zur Berlington-Bahn zu einem Misserfolg gestalten", sagte Spadaro zur größten Verblüffung des Besuchers.
„Ich wusste nicht, dass Sie schon informiert sind", bemerkte Scott.
„Nehmen Sie an, die Wahrsagerinnen meines Stammes würden mich auf dem laufenden halten." Der Zigeuner lachte. „Dreitausend Dollar", sagte er dann, als wenn das eine Sache von untergeordneter Bedeutung wäre. „Es geht in drei Teile. Ohne Renato Abruzzo und Big Tree kann ich kein Geschäft machen. Bitte, sehen Sie, da kommen sie schon."
Aha, jetzt wusste Scott auch, warum da vier Gläser standen.
Der Wagen schwankte, als die Genannten die Tür öffneten und eintraten.
„Nun, was für Arbeitskräfte brauchen Sie?" fragte Renato. „Solche, die mit Schaufel und Hacke arbeiten, doch wohl kaum. Also, um was geht es hier?" Er stieß seinen Beulenhut in den Nacken, bediente sich, reichte die Karaffe an den Häuptling weiter und ließ sich ungezwungen nieder.
Spadaro trat ans Wagenfenster und stieß einen kurzen Pfiff aus. Aus dem nahe gelegenen Gebüsch kam ein zerlumpter Junge gelaufen. Spadaro sagte etwas in der Zigeunersprache zu ihm, worauf der Junge sofort davonrannte.
Scott war etwas verwirrt. „Ich wollte nur mit Mr. Spadaro sprechen", bemerkte er.
„Hier können Sie nur mit der Dreieinigkeit sprechen", grinste das Narbengesicht. „Spadaro hat die Zigeuner an der Strippe, ich meine weißen und Big Tree seine roten Rassegenossen. Und alle drei zusammen haben wir Vater Whitefield an der Leine. Das ist die Lage hier im Reservat, und nun rücken Sie schon mit Ihrem Anliegen heraus."
Der Zigeunerbaron übernahm es, seine „Glaubensbrüder" einzuweihen. Scott konnte nur staunen, wie genau der Zigeuner über alles orientiert war. Der Indianer trank unheimlich; ob er etwas von dem Gesprochenen verstanden hatte, war seinem Gesicht nicht anzusehen.
Mit zusammengekniffenen Augen dachte Renato Abruzzo nach. So primitiv, wie er aussah, musste er in Wirklichkeit durchaus nicht sein, denn klar und folgerichtig entwickelte er jetzt seine Gedanken. „Ich kenne den alten Richter", sagte er, „ob er mich noch kennt bei den vielen Angeklagten, die er vor langer Zeit hinter Schloss und Riegel gebracht hat, bezweifle ich. Außerdem kenne ich einen, der jetzt dort den braven Mann spielt, den Virginier. Habe mit ihm Rinder gehütet und nach Gold gegraben. Aber was geht euch das an, was ich mit dem Virginier habe! Sprechen wir von der Aufgabe und dann vom Preis."
Von draußen ertönte ein Anruf. Gipsy stand unter dem Wagenfenster, und Spadaro sprach mit ihm. Scott sah, dass sich dann der Spitzbärtige ins Gras setzte, als erwarte er von seinem Oberhaupt weitere Befehle. Wie nützlich seine Anwesenheit war, trat schon bei der nächsten Frage Renatos zutage.
„Wann soll die Herde den Marsch antreten?" fragte er.
Spadaro gab die Frage in der Zigeunersprache durchs
Fenster weiter. Gipsy antwortete von draußen, und Spadaro übersetzte: „In den nächsten Tagen."
„Hm. . ." sagte Renato, „das hat der Richter also gestern bei einem Ochsenbratenfest angekündigt. Heute ist Sonntag, da schläft seine Mannschaft oder torkelt umher, bis der Whisky verraucht ist. Morgen beginnen die Cowboys mit dem Zusammentreiben der Herden und der Auswahl der Schlachtrinder. Das ist mühsam und erfordert einen Ruhetag, an

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Hermann Schladt
Übersetzung: Chris Schilling
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2012
ISBN: 978-3-95500-832-1

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