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Amazing SF – Band 5
Hermann Schladt (Hrsg.) – Beschleunigte Teilchen
Anthologie zum gleichnamigen Storywettbewerb des vss-verlag
1. eBook-Auflage – Juni 2012
© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.gratis-foto.eu/
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de

Hermann Schladt (Hrsg.)

Beschleunigte Teilchen
Anthologie zum gleichnamigen Story-Wettbewerb


Inhaltsverzeichnis

Ruth Kornberger Girls Day
Frank Neugebauer Deutsche Drusische Republik
Marco Ansing Verdammt unwahrscheinlich
Eberhard Leucht Professor Strindbergh und der Fall des Chirurgen
Lica Das Experiment
Thomas Berscheid -jökull
Mati Das Kreisdings
Frank Reimer Q139
Christiane Kromp Wie Phönix aus der Asche
Shayariel Dunkellichter
Johannes Siegl Signal von Unbekannt
Nikola Henze Zur Welt kommen
Hermann Moser Der Geist dreht sich im Kreis

Ruth Kornberger

Girls Day

Meinungsverschiedenheiten können wir uns in unserer Situation nicht leisten, darum halte ich den Mund, aber im Stillen verfluche ich Danielle jeden Tag. Der Girls Day war ihre Idee.
Danielle und ich teilen uns seit zwei Jahren ein Büro im CERN, der europäischen Organisation für Kernforschung. Wir arbeiten am Large Hadron Collider, einer ringförmigen Tunnelanlage von knapp 27 Kilometer Umfang, in der Teilchen beschleunigt werden.
Man könnte denken, Frauen, die sich mit komplizierten Maschinen beschäftigen, seien nüchterne Charaktere, zielgerichtet und Schnickschnack verabscheuend. Auf mich trifft das zu, aber Danielle ist die typische Frauenzeitschriftsleserin. Immer stehen Kekse auf ihrem Schreibtisch, alle sollen sich wohlfühlen, und dafür organisiert sie rund um das Jahr Feiern zu den Geburts- und Todestagen großer Forscher.
Doch Danielle ist durch das französische Bildungssystem gegangen. Sie hat keine Angst vor Hierarchien und weiß, wie man sich in einer Männerwelt behauptet. Andere, glaubt sie, wissen das nicht. Darum der Girls Day. Und den müsse ich unterstützen (»… denn du bist doch auch eine Frau, Bettina!«).

Ich erinnere mich, wie wir beide vor dem Institutsleiter saßen. Der runzelte die Stirn.
»Etwas für den Nachwuchs zu veranstalten, finde ich eine gute Idee. Aber warum sollen wir Jungen ausschließen?«
»Mädchen unter sich sind freier«, sagte Danielle. »Wenn neunmalkluge Jungs dabei sind, könnten sie zögern, Fragen zu stellen.«
»Wenn es schon am Fragen scheitert, sind sie in der Forschung falsch«, sagte ich.
»Sie werden ihre Schüchternheit überwinden, wenn wir ihre Begeisterung wecken.« Danielle schwang die Arme wie eine Katze, die nach einer Maus schlägt. »Enthusiasme! Passion!«
Der Institutsleiter rollte erschrocken mit dem Stuhl zurück.
»In Ordnung. Machen wir eben einen separaten Informationstag für die männlichen Schüler. War’s das?«
»Ja, danke.« Ich stand auf und zog Danielle mit hinaus.
»Die Mädchen werden uns stürmen«, rief meine Kollegin euphorisch.

Tja, es kamen dann nur zwei. Eigentlich wäre nur eine gekommen, aber weil die erst 14 Jahre alt war und in Evoléne wohnte, von wo die Bahnverbindung kompliziert ist, wurde sie von ihrer großen Schwester mit dem Auto gebracht.
Danielle tischte in einem der Besprechungsräume ein opulentes Frühstück auf. Am Wochenende war sie bei ihren Eltern in Hagenau gewesen und hatte bei der Gelegenheit den Auchan leergekauft. Brioches, diverse Obstsorten, Krabben in Cocktailsoße und eine gigantische Käseplatte bedeckten den Tisch. Über die Köstlichkeiten konnte ich mich allein hermachen. Alice, die große Schwester, war auf Diät, und Clara, die Kleine, hatte keine Zeit zu essen. Sie war angezogen wie eine Wissenschaftlerin in einem James-Bond-Film: strenge Bluse und Bleistiftrock. Was Danielle über unsere Arbeit erzählte, notierte sie in einer ledergebundenen Kladde. Hin und wieder stellte sie Zwischenfragen. Sie wusste gut Bescheid. Damals glaubte ich, ihre Eltern hätten sie vorbereitet. Ich hielt sie für eines dieser Mädchen, die seit dem Kindergarten Mandarin lernen und mehrere Instrumente spielen.

»Stimmt es, dass ihr auch Schwarze Löcher macht?«, fragte Clara.
»Die wären nur Nebenprodukte unserer Forschung, und dass sie entstehen, ist unwahrscheinlich«, sagte Danielle. »Wir schießen Protonen aufeinander, weil wir Teilchen erzeugen möchten, die noch niemand nachweisen konnte: die Higgs-Bosonen.«
»Bescheuerter Name.« Alice sah demonstrativ auf ihre Uhr.
In einem Anflug von pädagogischem Eifer versuchte ich, ihr Interesse zu wecken.
»Manche glauben, mit den Higgs-Bosonen könnten auch sogenannte Higgs-Singlets entstehen.« Ich hob den Zeigefinger wie der Kasper im Puppentheater. »Und diese Dinger könnten durch die Zeit reisen.«
»Interessant.« Clara schrieb eifrig mit.
Ihre Hand sauste über das Papier. Ich fragte mich, ob sie Steno beherrschte. Unauffällig reckte ich den Hals, um zu sehen, was sie da fabrizierte. Im Augenwinkel erkannte ich Reihen aus Schleifen, wie Kinder sie machen, bevor sie Buchstaben lernen. Danielle schien das noch nicht bemerkt zu haben. Sie redete weiter.
»Meine Kollegin verspricht etwas viel. Wenn Higgs-Singlets in unserem Tunnel entstünden, könnten sie höchstens Entfernungen von zehn Metern mit Überlichtgeschwindigkeit schaffen. Das wäre nur ein winziger Zeitsprung, eine Picosekunde, vom Menschen nicht wahrnehmbar.«
Alice gähnte und behandelte ihre Fingerspitzen mit Nagelbalsam.
»Dürfen wir den Tunnel anschauen?« Clara machte große Augen.
»Das geht leider nicht«, sagte Danielle. »Während des Betriebs darf niemand hinein. Zwar wird der Partikelstrahl von extrem starken Magneten in der Bahn gehalten, aber würde er außer Kontrolle geraten, wäre das lebensgefährlich. Außerdem entsteht bei den Versuchen radioaktive Strahlung. Aber wir können eine Führung über das Gelände machen.«
»Keine Angst«, sagte ich zu Alice, die plötzlich erschrocken aussah. »Es ist noch nie etwas geschehen.«
Nein, es war noch nie etwas geschehen. Wir dachten uns darum nichts, als Alice plötzlich verschwunden war. Clara sagte, sie habe eine schwache Blase und könne an keiner Toilette vorbeigehen. Wir dachten uns auch nichts, als Alice aus der falschen Richtung wieder auftauchte. Und als Clara eine Woche später anrief und sagte, mit ihrer Schwester sei etwas komisch, schmunzelten wir nur. Danielle schaltete den Lautsprecher des Telefons an und wir belächelten den schweizerdeutschen Redeschwall der Kleinen wie gutmütige Tanten.
»Hast du verstanden, was sie uns erklären wollte?«, fragte ich Danielle, als das Gespräch beendet war.
»Kein bisschen«, sagte Danielle. »Sie vermischt Physik mit Science-Fiction. Aber offensichtlich haben wir Interesse geweckt. Sie hat noch mehr Fragen an uns.«
»Sie hatte schon bei ihrem Besuch viele Fragen. Aber mitgeschrieben hat sie die Antworten nicht, das sollte nur so aussehen. Sie hat stattdessen Fantasiezeichen gekrakelt.«
»Vielleicht kam sie nicht mit. Auf jeden Fall hat sie sich gefreut, noch einmal herkommen zu dürfen.« Danielle lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Der Girls Day war ein voller Erfolg!«

Der zweite Besuch von Clara fand in der Woche darauf am Freitagmorgen statt. Danielle verspätete sich und ich war allein im Büro, als Clara ohne zu klopfen durch die Tür stürmte. Ihre Schwester hatte sie nicht dabei, dafür einen Rucksack, aus dem ein Lineal und der Griff eines Badmintonschlägers ragten.
»Schwänzt du die Schule?«, fragte ich.
»Wir haben heute nur Sport und Deutsch.«
Ich deutete fragend auf das Lineal. Clara zuckte die Schultern.
»Und Mathe. Aber da habe ich das Übungsbuch schon durch.«
Sie schleuderte ihren Rucksack auf den Boden.
»Setz dich.« Ich rückte ihr den Besucherstuhl zurecht. »Wissen deine Eltern, wo du bist?«
Clara kommentierte diese Frage mit einem Seufzen.
»Natürlich nicht. Das Geld für die Bahnfahrkarte habe ich meiner Schwester geklaut.«
Ihre Finger trommelten ungeduldig auf die Armlehnen des Stuhls. Sonst saß sie ganz still. Sie bekam keine roten Ohren und wich meinem Blick nicht aus. Ich erkannte nicht die Spur eines schlechten Gewissens bei ihr. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich gewarnt sein müssen. Ich hatte die Hälfte meines bisherigen Lebens im Wissenschaftsbetrieb verbracht und dabei eine Handvoll Menschen kennengelernt, für die Ethik ein Fremdwort ist. Und dazu zähle ich nicht die Atomphysiker, die Diktatoren mit Nukleartechnik versorgen, weil für sie der mögliche Schaden geringer wiegt als der persönliche Nutzen, sondern nur die Kollegen, die nicht einmal abwägen – hochgelobte, mit Stipendien und Privilegien überschüttete Streber, die denken, dass man tun muss, was man tun kann. Diese Menschen wischen Einwände weg wie lästige Fliegen; ihre einzige Gemütsregung ist Ärger, wenn sie aufgehalten werden. Dann werden sie ungehalten und trommeln auf Armlehnen. Aber Clara war noch ein Kind.

Eine knisternde Bäckertüte landete auf meinen Schreibtisch.
»Croissants!« Danielle bedachte Clara mit einem flüchtigen Küsschen. »Ça va, ma petite?«
Clara blieb von der Begrüßung unbeeindruckt.
»Ich bin noch einmal hergefahren, weil ich Ihnen sagen muss, dass meine Schwester diese Teilchen im Kopf hat.«
»Bitte, was?« Meine Stimme klang schrill.
»Higgs-Bosonen wahrscheinlich.« Clara prüfte den Sitz ihre Haardutts. »Ganz sicher aber Higgs-Singlets.«
Das Gespräch, das darauf folgte, drehte sich zeitweise im Kreis, was jedoch an Danielle und mir lag. Clara hatte ihre Gedanken sauber geordnet. Ihre Schwester sei während der Besichtigung im Tunnel gewesen. Dort habe sie einen der Magnete manipuliert. Ein Teil des Strahls sei daraufhin abgelenkt worden, habe sich durch die Röhrenwand gebohrt und Alice gestreift.
Danielle lauschte dieser Märchenstunde fasziniert. Ich dagegen hatte Einwände.
»Man kommt nicht einfach in den Tunnel hinein. Wir haben ein biometrisches Kontrollsystem, und bevor der Beschleuniger angeschaltet wird, werden die Zugänge versiegelt. Einbrecher mit modernster Technik wären machtlos. Erst recht ein Mädchen mit einer Nagelfeile.«
So verächtlich hatte ich nicht sein wollen. Clara nahm es gelassen.
»Meine Schwester ist doof, das weiß ich selbst. Für die ist schon das Zahlenschloss ihres Fahrrads hoch kompliziert. Aber was sie knacken kann, sind Männer. Sie hat in den letzten Monaten zwei Lehrer und einen Jugendrichter geschafft. Das ist wie ein Sport für sie. Eure Sicherheitssysteme nützen nichts, wenn irgendwo ein Kollege sitzt, der junge Blondinen mag.«
»Das kann ich nicht glauben«, sagte Danielle. »Warum sollte jemand eine solche Dummheit begehen?«
»Warum habt ihr einen Girls Day gemacht?«, fragte Clara zurück. »Männer geben gern mit Technik an, das wisst ihr selbst. Und ein Teilchenbeschleuniger ist hundertmal cooler als ein schnelles Auto.«
»Da spricht sie was Wahres«, sagte ich.
»Du erwartest immer das Schlechteste von allen Menschen, Bettina!« Danielle beugte sich vor und fixierte Clara wie ein Kleinkind, das über eine vierspurige Straße rennen will.
»Was du erzählst, kann nicht stimmen. Der Teilchenstrahl würde einen Menschen durchbohren und danach noch viele Meter in die Erde dringen. Nicht umsonst liegt diese Anlage unterirdisch.«
»Wie es genau abgelaufen ist, weiß ich nicht«, sagte Clara. »Es stimmt, das Leck kann nicht groß sein, sonst wäre etwas Schlimmes passiert und der Vorfall wäre bemerkt worden. Vielleicht sind nur vereinzelte Teilchen ausgetreten, vielleicht nur die Higgs-Teilchen.«
»Und die sind jetzt im Kopf deiner Schwester?« Danielle riss die Augen auf wie Louis de Funès.
»Das habe ich doch schon am Telefon erklärt«, sagte Clara.
»Wir haben dich nicht ernst genommen.« Ich setzte mich gerade hin. »Aber jetzt würde ich die Geschichte gern noch einmal hören.«
Ich bin Pessimistin. Grundsätzlich rechne ich damit, zu scheitern. Und darum glaube ich auch an die Gemeinheit des Schicksals. Warum sollte nicht jemand ohne Vorkenntnisse durch Zufall etwas entdecken, das wir seit Jahren suchen? Das passte absolut in mein Weltbild.
Danielle angelte nach der Croissanttüte und zerpflückte ungehalten Blätterteig. Clara wartete, bis das Rascheln endete. Ihre Kladde hatte sie nicht dabei. Aber wie ich wusste, war die sowieso nur Staffage. Clara hatte alles im Kopf. Sie sprach frei, wie jemand, der sein Thema bis zur letzten Einzelheit kennt.
»Higgs-Singlets können in einer fünften Dimension durch die Zeit reisen. Im Beschleuniger konnten sie bisher nicht nachgewiesen werden. Aber die Teilchen sind vorhanden, und als das Leck entstand, sind sie in den Körper meiner Schwester eingedrungen. Vermutlich sind sie überall, aber interessant ist, was sie im Gehirn anstellen.«
Clara legte eine Kunstpause ein, um sich unserer Aufmerksamkeit zu versichern.
»Meine Schwester ist zum Orakel geworden. Ich erkläre mir das so: Die Teilchen reisen in frühere und spätere Zustände ihres Gehirns und kehren von dort mit Informationen zurück. Zum Beispiel kann Alice sich plötzlich an Dinge aus ihrer frühesten Kindheit erinnern. Neulich morgens im Badezimmer sagte sie ›blaues Pferd‹. Ich habe meine Mutter gefragt, und wirklich hatte meine Schwester mal eine Spieluhr in Form eines blauen Pferds. Die ging allerdings im Urlaub verloren, als sie eineinhalb Jahre alt war. Sie kann das unmöglich noch wissen.«
»Kein Beweis«, sagte Danielle. »Eure Eltern können davon erzählt haben. Oder sie hat ein Foto gesehen.«
»Kann sein«, sagte Clara. »Aber das eigentlich Sensationelle sind die Informationen aus der Zukunft. Alice hat mehrmals den Namen Luca erwähnt. Und einmal zog sie ihren Lippenstift nach und sagte in den Spiegel: ›Alice Solano, freut mich.‹ Ich habe ›Luca Solano‹ gegoogelt, es gibt einen Anwalt in Rom, der so heißt. Er ist 30 und hat Jura studiert; sein Vater besitzt eine große Kanzlei, in die er eingestiegen ist. So jemand ist genau Alices Typ. Sie will nächsten Sommer mit einer Freundin durch Italien reisen. Dort wird sie diesen Solano kennenlernen und heiraten.«
Danielle stand auf.
»Ich finde es toll, dass du dich für unsere Forschung interessierst. Ich möchte dir die Ferienprogramme der Universitäten empfehlen.«
»Warte«, sagte ich. »Es wäre dumm von uns, sie einfach wegzuschicken. Immerhin ist alles, was sie sagt, theoretisch möglich. Wir müssen der Spur nachgehen. Ob Alice im Tunnel war, können wir leicht herausfinden. Wir bitten die Sicherheitsleute um die Aufzeichnungen der Überwachungskameras.«
Ich zog mein Telefon heran. Danielle hielt meine Hand fest.
»Wenn wir das tun, fällt alles auf uns zurück. Die Tatsache, dass hier jemand allein herumwandern konnte, reicht aus, damit es nie wieder einen Girls Day gibt. Ich habe eine bessere Idee: Wir bringen Alice ins Baseler Spital und lassen ihr Gehirn auf unnormale Aktivitäten scannen.«
»Du kannst sie nicht einfach in den Apparat legen; die Untersuchung muss beantragt werden. Was schreiben wir in die Begründung? Noch ist alles nur eine gewagte Vermutung.«
»Stimmt.« Danielle knautschte verzweifelt ihren Pony. »Es läuft alles darauf hinaus, dass wir uns lächerlich machen.«
»Darf ich etwas vorschlagen?«, fragte Clara. »Wenn wir im Moment nicht beweisen können, dass im Gehirn meiner Schwester Higgs-Teilchen herumspringen, könnten wir uns auf das Orakeln konzentrieren. Alice redet nicht nur von ihrem zukünftigen Ehemann, sondern auch anderes, unverständliches Zeug. Es ist eben so: Das zukünftige Gehirn meiner Schwester kennt die Welt, wie sie in zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren aussieht, was für Alltagsgegenstände man benutzt, was in der Politik passiert. Aber wenn die zeitreisenden Higgs-Singlets mit diesen Informationen in das jetzige Gehirn meiner Schwester zurückkommen, kann Alice damit nichts anfangen, weil sie das alles weder einordnen noch ausdrücken kann. Sie interessiert sich bloß für Mode und Männer. Es ist, als stecke ein Ferrari-Motor in einem Rasenmäher.«
»Du wirst gleich vorschlagen, ihr Gehirn zu amputieren und jemand anderem einzupflanzen, oder?« Mittlerweile traute ich der Kleinen alles zu.
»Viel einfacher: Wir müssen sie nur schlauer machen. Wir suchen ein Thema heraus, zum Beispiel Handys, und lassen sie dazu Bücher lesen. Sobald sie weiß, was die Erfindungen der nächsten Jahre sein könnten, wird sie die Informationen aus der Zukunft verstehen und uns mitteilen können. Damit haben wir einen Hinweis auf die Higgs-Teilchen und erfahren gleichzeitig Interessantes über die Zukunft.« Claras Wangen glühten vor Begeisterung über den eigenen Plan. »Alice geht ab und zu mit einem Banker aus, Marek, und dem gehört eine Hütte in den Bergen. Im Moment ist er auf Geschäftsreise in Australien und hat Alice die Schlüssel dagelassen. Wir könnten übers Wochenende mit ihr hinfahren und probieren, wie weit wir kommen. Sollen wir das machen?«
Sie wippte ungeduldig mit den Beinen. Danielle lächelte. Ihre Skepsis war wie weggewischt. Nun schien sie stolz darüber, dieses ungewöhnliche Mädchen entdeckt zu haben. Vielleicht spielte auch die französische Vorliebe für alles Verrückte mit.
»Wir können es auf jeden Fall probieren. Was meinst du, Bettina?«
Ich schob das Telefon weg. Was ich dann sagte, tönt mir immer noch in den Ohren, und das meine ich wörtlich. Wenn ich die Wut auf mich selbst nicht mehr aushalte, schreie ich den Satz gegen die steinernen Wände, und der Hall verstärkt jede Silbe, bis meine Ohrmuscheln klingeln:
»Warum nicht, passieren kann dabei nichts.«

Die »Hütte« entpuppte sich als Feriendomizil der luxuriösen Art. Es gab einen Whirlpool im Bad, fünf mit Goldkitsch vollgestopfte Zimmer und im unteren Teil, der schräg an den Berg gebaut war, einen Gewölbekeller, der mit massiven Holzmöbeln und einer gut sortierten Speisekammer ausgestattet war. Danielle und ich bestaunten den Jahresvorrat an Champagner, Käsewaffeln und Antipasti-Konserven.
»Marek feiert gern«, erklärte Alice. »Nehmen wir ein paar Flaschen mit hoch.«
Mit Veuve Cliquot machten wir es uns vor dem Haus auf einer Picknickdecke bequem. Clara trank nichts. Sie blätterte durch die Bücher, die sie in ihrem Schulrucksack mitgebracht hatte.
»Kannst du nie aufhören zu lernen?« Ihre Schwester warf einen mitleidigen Blick auf einen Wälzer mit dem Titel »Digitale Utopien«.
»Die sind für dich«, sagte Clara. »Du sollst dich fortbilden, damit du die Botschaften aus der Zukunft verstehst.«
»Darauf habe ich keine Lust.«
»Es ist für die Wissenschaft. Wir können dich nicht einfach scannen.«
»Scannen?« Alice unterdrückte einen Schluckauf.
»Ein Gehirnscan, um die Higgs-Singlets nachzuweisen«, sagte Danielle. »Dafür brauchen wir allerdings erst Anhaltspunkte, dass sie existieren.«
Alice drehte ihr Glas zwischen den Handflächen.
»Ich dachte nicht, dass Sie die Sache ernst nehmen. Vielleicht muss ich dann etwas gestehen: Ich war nicht im Tunnel.«
»Was?!« Clara ließ das Buch fallen. »Wieso nicht? Ich habe dir genau erklärt, was du dort machen sollst.«
»Das war deine Idee?«, fragte ich.
»Natürlich. Glauben Sie, Alice kommt auf so etwas? Ihr Physikwissen ist auf dem Stand der 6. Klasse.«
»Tut mir leid«, sagte Alice. »Ich habe wirklich versucht hineinzukommen. Dieser Typ, mit dem ich in der Teeküche gequatscht habe, war auch nett, aber in den Tunnel lassen wollte er mich nicht.«
»Du blöde Kuh!« Clara wischte Wuttränen weg. »Du hast gesagt, du hilfst mir.«
»Claralein, das wollte ich doch. Ich bin deine große Schwester, oder? Aber zaubern kann ich nicht.«
Sie versuchte, Clara in den Arm zu nehmen. Die riss sich los und rannte ins Haus. Danielle lief hinterher. Ich schenkte Alice nach.
»Erklärst du mir trotzdem, was du im Tunnel tun solltest?«
»Das weiß ich nicht mehr. Irgendwas mit Magneten und Einstellungen. Clara hat Zeichnungen gemacht, aber die habe ich nicht verstanden.«
Sie nahm einen Schluck und warf den Kopf schwungvoll nach hinten. Ich sah ein, dass ich bei ihr nicht weiterkäme, und stellte die Champagnerflasche ins Gras.
»Ich gehe nach deiner Schwester schauen.«

Ich fand Clara im Keller, wo sie Pfeile auf eine Dartscheibe schleuderte. Danielle redete aus einem Sicherheitsabstand beruhigend auf sie ein:
»Es ist nicht gelaufen, wie du geplant hattest, aber das macht nichts. Wenn du uns erklärst, was du vorhattest, und deine Annahmen einer theoretischen Überprüfung standhalten, können wir einen geordneten Versuch planen.«
Wump! Ein Pfeil federte im Schwarzen nach.
»Theoretische Überprüfung!«, schrie Clara. »Ihr nehmt mich nicht ernst, das habe ich schon beim Girls Day gemerkt. Ihr habt mich durch nichtssagende Flure geführt. Nicht den kleinsten Einblick habe ich bekommen! Wenn ihr mir keine Chance gebt, wer dann?«
»Du bist ein Freak, das glaube ich dir.« Der Alkohol hatte meine Zunge gelockert. »Du hast dir aus Quellen im Internet Halbwissen zusammengebastelt. Aber du kannst nicht ernsthaft glauben, deine Schwester könne durch Herumschrauben an unserer milliardenteuren Anlage einen nobelpreiswürdigen Coup landen. Selbst wenn sie Higgs-Teilchen eingefangen hätte, wäre das ein Zufallstreffer gewesen – nicht reproduzierbar und darum nichts wert.«
»Ihr unterschätzt mich. Ich weiß, was ich tue. Ich verstehe es intuitiv. Intuition ist die Stärke der Frauen, oder? Ich habe das Puzzle zusammengesetzt, nur kann ich den Lösungsweg nicht erklären. Dieses wissenschaftliche Getöse! Um so zu sprechen, muss man studiert haben.«
»Wir können dir beim Formulieren helfen.« Danielle versuchte, Clara die Dartpfeile wegzunehmen. Auch mich machten die Metallspitzen nervös. Clara wich zurück.
»Ich traue euch nicht.«
»Warum der Trotz? Destruktive Gefühle sind der Grund, warum so wenige Frauen dauerhaft Erfolg haben.«
»Sind wir jetzt bei der Karriereberatung?« Clara entfernte sich von der Wurflinie und stützte ihre Hände rechts und links in den Rahmen der Kellertür. Das Flurlicht beleuchtete sie von hinten wie einen Racheengel.
»Denk an die Sache, lass uns zusammenarbeiten«, versuchte Danielle zu beschwichtigen. »Wie Bettina gesagt hat: Wenn wir erfolgreich sind, ist der Nobelpreis drin.«
»Ich verstehe.« Claras Ausdruck wurde lämmchenhaft sanft. Seltsam, dieser plötzliche Stimmungsumschwung.
»Schön.« Danielle streckte die Arme aus und ging auf Clara zu. Mit einem Wimpernschlag war sie im Wir-haben-uns-lieb-Modus. Verhängnisvolles weibliches Harmoniebedürfnis! Ich bewegte mich auch nach vorn, allerdings in großen Sätzen, wie beim Anlauf zum Weitsprung. Als Pessimistin wird man selten unangenehm überrascht. Zu langsam war ich trotzdem. Die Tür schnappte vor mir zu.
»Ich habe euch durchschaut!«, rief Clara von der anderen Seite. »Ihr wollt meine Idee klauen und den Ruhm allein ernten.«
Ein Schlüssel drehte im Schloss.
»Machst du bitte wieder auf?«, rief Danielle.
Zwischen Tür und Boden war ein daumendicker Spalt. Ich spähte hindurch. Clara war noch da; ich erkannte die Knie ihrer Cordhose über den Wanderschuhen. Sie saß im Schneidersitz.
»Ich erzähle euch, wie wir es machen«, sagte sie in einem Ton, als hockten wir auf ihrem Kinderzimmerteppich, um die Regeln für ein neues Spiel zu lernen. »Ihr helft mir einen Aufsatz zu schreiben, der korrekt wissenschaftlich ist. Den schicke ich an Fachzeitschriften. Sobald er gedruckt ist, weiß die Welt, dass ich diese Entdeckung gemacht habe, und ihr könnt wieder raus.«
»Du willst uns hier eingesperrt lassen?«
Die Wirklichkeit schien nun auch zu Danielle durchzusickern. Meine Kollegin wühlte in ihrer Jacke. Ich starrte schon auf mein Handy, das keinen einzigen Netzbalken zeigte.
»Ihr habt doch Übung in so etwas«, sagte Clara. »Und es ist in eurem Interesse, mir zu helfen. Oder soll ich erst Matura machen, studieren, promovieren und mich bewerben, bis das CERN mich nimmt? So lange reichen Mareks Vorräte nicht.«
»Du benimmst dich dumm«, sagte Danielle. »Von deiner Schwester wirst du großen Ärger bekommen.«
»Meiner Schwester erzähle ich, dass ich berühmt werde und von Uni zu Uni reise und sie an die tollsten Orte mitnehme. Hawaii, Kalifornien …«
»So was Naives. Damit kommst du nicht durch« Danielle schüttelte heftig den Kopf.
Ich dagegen nickte.

Die Pessimistin behielt recht. Das Einzige, was wir von Alice seit einer Woche gehört haben, ist das Motorengeräusch ihres Autos, wenn sie Clara bringt oder abholt. Die Kleine hat Herbstferien und tippt täglich an einem Klapptisch im Kellerflur unsere Formulierungen in ihren Laptop. Man glaubt nicht, was man in konzentrierter Arbeit in wenigen Tagen schaffen kann. Wir sind zu zwei Dritteln fertig. Ich gebe es nicht gern zu, aber Clara ist keine Spinnerin. Ihre Annahmen haben Hand und Fuß. Danielle ist begeistert.
»Das könnte funktionieren«, sagt sie immer wieder.
Ich würde sie gern schütteln, bis ihre Enthusiasmusmoleküle in ihre Bestandteile zerfallen. In den ersten beiden Nächten konnte ich auf meinem Tisch nicht schlafen. Als ich am dritten Abend endlich vor Erschöpfung einnickte, hatte ich einen schlimmen Traum.
»Weißt du, was passieren wird?«, fragte ich Danielle beim Frühstück, das aus Knoblauchcrevetten und Salzbrezeln bestand. »Wenn Clara an die Magnete darf und wirklich Higgs-Singlets erzeugt, wird sie die Teilchen nicht an das Gehirn ihrer Schwester verschwenden, sondern in ihrem eigenen Kopf haben wollen. Funktionieren die Reisen der Teilchen in spätere Zustände des Gehirns, haben wir ein anderes Szenario als das, was Alice vorgetäuscht hat. Clara interessiert sich nicht für italienische Herzensbrecher oder Schuhe. Sie wird die Innovationen der Zukunft in die Gegenwart holen. Sie kann sich auf jedem Gebiet einen Wissensvorsprung verschaffen und damit allen Forschern und Entwicklern der Gegenwart zuvorkommen. Sämtliche Erfindungen der nächsten Jahrzehnte werden von ihr sein.«
Danielle senkte ihre Plastikgabel. Ich konnte förmlich sehen, wie sie versuchte, dieser Prophezeiung etwas Gutes abzugewinnen.
»Die Hauptsache für die Menschheit ist doch, die Dinge werden erfunden.« Ihre Augen leuchteten auf. »Von einer Frau!«
Ich hob meine Evian-Flasche. Am Gaumen spürte ich Sodbrennen. Oder war es der Zynismus, der in mir hochschwappte?
»Super«, sagte ich. »Auf den Girls Day!«

Frank Neugebauer

Deutsche Drusische Republik

Die beiden Agenten gaben sich die Namen Ying und Yang, und ihr Auftrag hieß »Kondensat«.
Über eine Reihe gefälschter Papiere, ausgestellt von erfundenen chinesischen Universitäten – welcher Westler behielt bei dem rasanten Fortschrittstempo dort den Überblick? –, ein paar Fremdsprachenkurse und einem Spezialtraining der kommunistischen Partei Chinas hatten sie sich Zugang zum Speicherring erschlichen.
Sie hatten genau sechzehn Stunden Zeit für ihr »Experiment« zugesprochen bekommen. Außer ein paar Technikern war niemand sonst in dem weiten Rund der gewaltigen Anlage anwesend. Tief beugten sich Ying und Yang über die Schaltkonsole, um Arbeit zu markieren. In Wirklichkeit hatten sie keine große Ahnung von Physik und Teilchenbeschleunigern; sie waren trojanische Pferde, die in Feindesland eingedrungen waren.
Ying schlug einen Aktendeckel auf, den er mitgebracht hatte, und Yang sah den handelsüblichen USB-Stift. Er wog ihn in der Hand und las die Markierung ab. »Nur vier Gigabyte?«, fragte er und zog die Augenbraue verächtlich hoch.
Ying lächelte. »An dem Manipulationsprogramm haben unsere Landsleute anderthalb Jahre gearbeitet. Mittels dieser kleine Datenmenge werden wir den Speicherring und die Welt gründlich umprogrammieren, glaube mir.«
Yang erwiderte das Lächeln. Er suchte nach dem Anschluss und steckte den USB-Stift hinein. Lautlos und ohne jemanden in der Halle zu beunruhigen, tat das chinesische Geheimprogramm seinen Dienst und verstellte sämtliche Parameter der Anlage.
»Was ist, wenn die Anlage nach unserer Manipulation doch, wie viele anfangs befürchtet haben, ein Schwarzes Loch produziert?«, fragte Yang naiv.
»Das ist seit Inbetriebnahme vor zwei Jahren nicht vorgekommen und wird auch nicht. Was unser Programm anstellt, ist wesentlich bedeutender: Wir erzeugen ein Weißes Loch!«
»Nie davon gehört.«
»Ganz einfach: Die Materie, die in den Schwarzen Löchern verschwindet, muss an irgendeiner Stelle auch wieder austreten. Das gebietet schon der elementare Satz von der Erhaltung der Energie in einem geschlossenen System.«
»Wenn wir also den Knopf niederdrücken, haben wir nach einer Sekunde oder so ein Weißes Loch erzeugt, durch welches Materie austritt?«, fragte Yang.
»Ja. Anfangs wird es nicht viel sein, aber wer weiß, welche Auswirkungen sich später ergeben.«
Nach nicht einmal zwei Minuten war die Prozedur der Umprogrammierung abgeschlossen, und Yang zog den USB-Stift ab. »Die Bombe ist scharf«, sagte er theatralisch.
Ying drückte ohne weitere Verzögerung den Startknopf.
Nichts schien zu passieren.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2012
ISBN: 978-3-95500-894-9

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