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Amazing SF – Band 1
Hermann Schladt (Hrsg.) – Der letzte Mensch auf Erden
Anthologie zum gleichnamigen Storywettbewerb des vss-verlag
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.gratis-foto.eu/
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers
Miguel de Torres Verpennt
Cristiane Gref Evas Spiel
Tom Cohel Ich liebe dich
Thomas Pielke Zu spät
Hans Ardin Jäger
Arno Endler Überraschung
Mortimer M. Müller Neuseeland
Swantje Naumann Der letzte Mensch auf Erden
Claudia Göpel Mimikry
Helmut Marischka Shon-Lar
Tamara Nahm Vom Schlaf der Toten
Stefanie Kißling Zeit in seinen Armen
Thorsten Fischer Der Chronist
M. Maurice Das Erbe dieses Planeten


Vorwort des Herausgebers

Liebe SF-Freunde,

als mir die Idee zum Wettbewerb „Der letzte Mensch auf Erden“ kam, da dachte ich an Endzeitgeschichten und Weltuntergangsstimmung. Doch wie immer bei solchen Wettbewerben war das Ergebnis überraschend, vielfältiger, viel mehr Aspekte dieses Themas auslotend.

Ob humoristisch, wie die Story von Miguel del Torres, überraschend makaber, wie die von Hans Ardin, da gleicht keine Geschichte der anderen.

So hatte zunächst die Jury Schwerarbeit zu leisten, die eingesandten Geschichten zu bewerten und eine gerechte Reihung zu finden. Hierzu der Jury meinen herzlichen Dank.

Nicht weniger leicht war es dann, zusätzlich zu den zehn Bestplatzierten, noch die Storys auszusuchen, die ebenfalls in die Anthologie Eingang finden sollte.

Ich hoffe, mir ist eine gute Auswahl gelungen, und sie, liebe Leser, haben jetzt viel Spaß beim Lesen dieses Anthologiebandes.

Hermann Schladt
Herausgeber


Verpennt
von Miguel de Torres

Das Erwachen war langsam und schmerzhaft – mehr ein quälendes Auftauchen aus tiefen, schwarzen Fluten denn ein Zurückgleiten aus der Welt der Dunkelheit in diejenige des Lichts.
Der alte Mann schlug die Augen auf und hob, mit einiger Anstrengung, den Kopf. Seine Blicke durchschweiften den großen Raum, der lediglich von dem durch ein halbmetergroßes Loch, weit über ihm, hereinfallenden Tageslicht notdürftig erhellt wurde.
Nichts schien sich verändert zu haben.
„Junge!“, rief der alte Mann und erschrak über seine Stimme. Er schluckte, dennoch blieb seine Kehle so trocken, als habe er ein Jahrhundert lang geschlafen.
„Junge!“, wiederholte er, drängender. „Wo steckst du?“
Doch der Junge, der ihm aufzuwarten pflegte, erschien nicht. Auch nicht, als er den Ruf ein weiteres Mal wiederholte.
„Verflixter Bengel!“, murmelte er. „Dann muss ich eben selbst nachsehen!“
Er erhob sich, doch gleich darauf sank er mit einem unterdrückten Wehlaut wieder zurück auf die steinerne Bank, auf der er geruht hatte. Ungläubig starrte er auf seinen Bart, der so lang war, dass er sich an einem der Beine des vor ihm stehenden Tischs verfangen hatte.
„Vermaledeites Ding!“, schimpfte der alte Mann vor sich hin. „Hätte ich doch nur auf Beatrix, Gott hab sie selig, gehört! Jahrzehntelang hat sie mich mit dem Wunsch gepiesackt, ihn abzurasieren. Dabei ist er doch mein Markenzeichen!“
Unbeholfen fingerte er an dem roten Bart herum, bis er ihn endlich befreit hatte. Dann erhob er sich, langsam, ächzend. Rücken- und Nackenwirbel knackten, als er sich vorsichtig streckte. Abermals rief er nach dem Jungen, und abermals kam keine Antwort.
Leise Unverständliches vor sich hinmurmelnd, schlurfte der alte Mann auf den einzigen Ausgang des Raums – der Höhle – zu. Die schwere und mit eisernen Beschlägen versehene hölzerne Tür klemmte. Erst unter Aufbietung all seiner verbliebenen Körperkräfte und nach Androhung schrecklichsten Ungemachs gab sie nach, widerstrebend und knarrend.
Der Gang dahinter, eng und fast lichtlos, war übersät mit kleineren und größeren Steinen, die sich aus der Felsendecke gelöst hatten. Der alte Mann folgte seinem gekrümmten Verlauf, hie und da einen Fluch oder einen unterdrückten Schmerzenslaut ausstoßend, wenn er mit dem Fuß einen der Steine anstieß und zu fallen drohte.
Endlich sah er einen Lichtschimmer vor sich. Hastig legte er die letzten Meter zurück. Der Boden war hier mehr mit Erde als mit Steinen und Geröll bedeckt. Und die Öffnung ...
Die Öffnung des Gangs war zum größten Teil zugewachsen.
Schimpfend rüttelte er an den Zweigen des Gebüschs, das den Ausgang versperrte. Er dachte daran, erneut nach dem Jungen zu rufen, doch dann unterließ er es. Er war zeitlebens ein starker Mann gewesen – nicht nur, aber auch, in körperlichem Sinn. Es wäre doch gelacht ...
Schließlich gelang es ihm, die Äste so weit auseinanderzubiegen, dass er sich hindurchzwängen konnte. Erleichtert sog er die Luft ein, als er sich endlich im Freien befand. Dann runzelte er die zerfurchte Stirn. Der Weg, der hinabführte, war überwachsen und kaum mehr als solcher zu erkennen.
Der alte Mann tat einige Schritte, dann sah er um sich. Die Wälder, die einst den Berg, auf dessen Hang er sich befand, überzogen hatten, waren fast vollständig verschwunden. Hie und da wuchsen lediglich noch Büsche; an vielen Stellen trat der nackte, weiße Fels zutage.
Er hob den Kopf und blickte in den azurnen Himmel. Kein Lufthauch war zu spüren, keine Wolke zu sehen.
Und keine Raben ...
Eine gewaltige Erregung bemächtigte sich plötzlich des alten Mannes. Er begann zu zittern und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre, strauchelnd durch einen jähen Schwächeanfall, auf die Knie gesunken.
„So ist es also wahr“, flüsterte er, immer noch ungläubig. „So ist es also wahr! Die Zeit ist gekommen, das Reich wird wiedererstehen ...“
Minuten stand er so da, den makellosen Himmel musternd, dann setzte er sich in Bewegung. Mit zügigen Schritten, immer schneller ausgreifend und sein Alter vergessend, lief er den Berghang hinab, in Richtung des Dorfes, das er unten wusste.
Endlich gelangte er, schwer atmend, unten an und sah das Dorf nicht weit entfernt vor sich liegen. Doch was war das? Erschüttert blieb der alte Mann stehen und hielt sich die schmerzende Seite, während er die Häuser musterte. Aller Farbe und des meisten Putzes beraubt standen nur noch nackte und meist windschiefe Ziegelwände, Ruinen bloß, Monumente der Vergänglichkeit, und starrten aus toten, leeren Fensterhöhlen zu ihm zurück. Gras und Buschwerk wuchs, wo einst herrschaftliche Equipagen gerollt waren. Und die spitzen Dächer waren restlos verschwunden, überwucherte Eingeweide offenbarend, abgetragen vom unerbittlichsten Zerstörer allen Seins.
Von der Zeit.
Fassungslos blickte der alte Mann zurück auf die sanften, aber kahlen Hänge der Erhebung, von der er eben heruntergelaufen war und der man einst den Namen Kyffhäuser gegeben hatte.
„Verdammte Scheiße!“, hub Seine Majestät, Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, dann an. „Mich dünkt, ich hab´ verpennt!“

Evas Spiel
von Christiane Gref

„Das darfst du nicht“, zischte Janos und zog heftig an Evas Fingern.
Sie ballte die Faust noch stärker. „Das geht dich überhaupt nichts an“, erwiderte sie und wollte sich an ihm vorbeischieben.
Ein schriller Pfiff unterbrach die beiden. Zwei Uniformierte mit strengen Mienen waren schon fast bei ihnen. „Gibt es ein Problem?“, fragte der eine barsch.
Janos und Eva schüttelten den Kopf und beeilten sich, wieder ordentlich in die Reihe der Wartenden zu treten.
„Es scheint mir aber doch so“, sagte der andere Mann in Uniform und ließ wachsam seinen Blick über Eva und vor allem ihre geschlossene Hand schweifen.
„Ja, sie hat ...“
Ein Stoß von Eva unterbrach Janos. „Ich habe versucht, mich vorzudrängeln“, sagte Eva leise und sah reuevoll zu Boden.
„Sie wissen, dass das nicht geht“, belehrte sie der Uniformierte und sah zu Janos. „Dasselbe gilt auch für Sie. Bleiben Sie in der Reihe.“ Die Wächter warfen ihnen noch einen zornigen Blick zu, dann gingen sie weiter.
„Das wirst du noch bereuen“, zischte Janos.
Der Zettel schien ein Loch in Evas Hand brennen zu wollen. Ich liebe dich, stand in unbeholfenen Buchstaben darauf. Die Nachricht stammte von Dominik. Es war nahezu unmöglich, auf Papier zu schreiben, denn alles Schriftliche wurde nur auf Tafeln festgehalten, die sich alle fünf Stunden selbst reinigten. Janos war rasend eifersüchtig. Fast wären Eva und er ein Paar geworden, aber sie hatte es sich kurz vor der Verkündung vor dem Amt für Ehe anders überlegt. Dominik war es schließlich gewesen, der ihr Herz im Sturm erobert hatte. Ihr mutiger Dominik, systemfeindlich und waghalsig. Janos hingegen war ein Angepasster, ein Konformist. Und er suchte ständig Evas Nähe, was ihm nicht schwerfiel, denn er wohnte im selben Quadranten, arbeitete in derselben Fabrik. Dummerweise hatte er hinter ihr gestanden, als sie den winzigen Papierball entfaltet und die Botschaft gelesen hatte. In der Tat musste sie nun Konsequenzen fürchten.
Janos und Eva erreichten den Abgabepunkt. Sie nutzte die Ablenkung, als die beiden Kleiderwächter ihr Augenmerk auf Janos richteten. Sie gähnte herzhaft und schob sich die Nachricht dabei in den Mund. Mit der Zunge drückte sie das Papier zur Seite, damit sie so gut wie möglich frei reden konnte, falls sie etwas gefragt wurde. Routiniert zog sie den Reißverschluss ihres Overalls herunter und stieg aus dem Kleidungsstück. Dann entledigte sie sich ihrer Unterwäsche. Sie sortierte die Sachen in die verschiedenen Abgabecontainer und nahm sich das geschnürte Bündel Freizeitkleidung vom Tisch, das ihre Identifikationsnummer trug. Der Mann hinter der Ausgabe hakte sie auf einer Liste ab. Eva stieg in die Kleidung, die es für alle nur in einer Größe gab, krempelte wie immer die viel zu langen Hosenbeine nach oben und zog die Ärmel des sackförmigen Pullovers ein Stück hoch. Janos lauerte ihr schon wieder auf.
„Was gibt es denn noch?“
„Ich werde nichts verraten, wenn du mit Dominik Schluss machst“, sagte er leise.
„Das wirst du auch so nicht. Dafür bist du viel zu feige. Du müsstest genauso durch das Verhör, bis deine Unschuld bewiesen ist. Was würdest du tun, wenn ich behauptete, die Nachricht stamme von dir, hä?“
„Die finden raus, von wem sie ist.“
„Träum weiter“, sagte Eva und ließ ihn stehen. Sie eilte zu einer Gruppe von Frauen, die verhalten schwatzend in Richtung ihres Heimatquadranten schlenderten. Jeder Bürger von Stadt Nr. 423 wurde stets in demselben Quadranten untergebracht. Das hielt die Verwaltungskosten im Rahmen. Jeder Quadrant beherbergte zehntausend Personen. Hatte man das achtzehnte Lebensjahr erreicht, bekam man ein Einzelzimmer ohne Aufsicht zugewiesen. Es sei denn, man war als straffällig eingestuft, dann wurde das Zimmer überwacht. Straffällige wurden immer im selben Gebäude untergebracht; alle Räume waren mit gewissen Extras ausgestattet. Eva schauderte, wenn sie daran dachte, wie rüde jeden Abend nach der Arbeit die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Die Gefangenen wurden mit Schlägen und Tritten in ihre Unterkünfte getrieben; die Freien versuchten, die Schreie der Geschlagenen zu ignorieren und möglichst unauffällig nach Hause zu gehen.
Erneut stellte sich Eva in einer Reihe an. Sie zog das rechte Handgelenk mit dem implantierten Chip über den Scanner und las die Gebäude- und Zimmernummer, in dem sie für die Nacht untergebracht war, auf dem Display ab. Sie jubelte innerlich. Es war das Gebäude, das an den nächsten Quadranten angrenzte, und in diesem wohnte Dominik. Sie beschleunigte ihre Schritte gerade so weit, dass sie lediglich den Eindruck erweckte, dringend auf die Toilette zu müssen. Bis zur Sperrstunde waren es noch drei Stunden. Schon als sie sich dem Gebäude näherte, sah sie zum Nachbarquadranten hinüber. Sie entdeckte einen Mann aus Dominiks Arbeitsgruppe und merkte sich, in welches Gebäude er ging.
Heute Abend würde Eva sich mehr als nur ein wenig strafbar machen.

*

Sie betrat ihre Unterkunft für diese Nacht. Im Bad fand sie, wie in jedem Zimmer und jeden Abend eine eingeschweißte Zahnbürste und zwei Handtücher – ein großes und ein kleines. Eva zog sich die Freizeitkleidung aus und stieg unter die Dusche. Aus dem Seifenspender kam die vorgegebene Menge der milchfarbenen Flüssigkeit, die Eva behutsam auf ihrem Handteller balancierte. Einen Teil verrieb sie in ihrem kurzen Haar, den anderen auf der Haut. Nachdem sie die vorgeschriebene Körperpflege für heute hinter sich gebracht hatte, blieben ihr immer noch schätzungsweise zwei Stunden, bis die Sperrstunde ausgerufen wurde. Auf dem Gang wurde Gepolter laut. Zwei Arbeiter stritten sich lautstark. Eva legte sich auf das Bett, bohrte sich die Finger in die Ohren, um in Ruhe nachdenken zu können. Im Kopf arbeitete sie den Weg aus, der sie zu Dominik bringen würde. An zwei Patrouillen musste sie ungeschoren vorbeikommen. Das nächste Risiko war der Besuch des Gebäudes, in dem der Kollege von Dominik untergebracht war. Was, wenn er sie verriet? Seit das neue Bonusprogramm für Denunzianten eingeführt worden war, gab es binnen eines Monats dreimal so viele Anzeigen wie vorher. Eva fragte sich, wie viele davon berechtigt waren. Ob es überhaupt notwendig war, seine Mitmenschen anzuzeigen. Dominik hatte ihr die Augen geöffnet. Sie begann das System, das sie jahrelang nie angezweifelt hatte, in Frage zu stellen.
Plötzlich wurde ihre Tür aufgerissen und ein Angehöriger der Ordnungspolizei stiefelte in den Raum. Eva sprang vom Bett auf und stand stramm. Der Uniformierte musterte sie von Kopf bis Fuß, umrundete sie einmal, quälend langsam. Eva machte sich im Geist schon auf einen Tritt in die Kniekehlen gefasst und verlagerte entsprechend ihr Gewicht, dass der Sturz nicht so schlimm wurde. Doch nichts geschah. Vorerst zumindest.

*

„Haben Sie etwas von dem Streit vor ihrer Tür mitbekommen?“
Verdammt, war das eine Fangfrage oder wäre es besser, alles zu leugnen? Eva schluckte. Der Schlagstock des Uniformierten sauste haarscharf an ihren Fußzehen vorbei und donnerte auf den Boden. „Antworten Sie.“
„Ich ... stand unter der Dusche und habe meine Körperpflege absolviert. Von einem Streit weiß ich nichts.“
Der Ordnungshüter blickte sie scharf an. „Wann war das?“
„Da es verboten ist, Gegenstände zu benutzen, die die Zeit oder das Datum angeben, kann ich Ihre Frage leider nicht beantworten.“
Irrte sie sich oder sah der Uniformierte etwas enttäuscht aus? Er kratzte sich an der Nase und fing wieder von vorne an: „Sie haben also nichts gehört?“
„Nein.“
„Seltsam, der Streit ist nicht lange her, aber ihre Haare sind trocken. Das sagt mir entweder, dass Sie zum Zeitpunkt des Streits nicht geduscht haben, oder aber, dass Sie ihr Körperpflegeprogramm nachlässig absolviert haben. Beide Möglichkeiten ziehen eine Strafe nach sich.“
Eva nickte, sie kannte die Regeln. Es war ihr egal, solange die Strafe nur morgen stattfand. Heute Abend wollte sie zu Dominik. Sie schwieg weiter.
„Allerdings“, fuhr der Polizist fort, „könnten wir uns auf ein Strafmaß einigen.“ Er strich mit seinem Lederhandschuh über Evas Wange.
Sie nickte erneut, zog widerstandslos den Pullover aus und dann die viel zu große Hose.

*

Scheinbar war der Polizist zufrieden mit Evas Wiedergutmachung. Bevor er ging, versprach er ihr, den Verstoß gegen die Vorschriften nicht zu ahnden. Eva versuchte, einen dankbaren Blick aufzusetzen, obwohl in ihrem brennenden Leib der Hass brodelte. Sie lief Runde um Runde in dem kleinen Zimmer, bis endlich das erlösende Signal zur Sperrstunde ertönte. Eva zwang sich, eine Weile verstreichen zu lassen, dann öffnete sie behutsam die Tür. Sie wartete, bis das rote Auge der Kamera in die andere Richtung zeigte. Geduckt eilte sie über den Flur ins Treppenhaus. Sie gelangte ungesehen ins Foyer. Vor der Tür hatten zwei Soldaten Wache bezogen. Eva wusste jedoch, dass der Wäschewagen die Container mit Schmutzwäsche während der Sperrzeit holte. Sie ging wieder ein Stockwerk nach oben und öffnete die Klappe zum Schmutzwäscheschacht. Erwartungsgemäß landete sie auf einem Berg benutzter Handtücher. Sie wühlte sich tief zwischen den klammen Stoff und wartete mit klopfendem Herzen. Wenig später surrte es, und der Transportbot holte den Container. Eva wurde kräftig durchgerüttelt, dann krachte es, als ihr Container mit einem anderen zusammenstieß. Sie wartete ein paar Atemzüge lang, dann schob sie behutsam Handtuch für Handtuch zur Seite, um freie Sicht zu haben. Sie sah gerade noch, wie der Transportbot wieder im Gebäude verschwand, um den nächsten Behälter zu holen. Die Aufmerksamkeit der Soldaten war auf das Innere des Gebäudes gerichtet. Die beiden Männer standen etwa fünf Meter entfernt.
Eva stieg aus dem Metallbehälter, ohne ein verräterisches Geräusch zu machen. Unbehelligt gelangte sie in den Nachbarquadranten. Dort bezog sie Position im Schatten einer Hauswand und sah zum Eingang hinüber. Die Wachposten, die dort normalerweise stehen mussten, waren nirgendwo zu sehen. Eva fragte sich nicht lange nach Gründen, sondern beeilte sich, ins Haus zu kommen. Sie ging zwei Stockwerke hoch und klopfte an die erste Tür.
„Ja?“
Die Stimme gehörte einer Frau. Eva atmete tief durch und ging hinein. Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt, hatte eisgraue Haare und saß kerzengerade auf dem Bett.
„Entschuldigen Sie die Störung, aber ich ...“ Eva versagte die Stimme. Was wollte sie der Frau sagen, von der sie nicht einmal wusste, ob sie nicht umgehend Kontakt zur Ordnungspolizei aufnehmen und sie anzeigen würde? Eva suchte im Gesicht der Frau nach Anzeichen von Misstrauen oder Angst. Allerdings sah sie nur Neugier in den nahezu faltenlosen Zügen. „Ich suche jemanden.“
„Aber nicht mich, oder?“ Die Frau schmunzelte.
„Ehrlich gesagt, nein. Er heißt Dominik und müsste in der gleichen Gruppe wie Sie arbeiten.“
„Ja, ja, die Liebe“, sagte die Frau. „Leider kenne ich keinen Mann dieses Namens.“
„Nun, er ist recht groß.“ Evas Handkante lag etwa eine Haupteslänge über ihrem Kopf waagrecht in der Luft. „Und er hat tiefbraune Augen mit winzigen Fältchen in den Winkeln. Von seinem vorderen Schneidezahn fehlt eine Ecke und er hat eine Narbe auf der Wange. Etwa hier.“ Eva deutete in ihrem Gesicht auf die entsprechende Stelle.
„Der? Ja, den kenne ich. Er müsste im vierten Stock sein, wenn mich nicht alles täuscht.“
„Er ist in diesem Gebäude?“ Eva wagte kaum, an ihr Glück zu glauben.
„Viel Glück“, sagte die Frau.

*

Eva wäre am liebsten in die vierte Etage geflogen, aber sie zwang sich zur Ruhe und umschlich auch hier die allgegenwärtige Überwachungskamera. Mit drei Bewohnern dieses Stockwerks musste sie sprechen, dann endlich wusste jemand, in welchem Raum Dominik war.
Eva pochte mit dem Fingerknöchel zart an die Tür. Sie hatte Geräusche im Zimmer gehört; das hieß, Dominik war wach. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Sie öffnete die Tür und erstarrte. Auf seinem Bett tummelten sich zwei Personen. Eine davon war Dominik, die andere war blond und eindeutig weiblich, wie Eva schnell feststellte. Fassungslos starrte sie mit offenem Mund auf diesen Alptraum.
„Raus!“, spie ihr die blonde Frau entgegen und machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihre Blöße zu bedecken.
„Das ist Eva, Schatz. Das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe.“
„Ach, die Eva?“, vergewisserte sich die Blonde.
„Genau“, lachte Dominik.
„Janos hat recht. Du bist schäbig und ein ganz mieses Arschloch dazu!“, schrie Eva. Es kümmerte sie nicht, ob jemand es hörte und die Polizisten auf den Plan rief.
„Pscht“, machte Dominik erschrocken. „Die Poliz...“
„Das ist mir scheißegal!“, rief Eva.
Plötzlich beeilte sich die Blonde, möglichst schnell zu verschwinden. Sie raffte ihre Kleidung an sich und drückte sich an Eva vorbei aus dem Zimmer.
„Was soll das?“, fragte Eva. Ihre Stimme war nur noch tonloses Flüstern.
„Es war ein Spiel. Ich habe mit Marie gewettet, ob du anbeißt oder nicht. Und ich habe gewonnen.“
„Und deine ganzen Pläne gegen das System?“
„Alle erstunken und erlogen.“
„Du hast mit mir geschlafen, verdammt noch mal!“
„Marie hat kein Problem damit, ich habe es ihr erzählt.“
Evas Herz begann zu rasen, schneller und immer schneller.

*

Das Bild vor ihr flimmerte plötzlich, dann wurde alles schwarz. Eva riss sich mit einem Ruck die Sensoren von Gesicht und Hals und stöpselte das Kabel aus, das ihre Wirbelsäule mit der Kommunikationseinheit verband. Erleichtert seufzte sie auf, ihr Atem beruhigte sich zusehends. Es war nur ein Spiel gewesen, ihr Spiel. Allein zu sein war doch nicht so übel. Leider musste Eva ganze Welten mit widerwärtigen Menschen erfinden, um ihre mentale Gesundheit zurückzuerlangen, wenn die Einsamkeit sie wie eine Flutwelle verschlang.
Sie ging an das große Panoramafenster und sah auf die seit fünf Jahren menschenleere Stadt herab. Die Menschheit hatte sich gegenseitig ausgelöscht und Eva war die Einzige, die überlebt hatte. Sie strich über das Foto, das sie und ihre Kollegen von der NASA zeigte. Als die Menschen ihren verheerenden Krieg geführt hatten, befand sich die Crew der Raumstation über zweihunderttausend Kilometer von der Erde entfernt. So lange es ging, hatten sie in der Station ausgeharrt, bis der Proviant zur Neige gegangen war. Dann mussten sie notgedrungen auf die Erde zurückkehren. Anfangs hatten sie noch zu fünft in der riesigen Stadt gelebt, schließlich war einer nach dem anderen an den Folgen der Strahlung gestorben. Nur Eva besaß eine natürliche Immunität.

*

Ihr Hund Skip, das ehemalige Maskottchen der Raumstation, drückte sich an sie.
„Ja, mein Guter. Ich habe schon wieder viel zu lange gespielt. Lass uns eine Runde Gassi gehen.“

Ich liebe dich ...
von Tom Cohel

Der Metallvorsprung hinterließ eine Kerbe in seinen Chitinpanzer, als der Insektoid sich durch die Öffnung quetschte und weiter in den von Rost zerfressenen Korridor vordrang.
Prax wischte sich den Batzen Schleim von seinem Thorax, der ihm vor Anstrengung aus der Mundhöhle getropft war.
„Ich bin ein Vapor und kein Wurm. Was mache ich in diesem Loch! Einfach hirnlos ...“
Erschrocken klappte Prax seine Mundwerkzeuge gegeneinander, doch das Gesagte konnte er nicht mehr ungeschehen machen. Schon vibrierte das Sensor-Implantat in seinem Kopf.
„Was hast du gesagt?“ Krons krächzende Stimme hallte in Prax´ Schädel. „Erledige deinen verdammten Job und schweig – sonst mache ich dich hirnlos!“
Es platschte, als Prax mit seinem Vorderbein in eine schmierige Lache trat. Fluchend befreite er sein verhaktes Bein aus den Überresten eines Rohres. Ein Duftcocktail aus Chemikalien und Exkrementen stieg ihm in die Duftdrüsen.
„Dreck, Rost und Kakerlaken, mehr gibt’s hier nicht, Kron.“
Jetzt war es eh egal, dachte Prax. „Ich finde es nicht richtig, mir den Aufgabenbereich einer Larve zu geben. Ich bin ein erstklassiger Sucher, habe dem SEVI-Programm stets gut gedient und für dich etliche Artefakte aufgespürt, Kron. Darum ...“
„Wir sehen uns nachher.“ Krons drohendes Zischeln verstummte. Der Kontakt brach ab.
Im selben Moment wurde Prax bewusst, dass er verspielt hatte. Er war mit seinem Schwarmführer einigermaßen zurechtgekommen, zumindest bevor er den WATSON in dem Schuttberg der Kantina-Ebene gefunden hatte. Die Forschergruppen von SEVI analysierten das Artefakt als „WATSON-Mikrowelle“. Die Funktion des Kastens hatten sie nicht herausgefunden, aber Prax war durch diesen Fund einige Stufen in der Rangliste der Sucherteams aufgestiegen. Man tuschelte über ihn und den WATSON selbst – nicht jedoch über Kron.
Prax steckte irgendwo im Untergrund, während der Rest von Krons Suchern drei Stockwerke über ihm gemütlich in den Hangarruinen des ehemaligen Raumhafens herumwühlte. Vor allem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2012
ISBN: 978-3-95500-897-0

Alle Rechte vorbehalten

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