Artefakte – Band 9
John Poulsen – Der Sohn der Wüste
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Der Sohn der Wüste
Prolog
Basurek stand im Hafen von Ur. Sein Blick glitt den Fluss hinab, der sich wie ein silbernes Band durch die Wüste schlängelte. Einer Schlange gleich schlug der Euphrat in der Ferne immer wieder Kurven, was dazu führte, dass ein ganzer Landstrich ständig mit Wasser versorgt wurde und so trotz der sengenden Hitze dieser Region stets fruchtbar und grün war. Ur lag in diesem Bereich der Fruchtbarkeit, in einem Landstrich, der inmitten der Wüstenregionen Mesopotamiens einer einzigen langgezogenen Oase glich. Ohne den Euphrat wäre dauerhaftes Leben an dieser Stelle gar nicht möglich gewesen, doch so gestattete der fruchtbare Boden den Bauern, die außerhalb der Stadt ihre Felder bestellten, einen Ertrag von bis zu drei Ernten im Jahr. In manchen Jahren betrug der Ertrag das Achtzigfache des Saatgutes, welches sie aufgewandt hatten. Die Feldfrüchte und das Fleisch der Tiere, die auf den Höfen vor der Stadt gezüchtet und geschlachtet wurden, verkauften die Bauern täglich auf dem Bazar in Ur. Der Markt war ein Ort des Treffens, der tausend unterschiedlichen Gerüche und der verschiedensten Spezereien. Nicht nur einheimische Waren wurden hier feilgeboten. Auch Dinge, die von weit her kamen konnte man auf den Märkten der Metropole erstehen. Feinstes Tuch aus Babylon. Zedernholz aus dem Libanon. Waffen aus Ninive. Steinfiguren aus dem entfernten Ägypten. Gewürze aus Indien und allerhand andere Kostbarkeiten waren hier zu erwerben.
Doch Basurek kümmerte sich heute nicht um das Treiben auf den Märkten. Er war schnellen Schrittes durch das Gewirr von Leibern geeilt, in der Hoffnung, den Hafen rechtzeitig zu erreichen. Und es war ihm tatsächlich gelungen. Noch hatte das kleine ägyptische Frachtschiff, welches er erwartete, nicht im Hafen festgemacht. Etwas mehr als ein Jahr war es her, dass Basurek Neferati hatte gehen lassen müssen. Ihre Trauerzeit war nun beendet, und endlich war die lang ersehnte Botschaft eingetroffen, dass sie sich auf dem Weg nach Ur befand. Wie würden sie sich begrüßen? Würde das Gefühl, sie wiederzusehen, so sein, wie er es sich schon tausendmal ausgemalt hatte?
In Gedanken versunken stand Basurek am Pier und beobachtete die Schiffe, welche den Fluss entlangfuhren. Nicht alle Kähne machten hier halt. Doch da Ur ein wichtiger Handelsknotenpunkt war und noch dazu seit einiger Zeit unabhängig vom Großreich Utuchegals, war die Stadt ein beliebter Anlaufpunkt für den Umschlag von allerhand Waren. Der Zoll war niedrig und die Lagergebühren auch nicht viel höher. So hatte die Stadt in den letzten Monaten einen wahren Aufschwung erlebt, während die meisten anderen Handelszentren in der unmittelbaren Umgebung Urs deutliche Verluste erlitten hatten.
Endlich konnte Basurek das Schiff sehen, welches er erwartete. Und aus der Ferne war ihm, als könne er bereits die Gestalt seiner Geliebten ausmachen. Neferati stand aufrecht im Bug des Schiffes und schaute den Fluss hinauf. Ihr Blick suchte den Hafen ab und ihr Gesicht hellte sich merklich auf, als sie Basurek wahrnahm.
Endlich legte das Schiff an. Die Planke war noch nicht ganz an Land, da war Neferati bereits über sie hinweg. Stürmisch warf sie sich in die Arme ihres Geliebten, den sie so lange vermisst hatte. Nie gekannte Glücksgefühle machten sich in Basurek breit. Ja, mit dieser Freu wollte er alt werden. Er drückte sie fest an sich und flüsterte allerlei Liebkosungen in ihr Ohr. Irritiert bemerkte er, dass etwas Spitzes in seinen Rücken stach. Als die kalte Klinge von hinten sein Herz durchbohrte, erstarrte Basurek. Unglaube stand in seinen Augen. Das höhnische Grinsen auf den Zügen der Geliebten vor Augen, brach Basurek auf der Stelle zusammen.
Schweißgebadet schreckte der Hauptmann der Stadtwache aus seinem Traum hoch.
Kapitel 1
Es war das dritte Mal in dieser Woche, dass er träumte, von Neferati hinterrücks ermordet zu werden. Was hatten diese Träume zu bedeuten? Betrog die Geliebte ihn möglicherweise im fernen Ägypten, oder war die Antwort doch nicht so einfach? Langsam erhob Basurek sich von seinem Nachtlager und machte sich mit etwas Wasser aus einer Schale, die auf einem Tisch in der Nähe seines Bettes stand, frisch. Dann legte er seinen Schurz um und warf eine leichte Tunika über. Seit nunmehr vier Monaten wohnte er in dem Haus, welches einstmals Neferati und Nekru beherbergt hatte. Sie hatte ihn gebeten hier einzuziehen, da er ja auch ihren Besitz und ihre Handelsgeschäfte verwalten sollte. Und er hatte eingewilligt, in dem Glauben, ihr so etwas näher sein zu können. Doch nach den ersten Tagen hatte sich eine gewisse Ernüchterung breitgemacht. Alles in diesem Haus trug die Handschrift Nekrus. Die Diener beobachteten ihn misstrauisch, auch wenn sie stets freundlich zu ihm waren. Doch Basurek wusste, dass sie sich nicht sicher waren, ob sie in ihm ihren neuen Herrn oder einfach nur einen vorübergehenden Verwalter sehen sollten. Und wie konnte er es ihnen auch verübeln? Nekru war ein guter Herr gewesen. Auch wenn Basurek keinen der Diener je schlecht behandelte, das Andenken an Nekru würde er nicht verdrängen können – und das wollte er auch gar nicht.
Nachdem Basurek sich noch einmal gestreckt und herzhaft gegähnt hatte, verließ er das Schlafgemach, welches im Obergeschoss des Hauses lag. Über eine Holzbalustrade gelangte er zu einer ebenso hölzernen Treppe, welche er benutzte, um in den großen Innenhof des Hauses zu kommen. Die Sonne war bereits aufgegangen, und so waren der Hof und der angrenzende Säulengang, welcher den viereckigen Innenhof komplett umschloss, bereits hell erleuchtet. Die rötlichen Lehmziegel, aus denen das Haus, wie beinahe alle anderen Gebäude Urs auch, erbaut war, leuchteten in der Morgensonne.
Basurek durchschritt den Hof und machte kurz an dem Brunnen in der Mitte des Hofes halt. Hier ließ er sich für einen Moment auf der steinernen Bank nieder, die rund um den Brunnen auf dem Rand des Wasserbeckens angebracht war. Er genoss das leise Plätschern des kostbaren Nasses, während er darüber nachdachte, was für Aufgaben heute auf ihn warteten. So in Gedanken versunken, nahm er plötzlich einen angenehmen Geruch war. Leises Knurren aus seiner Magengegend machte ihn darauf aufmerksam, dass er Hunger hatte. Aus der Richtung, in welcher die Küche sich befand, roch es bereits angenehm nach frisch gebackenem Brot. Basurek erhob sich wieder von der steinerneren Bank und machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Vor wenigen Monaten noch hatte er in diesem Raum ermittelt. Viel hatte sich seitdem hier nicht verändert. Natürlich war Nekrus Blut entfernt worden, ebenso wie seine Leiche. Aber die gleichen Kohlebecken standen noch hier, dieselben Vasen dekorierten den Raum, und Basurek arbeitete an eben jenem Tisch, an dem zuvor Nekru seine Korrespondenz erledigt hatte.
Im Arbeitszimmer angekommen, ließ Basurek sich auf dem Schemel hinter dem schweren Schreibtisch nieder. Der Tisch war aus Zedernholz gefertigt, welches extra zu diesem Zweck aus dem Libanon herbeigeschafft worden war. Zedernholz aus dem Libanon galt als eines der edelsten Verarbeitungsmaterialien, die es gab. Nekru hatte immer viel Wert auf solche Äußerlichkeiten gelegt. Basurek hätte auch an einem normalen Tisch arbeiten können. Aber nun stand dieses Prunkstück nun einmal hier. Also wäre es eine Schande gewesen, es nicht zu nutzen.
Basurek brauchte nicht lange zu warten. Schon nach wenigen Augenblicken betrat ein Diener den Raum, verbeugte sich höflich und stellte dann ein kleines Tablett mit einem Becher, einem Krug mit frischem Wasser, einem kleinen Laib noch dampfenden Brotes und einigen Datteln vor Basurek auf dem Tisch ab. Basurek bedankte sich mit einem Nicken, woraufhin der Diener sich kurz verneigte und schweigend den Raum wieder verließ. Der junge Hauptmann hatte erkennen müssen, dass es wenig brachte, die Diener in Gespräche verwickeln zu wollen. Sie verrichteten ihren Dienst, wie es sich gehörte, aber sie waren ihm gegenüber stets distanziert.
Langsam verzehrte Basurek sein Frühstück, während er die ersten Schriftrollen durchsah, die sich schon in den frühen Morgenstunden auf seinem Schreibtisch eingefunden hatten. Der Traum der vergangenen Nacht wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ein Traum, der mehrmals wiederkehrte, hatte immer eine Bedeutung. Er würde noch heute zu einer Traumdeuterin gehen, um sich den Traum erklären zu lassen. Vielleicht sollte er vorbereitet sein, wenn das nächste Mal eine Nachricht aus Ägypten kam.
Dann schob er die Gedanken an Neferati und die Angst, sie könne ihn möglicherweise betrügen oder gar nie mehr wiederkommen, endgültig beiseite und widmete sich der Arbeit, die ironischerweise eben die Geliebte seines Herzens ihm aufgetragen hatte – verwaltete er doch immerhin ihren ganzen Besitz bis auf ihre kleine Handelsniederlassung in Ägypten.
Basurek studierte das erste Schreiben. Dabei handelte es sich um den Bericht einer Karawane, die gestern Abend aus Babylon eingetroffen war. Der Handel mit Babylon erwies sich im Moment als wenig problematisch. Die freie Stadt betrieb gern Handel mit Ur, da hier der Zoll und die anderen Abgaben niedrig waren. Auch die Qualität der Waren, die man in Ur herstellte oder erwerben konnte, war weithin gerühmt. Anders war es dagegen mit Ninive. Hier war der Arm Utuchegals zu spüren, und die Karawane, die Basurek ausgesandt hatte, um einige Geschäfte zu tätigen, hatte sich nicht zu erkennen geben dürfen. Wäre der Stadtwache von Ninive klar gewesen, dass Händler aus Ur in der Stadt weilten, hätte sie die Männer gefangen genommen und alle Waren beschlagnahmt. Doch auch diese Karawane befand sich nunmehr auf dem Heimweg und hatte ihre schwierige Aufgabe gut gelöst. Davon sprach die zweite Schriftrolle, die Basurek aufmerksam studierte.
Basurek wollte sich gerade einer dritten Rolle zuwenden, die sich mit dem Viehbestand eines Hofes, etwas außerhalb von Ur, befasste, der ebenfalls zu den Besitztümern gehörte, welche er zu verwalten hatte, als ein Diener den Raum betrat. Fragend sah Basurek von der Papyrusrolle auf. Es war eigenartig. In Ur wurden meist Tontafeln benutzt, um zu schreiben. Listen und ähnliches, was dauerhaft erhalten bleiben sollte, wurde dann später in den Ton eingebrannt. Wurde ein Text nur geschrieben, um sich selbst an etwas zu erinnern, oder war eine Notiz nicht weiter wichtig, konnte man sie auf dem Ton problemlos wieder verwischen und die Tafel ein weiteres Mal beschreiben. Doch schon als Basurek damals in dem Mord an Nekru und seinem Handelspartner ermittelt hatte, war ihm aufgefallen, dass in diesem Haushalt überwiegend auf Papyrus geschrieben wurde. Dieser Stoff wurde in der Regel in Ägypten verwendet, doch Nekru hatte eine große Vorliebe für alles Ägyptische an den Tag gelegt, was sich nicht zuletzt auch dadurch zeigte, dass er eine Ägypterin geheiratet hatte.
Aber Basureks Gedanken schweiften schon wieder ab. Er hatte dem Diener nur mit einem Ohr zugehört und war sich nun nicht ganz sicher, wen der junge Bedienstete ihm da gerade gemeldet hatte. Doch da er heute niemanden zu dieser Stunde erwartete, musste es jemand Wichtiges sein. Also bat er den Jungen, den Gast hereinzulassen.
Einen Moment später merkte Basurek, dass er wirklich nicht genau zugehört hatte. Sein Arbeitszimmer wurde nicht von einem Gast betreten, sondern gleich von drei Männern. Nur einen davon kannte Basurek: Einen jungen Karawanenführer, der ihm bereits zweimal gute Dienste geleistet hatte. Der Mann namens Uhemad stellte ihm die beiden Kaufleute Nimri und Schebach vor. Basurek stand auf, umrundete den schweren Tisch und begrüßte die drei Männer, wie es sich gehörte. Anschließend ließen sie sich in einer kleinen Sitzecke nieder. Basurek hieß den jungen Diener, der in der Tür gewartet hatte, etwas zu trinken und ein wenig Brot zu holen. Dann waren die vier Männer wieder allein.
Zuerst brachte jeder der Männer die üblichen Höflichkeitsfloskeln vor. Doch Uhemad kam relativ schnell zur Sache.
„Nun, mein Herr Basurek. Die letzte Reise nach Ninive war erfolgreich, auch wenn sie sehr gefährlich war.“
Basurek sah den jungen Mann von der Seite an. Er wusste, dass eine Reise nach Ninive in der jetzigen Zeit nichts Ungefährliches war, darauf brauchte man ihn nicht aufmerksam machen. Das war auch Uhemad klar. Also bezweckte er irgendetwas mit dieser Feststellung. Basurek konnte sich nicht vorstellen, dass Uhemad nachträglich um einen höheren Lohn feilschen wollte. Dazu hätte er diese beiden Händler nicht mitgebracht. Lächelnd sagte er deshalb:
„Um die Gefahr wussten wir schon vor der Reise. Doch da du meine Karawane geführt hast, konnte ich sicher sein, dass die Reise ein Erfolg werden würde.“
Der junge Karawanenführer errötete sichtlich. Nach einem kurzen Blick zu Boden sah er seinen Auftraggeber wieder direkt an, und das Lächeln in seinen Augen zeigte, dass er sich über das offene Kompliment freute.
„Nun, mein Herr, wie du weißt, kann man nie vorsichtig genug sein, wenn es um die Reise in feindliches Gebiet geht.“
Basurek nickte. Ihm war noch immer nicht ganz klar, worauf der junge Mann hinauswollte. Aber er mochte den Jungen. Wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum er nicht langsam die Geduld verlor. Die beiden Händler saßen noch immer schweigend da und warteten darauf, dass Uhemad endlich auf den Grund ihres Hierseins zu sprechen kam.
„Diese beiden Männer hatten bis vor einiger Zeit selbst rege Handelsbeziehungen nach Ninive. Erst als die Differenzen mit dem Herrscher des Großreiches auftraten, brachen diese ab.“
Basurek musste grinsen. Differenzen mit dem Herrscher des Großreiches. Eine nette Umschreibung dafür, dass Urnammu seinem König Utuchegal die Unabhängigkeit Urs erklärt und diese dadurch bekräftigt hatte, dass er alle Beamten des Großkönigs, die in Ur wohnten, köpfen ließ und diese Köpfe an den Königshof schickte.
„Viele Handelsbeziehungen brachen damals ab. Was genau kann ich in dieser Sache tun?“ Möglicherweise konnte Basurek aus der Situation der beiden Händler Gewinn schlagen. Auch wenn er erst seit Kurzem in der Lage eines Kaufmannes war, hatte er sein Geschäft bereits recht gut verinnerlicht.
Jetzt endlich schaltete sich auch einer der beiden Fremden ein. Schebach sah Basurek an und sagte freundlich: „Nun, Uhemad sagte uns, dass du regelmäßig Karawanen nach Ninive entsendest. Außerdem berichtete er uns, dass diese grundsätzlich ihr Ziel erreichen und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2012
ISBN: 978-3-95500-648-8
Alle Rechte vorbehalten