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Artefakte – Band 8
Harald Jacobsen – Der Wanderer
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Mark Heywinkel und Andrä Martyna
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de


Das Wetter hatte sich rapide verschlechtert, und die Männer in den drei Langbooten kämpften mit den Elementen in der frühen Abenddämmerung. Ihre Boote standen dicht unter der Küste, nur wenige Seemeilen von der Schleimündung entfernt. Seit Stunden hatte sich die Wetterlage stark verschlechtert, jetzt tobte ein Frühjahrssturm über der Ostsee.
Dabei hatte der März im Jahre 812 n. Chr. ungewöhnlich freundlich begonnen, und so wagte Sven Brodersson eine frühe Fahrt über die Ostsee. Mit drei Knorrschiffen war Sven aufgebrochen, hatte sich bewusst für diese wendigen und schnellen Boote entschieden. Je fünfundzwanzig Mann befanden sich an Bord; nur sehr erfahrene Seeleute und Krieger hatte Sven mitgenommen. Vor zwei Wochen waren die Männer zu der gefährlichen Fahrt über die Ostsee aufgebrochen. Sven hatte noch vor dem Winter einen Handel mit den Kaschuben organisiert und wollte ihn so früh wie möglich abschließen. Er wagte sich mit dieser Handelsreise in das Gebiet von Thorge Halversson, der wenig Verständnis in solchen Angelegenheit zeigte. Der Jarl aus Birka beanspruchte die östliche Seite der Ostsee für sich, zusammen mit den anderen Jarls aus Helgö.
„Wir müssen das Segel bald bergen, Sven“, riss die heisere Stimme von Knut ihn aus den Gedanken.
Sven warf einen Blick auf das quadratische Segel, das bereits heftig schlug. „Aegir hat heute wieder einmal Spaß an einem wilden Spiel mit uns“, erwiderte er.
Knut spuckte bei der Nennung des Meeresgottes unwirsch aus; ihm gefiel die Entwicklung offenbar nicht. „So sieht es aus, Sven. In einer Stunde erreichen wir die Schleimündung, dann haben wir es geschafft. Bin froh, wenn wir endlich in Haithabu ankommen.“
Sven spähte in den peitschenden Wind, der ihm den Regen schmerzhaft ins Gesicht schleuderte. Bisher hatten sie mit ihrer Reise großes Glück gehabt. Jedes Boot war prall gefüllt mit Waren, und sie hatten sich keinem Kampf zu stellen brauchen.
„Warte bis kurz vor der Schleimündung, bevor du das Segel bergen lässt“, wies er den überraschten Knut an.
Es war sehr gefährlich, und dennoch hatte Sven das unbestimmte Gefühl, dass sie sich beeilen mussten. Wer wusste schon, was Aegir sich an weiteren Späßen für die drei Boote ausgedacht hatte?
Knut bahnte sich seinen Weg zum Bug des Handelsbootes, würde von dort Ausschau halten. Sven wandte sich um und suchte die beiden anderen Boote. Sie befanden sich gerade noch in Sichtweite, stampften ebenfalls schwer durch die aufgewühlte See. Besonders das Schicksal des letzten Bootes mit den gelben und roten Quadraten im Segel beschäftigte Sven Brodersson. Es wurde von Lodin, dem älteren Sohn von Barne Eriksson befehligt. Lodin war ein hervorragender Krieger und besiegelte durch seine Teilnahme an dieser Handelsfahrt das neue Abkommen zwischen Sven und Barne.
Der Kaufmann Sven und der Kriegerfürst Barne wollten gemeinsam ihren Wohlstand sichern. Daher würde bei jeder Handelsfahrt wenigstens die Hälfte der Männer zu den Kriegern von Barne gehören. Bei besonderen Fahrten würde Barne selbst in einem der Drachenboote für die Sicherheit der Langboote sorgen. Abgesehen von den mittlerweile sehr widrigen Witterungsverhältnissen, schien auch bei den anderen Booten alles in bester Ordnung zu sein. Sven wollte sich gerade umdrehen, als sein Blick einen Schatten schräg hinter dem letzten Boot bemerkte.
„Was ist das denn? Knut!“
Sein Steuermann fuhr herum, der Blick ging zunächst zum Segel. Als er dort nichts erkennen konnte, sah er zu Sven.
„Lodins Boot!“, brüllte Sven und deutete nach hinten zum letzten Langboot.
Knut eilte zum Heck und spähte durch die Regenschleier. Andere Männer waren mittlerweile ebenfalls aufmerksam geworden und starrten angestrengt in die einsetzende Dunkelheit.
„Was ist das für ein Schatten hinter Lodins Boot?“, brüllte Sven aufgebracht.
Sosehr er sich bemühte, die eingeschränkte Sicht ließ seine Augen den Schatten mehr ahnen als wirklich sehen. Unruhe hatte ihn erfasst. Er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Ein Boot nähert sich an“, brüllte Knut, der angestrengt nach achtern Ausschau hielt.
Fassungslos mussten die Wikinger zusehen, wie ein unbekanntes Langboot mit voller Fahrt das Boot von Lodin rammte.
„Wagrier! Verdammt, die Piraten wollen Lodins Boot entern!“, donnerte Knut aufgebracht.
Er schoss herum und schrie Befehle, wollte die Fahrt aus dem Langboot nehmen. Die Männer waren erfahren genug, reagierten blitzschnell und leiteten trotz der hohen See sofort ein Wendemanöver ein. Auch das Langboot in der Mitte hatte bereits reagiert und versuchte verzweifelt, dem angegriffenen Boot zu Hilfe zu eilen. Sven stand mit vor Wut geballten Fäusten am Heck und verfolgte den zweiten Anlauf des unbekannten Angreifers.
„Ihr verfluchten Piraten! Das habt ihr euch ja verdammt gut ausgesucht“, knirschte er zwischen vor Wut zusammengepressten Zähnen hervor.
Das slawische Volk der Wagrier zählte zu den gefürchtetsten Piraten auf der Ostsee und scheute auch keine harten Auseinandersetzungen mit Wikingerbooten. Nur den starken Drachenbooten wichen sie aus, aber mit einer Ostseeknorr nahmen sie es jederzeit auf. Besonders mit Waren voll beladene Boote stellten eine leichte Beute dar. Mit rund fünfzehn Tonnen Last verloren die ansonsten sehr schnittigen Handelsschiffe einen großen Teil ihrer Wendigkeit. Bei den extremen Witterungsbedingungen an diesem Abend hatten die Piraten zusätzlich leichtes Spiel.
„Wir schaffen es nicht rechtzeitig. Die Wagrier überlaufen Lodins Boot einfach!“, brüllte Knut erbittert.
Jeder Mann an Bord erkannte, dass sie niemals rechtzeitig bei Lodin und dessen Männern ankommen würden. Hilflos mussten sie zusehen, wie das Langboot in die Tiefe gerammt wurde. Nur zwei harte Anläufe hatte das unbekannte Boot dafür benötigt. Dabei hatte es das Wikingerboot unter Wasser gedrückt, so dass dieses zu viel Wasser übernahm. Beim zweiten gnadenlosen Anlauf versetzte es dem Langboot den Todesstoß, lief dann einfach weiter hinaus in die vom Sturm gepeitschte Abenddämmerung.
„Setzt das Segel und folgt dem Hundesohn!“, donnerte Knut mit vor Wut heiserer Stimme.
„Nein! Wir helfen Lodin und den anderen!“, brüllte Sven dazwischen und veranlasste die Männer, das eingeleitete Manöver abzubrechen.
Knut starrte den Händler einen Moment verwirrt an, doch dann nickte er verstehend. Gleich auf der ersten Fahrt wurde der Sohn des neuen Partners angegriffen, und eine sinnvolle Verfolgung der Wagrier war sowieso nicht möglich. Sie erreichten kurz nach dem anderen Langboot die Stelle, an der Lodins Boot gerammt worden war. Es schwammen nur einige Säcke und Kästen in der aufgewühlten See. Dann entdeckten sie zwei bleiche Gesichter zwischen den Wellenkämmen und ruderten verbissen dorthin. Sie zogen einen toten und einen schwer verletzten Mann aus Lodins Gefolge aus dem Wasser.
„Was haben die Wagrier mit diesem Manöver bezweckt? Das ergibt doch keinen Sinn, einfach das Boot zu versenken“, fragte Knut unwillig den Kopf schüttelnd.
„Keine Wagrier, Sven. Das waren Männer aus Reric. Ich habe das Wappen erkannt“, keuchte der schwer verletzte Mann völlig überraschend. Er hatte die Augen urplötzlich aufgeschlagen und stieß die Worte aus, die alle Männer im Boot zusammenzucken ließen.
„Ein Boot aus Reric? Hier bei uns?“, fragte einer der Männer ungläubig.
Es war keine vier Jahre her, dass die Wikinger diese Handelsniederlassung an der Ostseeküste überfallen und vernichtet hatten. Die überlebenden Kaufleute hatten sie nach Haithabu verschleppt und dort neu angesiedelt. Mittlerweile hatten diese Kaufleute sich weitgehend in die Gemeinschaft integriert. Kein Wunder, dass das Auftauchen eines Langbootes aus Reric den Männern unwahrscheinlich erschien.
„Sverre war beim Überfall dabei. Er kennt die Wappen der Boote aus Reric. Wenn er sagt, dass es ein Boot aus Reric war, dann stimmt es auch“, stellte Sven wütend fest.
Es war nicht die erste Begegnung dieser Art, nur hatten sich die überlebenden Kämpfer der geschliffenen Siedlung bisher nicht so weit in die Nähe der großen Niederlassung der Wikinger getraut. Fast bereute Sven es jetzt, dass er eine Verfolgung der Angreifer untersagt hatte.
Sie fuhren die Schlei hinauf und legten eine Stunde später in Haithabu an. Ihre Ankunft wurde frühzeitig von den Wachen auf dem Schutzwall bemerkt, und so warteten viele Menschen am Anleger. Sven musste nicht lange suchen. Barne und dessen jüngerer Sohn Gunvald standen in der vordersten Reihe. Beide Männer starrten zu den Booten, suchten den Blick von Sven. Während der Sohn verwirrt nach dem Boot seines älteren Bruders Ausschau hielt, konnte Sven in Barnes Augen kalte Erkenntnis lesen. Er sprang an Land und ging gleich zu den beiden Kriegern.
„Wir müssen reden, Barne“, forderte er den Kriegerhäuptling auf.
Der warf einen letzten Blick auf die beiden Boote, dann wandte er sich um und marschierte zu seinem Haus. Die aufgeregten Zuschauer machten den drei Männern eilig Platz, ahnten die schlechten Nachrichten. Im Langhaus legten die Männer ihre Schilde und Waffen ab und setzten sich auf die mit Fellen belegten Bänke. Barne saß auf dem Stuhl des Familienoberhauptes. Zwei junge Frauen schafften eilig Met herbei.
„Bedien dich, Sven. Du hast sicherlich Durst und siehst sehr erschöpft aus“, forderte Barne mit ruhiger Stimme seinen Gast auf.
Das Gesetz der Gastfreundschaft verlor seine Gültigkeit auch nicht, wenn es schwere Schicksalsschläge zu ertragen galt. Gunvald kämpfte offensichtlich mühsam um seine Geduld, beherrschte sich jedoch. Sven trank einen langen Schluck, bevor er seine bösen Nachrichten überbrachte. Er beschrieb die erfolgreiche Handelsfahrt und kam zum Schluss zur Schilderung des Angriffs auf das Langboot.
„Sie tauchten wie aus dem Nichts auf, nutzten die schlechten Sichtverhältnisse aus. Wir hielten sie zunächst für Wagrier, doch Sverre hat ein Wappen der Männer aus Reric erkannt. Lodin und seine Männer hatten keine Chance. Aegir meinte es am Ende besonders schlecht mit uns“, schloss Sven bitter.
Barne hörte sich die ganze Erzählung mit verschlossenem Gesicht an, kein Muskel zuckte. Gunvald stöhnte entsetzt auf, als er vom plötzlichen Überfall des anderen Bootes hörte. Bei der sachlichen Feststellung, dass sein Bruder den Tod in der Ostsee gefunden hatte, sprang er aufgewühlt auf.
„Wir müssen Lodin suchen, Vater! Wir dürfen ihn doch nicht einfach so aufgeben!“
Der siebzehnjährige Gunvald wollte sich nicht so einfach mit dem Schicksal abfinden.
„Setz dich wieder, Gunvald. Es hat Aegir nun einmal gefallen, deinen Bruder bei sich zu behalten“, wies ihn Barne mit leiser Stimme zurecht.
„Weil die räudigen Hunde aus Reric sein Boot völlig sinnlos angegriffen haben“, brauste Gunvald wütend auf.
Dem jungen Krieger fehlt die Erfahrung seines Vaters oder auch nur die Reife Lodins, dachte Sven, dem Disput wortlos zusehend.
„Darüber werden wir im Rat sprechen, Gunvald. Melde dich bei dem Wachführer“, beendete Barne die Auseinandersetzung entschlossen.
Gunvald sah seinen Vater ungläubig an. „Ich soll jetzt meine Wache auf dem Wall antreten? Ist das alles, was du von mir erwartest?“
Barne sah seinen jüngeren Sohn hart an. „Ich erwarte, dass du deine Pflichten nicht versäumst! Oder willst du Schande über unsere Familie bringen?“
Gunvald senkte verlegen den Kopf. Dann nahm er schnell seinen Schild und die Waffen, nickte Sven zu und verließ das Langhaus der Familie.
„Ich werde noch heute eine Ratsversammlung verlangen, Sven. Dort wirst du noch einmal deine Geschichte vortragen, danach sehen wir weiter. Über den Handel sprechen wir morgen“, beschied Barne dem Händler.
Sven nickte zustimmend und verabschiedete sich dann knapp. Er verließ das Langhaus und war froh, diesen schweren Gang hinter sich gebracht zu haben. Barne gab ihm keine Schuld am Tod seines älteren Sohnes, sonst hätte er nicht über den Handel mit ihm sprechen wollen.
Sven eilte zurück zum Anleger, verwahrte sich gegen neugierige Fragen. Erst wollte er sich um die Boote, die Männer und die Waren kümmern. Sie hatten mit dem dritten Boot zwar auch einen Teil der Waren verloren, aber dieser Verlust war nicht so schlimm. Erstens hatte sich nicht so viel Ware im dritten Boot befunden, und zweitens hatten sie Verluste erwartet.

*

Am Versammlungsplatz summte es bereits wie in einem Bienenstock, als Gunvald mit seinem Vater eintraf. Während viele der jüngeren Männer ihnen oft nur respektvoll Platz machten, nickten einige der älteren Männer dem Kriegerhäuptling zu.
„Was soll dieses Nicken bedeuten, Vater“, fragte Gunvald irritiert.
Doch Barne achtete nicht auf Gunvald, sondern ging auf seinen Platz in der Runde der Ratsmitglieder. Gunvald blieb neben Thorge Rasmussen stehen, dem Anführer der Krieger von Barne und dessen Stellvertreter. Normalerweise hätte Gunvald sich weiter hinten bei den jüngeren Kriegern aufgehalten, aber bei dieser Versammlung war sein Platz in vorderster Reihe.
„Was geschieht denn jetzt?“, fragte er Thorge.
Der selbst für einen Wikinger ungewöhnlich groß gewachsener Mann wandte sich halb zu Gunvald um.
„Der Rat wird sich den Bericht von Sven anhören. Danach wird beraten, was weiter geschehen wird. Dazu dürfen alle Anführer ihre Meinung äußern, und die Mehrheit entscheidet bei der Abstimmung“, erklärte Thorge mit seinem tiefem Bass.
Gunvald wollte weitere Fragen loswerden, doch in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2012
ISBN: 978-3-95500-647-1

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