Cover


Artefakte – Band 4
W. Berner – Der Lauf der Zeit
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Mark Heywinkel und Andrä Martyna
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de


Der Lauf der Zeit

Gharr erwachte. Er hatte schlecht geschlafen und sich die halbe Nacht unruhig auf seinem Lager aus Fellen und trockenem Laub hin- und hergewälzt. Seine Gefährtin Nkar hatte es deswegen vorgezogen, das gemeinsame Lager in der etwas erhöht liegenden Felsnische zu verlassen und die Nacht bei den anderen Frauen in der Nähe eines der Lagerfeuer zu verbringen. Es entlockte ihm einen unwilligen Laut, als er sein erstes Weib bei den anderen Weibern liegen sah. Das schickte sich nicht für die Gefährtin des Stammesführers der Ercep. Gharr machte ein mürrisches Gesicht, während er sich ausgiebig die Stellen kratzte, an denen ihn die Fellläuse in der Nacht besonders gepiesackt hatte. Er ließ seinen Blick durch Brygga schweifen, wie sie die Haupthöhle ihres Stammes genannt hatten. Überall schliefen seine Leute noch. Nur wenige waren bereits auf und hatten sich um eines der drei Feuer gescharrt, um ihre klammen Glieder zu wärmen. Der K’Tain, wie der Stammesführer von seinen Leuten genannt wurde, legte seine Stirn in Falten. Höhlen waren zwar sehr solide Unterkünfte, doch sie waren meistens zugig und klamm. Man bekam sie kaum jemals richtig trocken oder warm. Es war höchste Zeit, dass die Pfahlbauten im hinteren Teil des langgezogenen Tales fertig wurden, damit sie dorthin übersiedeln konnten. Im Winter waren die Holzhütten um ein Vieles besser als die Höhlen, wo die Stammesmitglieder riskierten, an Schnupfen oder noch schlimmeren Krankheiten der kalten Jahreszeit zu erkranken.
Sein Blick wanderte zurück an die Stelle Bryggas, wo sich Nkar zum Schlafen niedergelegt hatte. Eine Welle des Zorns schwappte in ihm hoch und er stieß ein verärgertes Knurren aus. Er war der K’Tain der Gruppe. Und das erste Weib war die Gefährtin des K’Tain. Was sollten die Rangniederen denken, wenn das erste Weib bei den Niederen schlief? Er würde Nkar wohl seine Hand spüren lassen müssen, wenn sie es wagen sollte, Gleiches noch einmal zu tun. Und wenn sie sich nicht fügte, nun, dann gab es genug andere Frauen im Stamm, die liebend gerne ihren Platz an Gharrs Seite einnehmen würden. Tiki zum Beispiel. Die dünne Hru, oder vielleicht sogar die dicke Gwar. Vor allem Gwar käme in Frage. Sie hatte eine gebärfreudige Gestalt und würde Gharr sicher viele gute Nachkommen schenken. Gharr grinste bei seinen Überlegungen still vor sich hin, während sein Zorn auf Nkar sich langsam wieder zu legen begann. In Gedanken sah er schon eine riesige Kinderschar durch die Höhle und das Tal toben.
Doch genau dieser Gedanke war es, der ihm nur einen Moment später schlagartig das Grinsen aus seinem Gesicht wieder hinfortwischte. Dem Stammesführer der Ercep wurde plötzlich bewusst, dass er genau wieder bei dem Punkt seiner Überlegungen und Grübeleien angelangt war, der in ihm vor vielen Tagen jenes Gefühl der Unruhe und Rastlosigkeit ausgelöst hatte, welches ihn seither gefangen hielt.
Etliche Tage zuvor hatten sie während der hereinbrechenden Dämmerung um die Feuerstellen Bryggas, ihrer Wohnhöhle, gesessen, gemeinsam Beeren und am Tage erlegtes Wild gegessen und, wie bei solchen Versammlungen üblich, geschwatzt und gelacht.
Firr, Krieger aus seiner Gruppe von besonders fähigen Männern, hatte zum wiederholten Mal begeistert davon erzählt, wie glücklich sich doch der Stamm der Ercep schätzen konnte, dass sie vor vielen, vielen Perioden, in denen das Nachtlicht Molna dick und wieder dünn geworden war, diese prächtige Höhle gefunden hatten. Und nicht nur Brygga, auch die drei anderen Höhlen im Tal, Sickba und Tenit, die beiden am weitesten hinten im Tal liegenden, und Kasta, welche dem Talausgang am nächsten lag. Überhaupt sei das lange, fruchtbare Tal ein wahrer Segen. Als sie es fanden, erschien es den Ercep wie ein Paradies, seit sie vor der großen Kälte geflohen und immer dem Höchststand von Jalrol, dem Tageslicht, gefolgt waren.
Damals, so plötzlich wie ein Blitz in der dunklen Nacht, drang es in Gharrs Gedanken, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.
Warum hatten sie keine Kinder im Stamm?
Es schien Gharr mit einem Mal unglaublich, dass sie ohne Kinder den langen Marsch in eine neue Heimat angetreten hatten. Doch keiner seiner Leute schien sich die gleichen Fragen zu stellen. Und wenn sie schon seit so vielen Molna-Wechseln hier in diesen prächtigen Höhlen lebten, wieso war bis auf die schüchterne Kefi keine andere Frau tragend? Noch seltsamer, auch in den drei anderen Höhlen, die der Stamm der Ercep bewohnte, also in Tenit, Sickba und Kasta, gab es keine Kinder oder tragende Frauen. Wenn Gharr einen seiner Leute auf diese seltsamen Umstände ansprach, erntete er meist nur ein verlegenes oder fragendes Grinsen. Es störte sich wirklich niemand daran. Im Gegenteil, alle nahmen es hin, als wäre es eine unabänderliche Wahrheit ihrer Existenz.
Doch seither beschäftigte sich der Stammesführer mit diesen Gedanken. Wieder und wieder versuchte er, sich den langen Weg, den die Ercep bis hierher ins Tal gegangen waren, in Erinnerung zu rufen. Aber sosehr er sich auch bemühte, sein Gedächtnis konnte nur vage, bruchstückhafte Bilder ans Licht bringen. Erst hier in der Höhle gab es die ersten Dinge, an die er sich wirklich erinnern konnte. Es war für Gharr unbegreiflich. Er konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass es etwas gab, was sich weder greifen noch begreifen ließ. Sie waren hier. Gut. Das war so, und Gharr hätte froh sein sollen, denn es waren gute Plätze zum Leben. Aber warum waren sie hier? Was hatte sie veranlasst, das alte Leben aufzugeben und in eine unbekannte Ferne zu ziehen? Wie war ihr Leben gewesen, bevor sie aufgebrochen waren, um einen neuen Siedlungsgrund zu finden? War alles wirklich so schlimm gewesen, dass man hatte die Flucht ergreifen müssen? Und immer wieder: Wo waren die Kinder? Gharr konnte und wollte nicht glauben, dass es in ihrem alten Leben keine Kinder gegeben hatte. Nachwuchs war doch Gegenwart und Zukunft eines Stammes. Seines Stammes.
Dass all diese brennenden Fragen ohne Antwort blieben, machte Gharr zunehmend mürrisch. Allerdings lag das auch daran, dass er sich mit keinem Ercep über dieses Thema austauschen konnte. Man starrte ihn dann meist nur verständnislos an.
So saß er manchmal stundenlang auf einem großen Steinblock neben dem Höhleneingang und starrte in die Ferne, tief in seine Grübeleien versunken.
Gharr schüttelte sich, als könne er all die finsteren Gedanken und Fragen, die ihn quälten, damit abschütteln. Dann gähnte er herzhaft. Anschließend reckte und streckte er sich, um die Steife des Nachtschlafes von sich abzuschütteln. Dem folgte erneut ausgiebiges Kratzen, denn die kleinen Quälgeister, die sich in den Fellen, altem Laub und Haaren tummelten, hatten in der Nacht wieder kräftig zugeschlagen und kleine, juckende Stellen verursacht.
Der K’Tain stand auf, reckte sich ein weiteres Mal, dann kletterte er vorsichtig ein paar Trittmulden im Fels hinunter, um an der hinteren Höhlenwand entlang zu der kleinen Quelle zu gehen, die dort munter plätschernd aus einem Spalt im Stein entsprang. Von dort aus lief das klare, kalte Wasser durch eine lange, natürliche Rinne im Boden bis nach vorne zum Höhleneingang. Dort sammelte es sich zunächst in einem knietiefen Becken, bevor es die Felsen hinabstürzte, versprühte und im satten, fruchtbaren Erdreich vor der Höhle im Boden versickerte. Ganz unten, am Grund des Felsentals, in dessen steilen Wänden sich die größte Wohnhöhle befand, trat das Wasser zwischen kleinen Felsblöcken wieder zu Tage und rann als Bach dem natürlichen Talgefälle folgend davon, um in der Talmitte in den großen Wasserlauf zu münden, der das Tal der Ercep in seiner gesamten Länge durchfloss.
Gharr schöpfte mehrmals mit den hohlen Händen Wasser und trank es gierig. Dann spritze er ein wenig von dem kühlen Nass in sein Gesicht, was ihn erfrischte und vollends munter machte. Wie so oft dankte er der Güte Jalrols, des Taglichtes, dass sie mit so einer guten Unterkunft gesegnet waren. Eine klare, saubere Quelle in der Höhle, ein fruchtbares Tal mit vielen Beeren, Früchten, Nüssen und Wurzeln, die von den Frauen gesammelt werden konnten. Und jenseits des Talendes erstreckte sich hügeliges, bewaldetes Land, voll von jagdbarem Getier, so dass der Stamm, der sich auf insgesamt drei Höhlen in dem langgezogenen Tal verteilte, nicht zu hungern brauchte.
Nachdem der K’Tain seinen Durst gestillt und sich erfrischt hatte, machte er wie jeden Morgen einen Rundgang durch die Höhle. Mit Verärgerung musste er feststellen, dass eines der älteren Weiber, eine Feuerfrau, neben der Feuerstelle, die sie eigentlich beaufsichtigen sollte, eingeschlafen war. Es gab drei Feuerstellen in der Haupthöhle, die von mehreren, meist älteren Frauen im Stamm betreut wurden, damit sie nicht ausgingen. Sie teilten sich die Arbeit und wechselten sich gegenseitig mit der Wache ab. Eine wichtige Arbeit, denn Feuer bedeuteten Wärme, Licht und Schutz. Gingen sie aus, mussten sie mühsam wieder entzündet werden.
Gharr ging zum hinteren Feuer und trat dem nachlässigen, schlafenden Weib ärgerlich in die Seite. Diese schrie keifend auf und wollte schon mit dem Mund nach dem Bein des Stammesführers schnappen. Doch da erkannte sie, wem sie den unsanften Weckruf zu verdanken hatte. Schuldbewusst und jammernd zuckte sie zurück. Doch diese Art des Mitleidheischens machte Gharr nur noch wütender.
„Ist das deine Art, das Feuer zu bewachen?“, herrschte der K’Tain mit strenger Stimme die Frau an.
„Es ist nicht meine Schuld, K’Tain!“, jammerte das Weib und rang die Hände, während sie sich unterwürfig vor dem hochgewachsenen Mann krümmte. „Ulira sollte mich in der Nacht ablösen. Doch sie kam nicht, und ich musste die ganze Nacht hindurch allein wachen! Gegen Morgen hat mich die große Müdigkeit einfach übermannt.“
„Was ist mit Ulira?“, wollte Gharr wissen, denn er schätzte es überhaupt nicht, wenn jemand im Stamm nicht das machte, was ihm vom Stammesführer oder der Ältestenversammlung aufgetragen worden war. In einem Stamm musste sich jeder auf den anderen verlassen können, wenn man überleben wollte. Das war ein unumstößliches Gesetz der Natur.
„Ich weiß es nicht, K’Tain“, antwortete das ältere Weib ängstlich. „Sie wollte gestern in Kasta, der vordersten Höhle, Beeren und Nüsse für uns holen, ist aber dann nicht mehr zurückgekehrt.“
„Nicht zurückgekehrt?“, rief Gharr zornig aus. „Schreit dieses pflichtvergessene Weib nach Schlägen?“
„Sie ist krank, Gharr“, meldete sich da eine sanfte Frauenstimme neben ihm.
Nkar, seine Gefährtin, hatte sich ihnen unbemerkt genähert und stand nun ein kleines Stückchen hinter dem auf dem Boden sitzenden und jammernden Feuerweib.
„Krank?“, fragte Gharr, und sogleich war der Zorn in ihm der Sorge gewichen. „Was ist mit ihr?“, erkundigte er sich alarmiert
Seine Gefährtin kam um das niedergebrannte Feuer herumgelaufen und begrüßte ihren Mann mit einem sanften Nasenstüber, bevor sie antwortete.
„Bera, das ist einer der jungen Krieger, die zwischen den Höhlen Wache halten, erzählte gestern kurz vor Einbruch der Dunkelheit, dass Ulira sich nicht wohlfühle. Emru, die Schamanin, hat sie unter ein Fell gesteckt und ihr scheußliche Kräuter verabreicht. Es scheint so, als habe sie die Körperhitze!“
„Das sind wirklich nicht die Neuigkeiten, mit denen man den Tag beginnen sollte“, seufzte der Stammesführer. „Es wird ratsam sein, dass ich nach Kasta gehe und nach dem Rechten sehe“, verkündete er dann seiner Gefährtin.
„Kann ich mit dir kommen?“, fragte Nkar.
Doch Gharr winkte entschieden ab. „Nein, Nkar, du wirst hier in Brygga gebraucht“, sagte er. „Du musst die Weiber beaufsichtigen, damit sie den Verschlag für den Höhleneingang richtig flechten“, fügte er hinzu, als er ihre beleidigte Miene sah. „Er muss möglichst bald fertig sein, damit es nicht mehr hereinregnet und wir nachts außerdem ohne Angst vor wilden Tieren schlafen können. Außerdem sind noch eine Menge an Körben, Schalen und Behältern zu fertigen“, zählte er auf. „Häute sind zu entfleischen, die Sammelweiber müssen ausgeschickt werden.“
Gharr streichelte Nkar sanft über das nachtschwarze, schulterlange Haar.
„Aber was alles zu tun ist, weißt du selbst am besten“, sagte er und schickte ein Grinsen hinterher. „Außerdem kann keiner die Leute so gut zur Arbeit antreiben wie du, Nkar.“
Das ausgesprochene Lob wirkte, denn Nkars Gesicht hellte sich auf wie der Himmel nach einem Regenschauer. Lächelnd sprang sie davon und holte ihm kaltes, gebratenes Fleisch vom Vortag sowie Beeren und Wurzeln, damit er sich stärken konnte, bevor er den Fußmarsch zur vorderen Höhle antrat.
Einige Zeit später, nachdem er ausgiebig gegessen hatte, brach er auf. Vorsichtig kletterte er den schmalen Trittpfad hinunter. Vor allem an den beiden Stellen, wo er den Wasserlauf aus der Höhle kreuzte, bevor dieser im Erdreich verschwand, ging er besonders bedächtig. Der Untergrund war hier sehr aufgeweicht und schlüpfrig.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2012
ISBN: 978-3-95500-643-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /