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Artefakte – Band 1
Adam J. Wilson – Im Auftrag der Unsterblichen
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Mark Heywinkel und Andrä Martyna
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de


Im Auftrag der Unsterblichen

Prolog

Auf dem Gebiet des heutigen Irak siedelten und lebten vor rund 4000 Jahren die Sumerer, eine der ersten Hochkulturen auf unserer Erde. Etwa ein Jahrtausend lang existierte diese Kultur, die neben den Grundlagen für wichtige technische Errungenschaften, Astronomie und Mathematik auch eine Mythologie hervorbrachte, auf der viele spätere Völker ihre eigene Religion aufbauen sollten.
Im Jahre 2046 v.Chr. begannen die einzelnen sumerischen Stadtstaaten einander zu bekriegen, um die Machtverteilung und die Vorherrschaft der autonomen Städte in Mesopotamien neu zu ordnen.
Es entbrannte ein erbitterter Kampf zwischen der mächtigen Stadt Uruk am Euphrat und der unweit östlich gelegenen Stadt Nippur, dem religiösen Zentrum des sumerischen Reiches. Unter dem Schutz ihrer jeweiligen Stadtgötter fochten die Menschen gegeneinander und arbeiteten somit schließlich ihrer eigenen Vernichtung entgegen.
Der Schutzpatron von Uruk war der Göttervater An – der Gott, der über die Stadt Nippur wachte, war sein machtgieriger Sohn Enlil. Was die Sumerer nicht wussten war, dass beide Götter die Bürger ihrer Städte benutzten, um auf Erden einen göttlichen Zwist auszutragen: Enlil trachtete dem eigenen Vater nach dem Götterthron im Pantheon und nutzte die Truppen Nippurs, die Stadt seines Vaters zu vernichten, um dessen Macht zu schwächen.
In jenem weltlichen Krieg der sumerischen Städte gerieten einige Menschen in den Auftrag der Unsterblichen, unwissend, dass der Ausgang ihres Krieges zwischen den Städten gleichsam über die göttliche Machtordnung entscheiden sollte ...

1.

Die Hohe Priesterin Enheduanna entzündete eine kleine Feuerstelle und setzte sich neben die gemächlich aufsteigenden Flammen auf den kalten Stein. Die meisten Priester nahmen um diese Zeit ihr Mittagsmahl zu sich und so war kein Laut in den Hallen der Zikkurat von An mehr zu vernehmen. Enheduanna war allein. Sie hatte den Tempel für sich.
Langsam setzte sich die junge Frau im Schneidersitz aufrecht vor das Feuer und zog ihre Schultern so weit es ging nach hinten, bis sie ein leichtes Dehnen in ihrem Körper spürte. In dieser Haltung verharrte sie, faltete die Hände im Schoß und schloss die Augen. Dann begann sie mit leisem Summen eine Meditation.
Sie sammelte ihre Gedanken und konzentrierte sich auf die Wärme, die von der Feuerstelle vor ihr ausging. Sie fühlte die Energie der Flammen auf ihre Haut und ihren Körper wirken. Die Priesterin versuchte, sich das Feuer vorzustellen. Vor ihrem geistigen Auge erschuf sie das Bild eines rot glimmenden Flämmchens, das nach und nach wuchs und ...
„Enheduanna!“, durchbrach eine tiefe Männerstimme die Ruhe in der Zikkurat. Die Hohe Priesterin öffnete die Augen und bedauerte für einen Moment, ihre Meditation zu einem so frühen Zeitpunkt abbrechen zu müssen; sie kam nicht mehr oft zu diesem Ritual, seit man sie von einer Priesterin höheren Ranges in das ehrenvolle Amt der Hohen Priesterin erhoben hatte.
„Ich muss Euch sprechen!“
Enheduanna hatte die Stimme erkannt, die nun aufgeregt und hektisch nach ihr verlangte, und es war nicht angebracht, ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken.
Die junge Frau richtete sich auf und drehte sich zu ihrem Besucher um.
„König Ur-Nammu“, begrüßte sie den alten Mann mit einer tiefen Verbeugung, „was führt Euch zu dieser Stunde in die Zikkurat? Ich hatte Euch nicht erwartet, es ist nichts für eine Messe vorbereitet. Gebt mir eine Stunde und ich schicke schnell nach den Priestern ...“
Der König winkte ab.
„Macht Euch darum keine Gedanken, Enheduanna. Das ist nicht der Grund meines Kommens.“
Er trat einen Schritt näher an sie heran und flüsterte ihr halb ins Ohr: „Hohe Priesterin, ich brauche Eure Hilfe.“
Enheduanna nickte langsam und deutete die Halle hinab auf den Eingang zum Inneren der Zikkurat, wo sich sonst die Geistlichen tagsüber aufhielten.
„Dort wird uns niemand stören“, sagte die junge Hohe Priesterin und ging voran.
Ur-Nammu schritt eilig neben ihr her.
Aus den Augenwinkeln heraus musterte die junge Frau den König Uruks vorsichtig. Er war ganz aufgewühlt, atmete schwer und seine von grauen Strähnen durchzogenen Haare fielen ihm kraus und wirr ins Gesicht. In den Augen des Mannes, den sie sonst als selbstbewusst und stark empfunden hatte, las sie nun eine Spur von Angst. Die Hohe Priesterin fragte sich, was ihm im Namen Ans widerfahren war und in welcher Form er nun ihrer Hilfe bedurfte.
Ob es wohl um den Krieg ging? Seit geraumer Zeit führte die Stadt Uruk gegen die Stadt Nippur einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft im Zweistromland. Man hatte der Hohen Priesterin berichtet, dass sogar schon feindliche Truppen in der Nähe von Uruk gesichtet worden waren. Die Lage schien sich für Ur-Nammu und seine Stadt sehr zu verschlechtern. Enheduanna glaubte jedoch nicht, dass der König sie in Kriegsbelangen zu Rate ziehen würde. Umso neugieriger wurde sie, aus welchem anderen Grund der König wohl zu ihr gekommen war.
Sie traten durch ein verziertes Holztor ins Innere der Tempelanlage. Hier verbrachten die Priester und Priesterinnen der Zikkurat von An die meiste Zeit ihres Tages. Auf hölzernen Tischen stapelten sich die Pergamente, unter denen Berechnungen von Sternbahnen und Schriften über Heilkunde zu finden waren.
„Setzt Euch, Hoheit.“
Ur-Nammu nahm neben einem dieser Pergamentstapel auf einer Holzbank Platz und vergrub den Kopf in den Händen. In dieser Haltung schien dem alten Mann sein königliches Gewand viel zu klein zu sein. Der König der Stadt Uruk sah alt und schwach aus.
Enheduanna wusste nicht recht, was sie tun sollte. Ein wenig hilflos stand sie vor dem mächtigsten Mann des Zweistromlandes und rang mit sich selbst, die Stimme zu erheben und den König endlich zu fragen, was ihm auf dem Herzen lag. Aber trotz ihres hohen Ranges wagte sie es nicht.
Glücklicherweise hatte sich Ur-Nammu schnell wieder gefasst. Er richtete sich auf, blickte Enheduanna durchdringend an und sagte: „Ihr seid noch nicht lange Hohe Priesterin, Enheduanna.“
Die junge Frau nickte zustimmend. Sie wusste nicht recht, was sie von dieser Aussage halten sollte.
„Seit knapp sechzehn Monden“, sagte sie.
„Die Zeit ist nicht lang, wenn man sie noch in Monden rechnet, nicht?“
Der König lächelte.
In seinem Blick lag etwas Väterliches, Gutmütiges, mit dem er die Menschen zu fesseln wusste. Es gelang ihm auch jetzt. Enheduanna musste lächeln.
„Dennoch seid Ihr verantwortlich für das Geschehen in diesen Hallen“, fuhr der König ernst fort, „und Ihr vertretet unseren Gott An nach bestem Gewissen und aus tiefstem Glauben auf dieser Welt. Die Menschen sehen zu Euch auf. Jeder gläubige Anhänger Ans tut das. Ich tue es auch.“
Enheduanna schwieg.
„Uruk sieht sich seit einiger Zeit der Gefahr gegenüber, besetzt und vernichtet zu werden“, sagte der König in bedrücktem Ton, „und die Menschen haben Angst. Die Stadt vermag noch Schutz zu bieten. Bisher hat kein Feind unsere Stadtgrenze überschritten. Und wenn alle Mauern fallen, wird dieser Tempel unseren Bürgern eine sichere Zuflucht sein.“
Ur-Nammu machte eine Pause. Enheduanna bemerkte, wie schwer ihm die nächsten Worte fielen.
„Doch ich frage mich mehr und mehr, ob An uns nicht seinen göttlichen Schutz entzogen hat ...“
Die Hohe Priesterin zuckte zusammen.
„Was meint Ihr, Herr?“, fragte sie entsetzt.
Ur-Nammu erhob sich und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Nur die Ruhe, Enheduanna.“
Er schritt langsam vor ihr auf und ab.
„Vor zwei Tagen“, begann er dann zu erzählen, „kam es zu einem kleinen Gefecht nicht weit von der Stadt auf der anderen Seite des Euphrat. Gewiss habt Ihr davon gehört?“
„Ich vernahm, dass unsere Soldaten gegen die Feinde aus der Stadt Nippur in den Kampf zogen.“
„Was hörtet Ihr noch?“, fragte der König nach.
„Nicht mehr.“
„Dass sie fielen?“
„Sagte man mir nicht“, entgegnete Enheduanna verdutzt.
„Sagte man Euch wie?“
Enheduanna schüttelte den Kopf.
„Nichts davon“, erwiderte sie. „Kein Wort!“
Ur-Nammu nickte langsam.
„Man wollte Euch gewiss nicht aufregen; die letzten Tage müssen anstrengend genug gewesen sein.“
Enheduanna nickte etwas beschämt. Als Hohe Priesterin musste sie eigentlich über die neusten Geschehnisse in und um Uruk in Kenntnis gesetzt werden und hatte über alles Bescheid zu wissen. Doch die letzten Tage waren tatsächlich sehr anstrengend gewesen und Enheduanna hatte nur wenig von dem mitbekommen, was außerhalb der Zikkurat geschehen war.
„Dann will ich Euch davon berichten“, fuhr der König fort. „Gegen Mittag, zu einer Stunde wie dieser, trafen die Truppen des Feindes aus Nippur mit den unsrigen Soldaten zusammen. Nur eine knappe Stunde später war von unseren Männern keiner mehr am Leben, könnt Ihr Euch das vorstellen?“
„Nein“, antwortete Enheduanna heiser. „Wie konnte das geschehen? Man sagte mir, bisher habe man den Feind jedes Mal in die Flucht schlagen können. Unsere Waffen seien den seinen weit überlegen, habe ich gehört. Waren die gegnerischen Männer in der Überzahl?“
„Nein.“
„Wie kam es dann zu diesem Unglück?“
„Eine Wunderwaffe“, flüsterte der König. „Die Truppen aus Nippur kamen mit Wagen aus Holz, die sie an Pferde gespannt hatten. Streitwagen nennen sie diese Erfindung. Unsere Truppen wurden regelrecht überfahren von diesen Gefährten.“
„Das ist entsetzlich.“
„Und es wird noch schlimmer!“, mutmaßte der König nun in neuer Aufregung. „Ich wage zu bezweifeln, dass dies die erste und letzte Überraschung gewesen ist! Überlegt nur: wenn der Feind solche Gerätschaften besitzt, wer weiß, was für Waffen er sich in Zukunft ausdenken wird! Und was für Schaden werden diese Waffen dann anrichten!“
Enheduanna wusste darauf nichts zu antworten.
„Währenddessen“, rief der König spöttisch und deutete auf die Pergamente, „häufen die Priester der Stadt Uruk nichts als unwichtiges Wissen an! Sie erforschen Pflanzen, beobachten Sterne und dort draußen fallen unsere Männer, einer nach dem anderen!“
Ur-Nammu raufte sich die krausen Haare.
„Wie kann ich Euch helfen, Herr?“, fragte Enheduanna vorsichtig.
Der König sah sie durchdringend an.
„Sprecht zu An“, antwortete er knapp.
„Ich soll mich ... an den Göttervater wenden?“
„Dies ist seine Zikkurat! Ihr seid die Hohe Priesterin, seine Vertreterin auf Erden! Darüber hinaus ist er der Schutzpatron unserer Stadt Uruk. Wir sind seine Bürger, seine Anhänger. Wir kämpfen und fallen in seinem Namen. Warum solltet Ihr Euch dann nicht an ihn wenden dürfen?“
Enheduanna wusste darauf nichts zu sagen.
„Und mit welchem Belang soll ich mich an ihn wenden?“
„Fragt ihn, warum er uns die Hilfe untersagt.“
Die Hohe Priesterin sah den König fragend an.
„Hilft er uns denn nicht?“
„Enheduanna, wir sind im Begriff, diese Schlacht gegen Nippur zu verlieren. Unsere Stadt ist in großer Gefahr. Unsere Bürger haben Angst. Mein Volk sieht sich seiner Vernichtung gegenüber. Und die Hilfe, Hohe Priesterin, sehe ich nicht. Mit Heilkräutern und Sternenkunde ist es nicht getan!“
Wieder verwies der König mit einer Geste auf die Pergamente, die überall im Raum verstreut herumlagen und sich häuften.
„Nippur bekommt Streitwagen, was bekommen wir?“
„Was ist mit den Wällen um die Stadt?“, entgegnete die junge Frau langsam. „Sind sie nicht Schutz genug? Haben sie nicht bisher jeden Feind von unserer Stadt ferngehalten?“
Der König lächelte bitter.
„Aber die Wälle ließ ich errichten! Ans Hilfe, selbst wenn er sie uns gegeben hätte, wäre überflüssig gewesen! Aber Ihr seht, dass nicht einmal mehr die Wälle Uruk schützen können, wenn der Feind übermächtig geworden ist. Ohne die Hilfe unseres Gottes An geht es nicht mehr! Ich bitte Euch, Enheduanna, wendet Euch an ihn und bittet ihn für mich und meine Bürger um Hilfe! Er ist Schutzpatron von Uruk – und die Stadt braucht ihn jetzt!“
Die junge Hohe Priesterin blickte in die festen Augen des Königs und wusste, dass er Recht hatte. Wenn die Truppen aus Nippur wirklich so übermächtig waren, dann würden die Männer Uruks den Kampf ohne die Hilfe ihres Gottes nicht gewinnen können. Und der Göttervater An war Schutzpatron dieser Stadt, warum sollte man ihn nicht um Schutz bitten dürfen?
„Ihr müsst wissen, dass ich noch nie in Kontakt zu An getreten bin, Herr“, äußerte Enheduanna ein letztes Mal ihre Bedenken. „Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird.“
„Ihr seid die Hohe Priesterin“, erwiderte der König nur und wendete sich zum Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. „Diese Stadt ist seit vielen Jahrhunderten das mächtigste Zentrum Sumers. Ich vertraue darauf, dass Ihr Euch für Uruk einsetzt und ihren Stand bewahren helft.“
Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, dann verließ Ur-Nammu den Raum. Enheduanna war wieder allein. Die plötzliche Ruhe kam ihr jedoch alles andere als erholsam oder beruhigend vor. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Körper zitterte. Sie atmete tief durch. Schweigend und in Gedanken versunken saß Enheduanna dann eine Weile da und starrte auf ein paar beschriebene Pergamente, bis ein Priester eintrat.
„Der König war hier?“, fragte der Mann überrascht.
„Ja“, sagte die Hohe Priesterin und sah auf. „Er kam, um mich um etwas zu bitten.“
Der Priester nickte. Seine Neugier war kaum zu übersehen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2012
ISBN: 978-3-95500-641-9

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