Fantasy Worlds – Band 2
Alexander Gail – Das Kind der Prophezeihung
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Rosi Dombach
Lektorat: Drachenkinder
Sie stöhnte und schrie in einem schnellen, rhythmischen Wechsel. Dann atmete sie mehrmals ein und aus, bis erneut ein Schrei über ihre Lippen drang.
Die junge Frau lag auf ihrer Liegestatt, in feinen Bächen lief ihr der Schweiß über die nackten, weit gespreizten Schenkel.
„Du musst pressen, mein Kind, pressen!“, ordnete die Alte an, die der anderen erwartungsvoll zwischen die Beine starrte. Als sie schließlich das blutig-schmierige Köpfchen erkannte, das langsam zum Vorschein kam, griff sie mit ihren altersfleckigen Händen zu, das Neugeborene in Empfang zu nehmen.
„Pressen, pressen, gleich hast du es geschafft!“
Die junge Frau verbrauchte ihre letzten Kraftreserven, bevor ihr Kopf erschöpft auf das Kissen fiel. Ihr kastanienbraunes langes Haar hatte sich wie ein Fächer auf dem durch geschwitzten Kissen ausgebreitet.
Aller Schmerz war vergessen, als sie plötzlich dem Geschrei des Kindes lauschte, das sich in dem Moment des vollkommenen Glücks wie die süßeste Symphonie anhörte.
„Es ist ein Mädchen, ein Mädchen!“, kommentierte die Alte mit strahlendem Gesicht, wiegte das wimmernde Bündel in den Armen und reinigte mit einem sauberen Tuch die weiche Haut.
Der jungen Mutter entging nicht, wie sich das Gesicht der alten Frau plötzlich verfinsterte und aschfahl wurde. „Was ist, was ist mit meinem Kind?“, fragte sie panikerfüllt.
„Bei allen Göttern, das Kind hat das Mal!"
„Welches Mal, wovon sprichst du?“
Der ausgemergelte Körper der alten Frau zitterte.
„Tamira, sie hat das Mal, sie ist die Gezeichnete!“
Die andere begann langsam zu weinen und versuchte sich aufzurichten.
„Du sprichst in Rätseln Mutter Karela, was bedeutet das?“
„Die Prophezeiung der alten Götter erfüllt sich, deine Tochter ist die Auserwählte!“
+++
Melancholisch saß Königin Getheren in ihrem Thronsessel. Das blauschwarze Haar, das im Gegensatz zu ihrer bleichen Hautfarbe stand, fiel in weichen Wellen über die nackten Schultern und bedeckte den Ansatz ihrer großen Brüste. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, schwarzes Kleid aus feinster Seide, das von ihrer wohlgeformten Figur mehr zeigte als verhüllte.
Die Königin war das Sinnbild weiblicher Schönheit: Vollkommener Körper, samtweiche Alabasterhaut, anmutige Gesichtszüge mit großen, dunklen Augen und sinnlichen Lippen.
Sie hob leicht den Kopf, als sich das Tor des Thronsaals öffnete und die bewaffneten Wächter einen groß gewachsenen Mann durchließen.
„Hauptmann Valdius!“, grüßte die Königin die bärtige Gestalt in der schwarzen, glänzenden Rüstung, die mit schweren Schritten, die von der kahlen Wand widerhallten, durch den Saal marschierte.
Vor dem Treppchen, das zum Königsthron hinauf führte, ging der Mann voller Ehrfurcht in die Knie.
„Was führt den Hauptmann meiner Armee zu solch einer frühen Morgenstunde zu seiner Königin?“
Der Mann erhob sich langsam. Er wagte es kaum seine Herrin anzusehen, als er mit bebender Stimme sprach: „Das Kind, Eure Hoheit, das Kind der Prophezeiung ist geboren!“
„Was sagst du da?“, keifte die Königin und sprang hastig auf.
Sie erschreckte ihre beiden Schoßtiere, zwei schwarze Leoparden, die auf die Füße kamen und aus einer abgedunkelten Ecke des Saals herbei eilten.
Hauptmann Valdius wich augenblicklich zurück und verneigte sich, als die Frau langsam die wenigen Stufen nach unten stieg.
„Wann? Wo? Nun sprich doch endlich!“
„In einem kleinen, unscheinbaren Dorf, etwa einen Tagesritt von hier!“
„Wie bitte? Der Spross von zwei schmutzigen Bauern? Bist du sicher?“
„Ja, Eure Hoheit. Mein Mann hat es mir berichtet. Das Kind trägt das Mal, unterhalb des rechten Oberschenkels, wie es in der Prophezeiung heißt."
Nervös schritt die Königin auf und ab.
„Zeig mir das Kind, ich will es sehen!“
Der Offizier wurde verlegen und stotterte leise: „Ich habe das Kind nicht!“
Die Frau traute ihren Ohren nicht und schrie den Untergebenen wutentbrannt an: „Du hast es nicht? Dein Mann hat es dort gelassen? Er hat es nicht mitgebracht?“
„Ja, ich meine, nein, er hat es nicht mitgebracht!“
„Von welch unfähigen Tölpeln bin ich hier bloß umgeben?“
Die beiden Raubkatzen, vom Gefühlsausbruch ihrer Herrin angesteckt, fauchten und sprangen nervös hin und her. Ein kaum verständliches Wort Getherens genügte, dass sich die Tiere friedlich schnurrend in ihre Ecke zurückzogen.
„Bring mir das Kind, Valdius! Hast du mich verstanden?“
„Ja Herrin, ich schicke sofort ein Dutzend meiner besten Männer los.“
„Nein, nicht deine unfähigen Männer.“
„Hoheit?“
„Schicke die Orks!“
+++
Es war zur späten Abendstunde. In friedlicher Stille lag das Dorf in dem Tal. In nur wenigen Häusern brannte noch Licht. Die Kinder schlummerten in ihren Betten. Männer und Frauen, erschöpft von der harten Arbeit auf den Feldern, taten es ihnen gleich. Begleitet von der Dunkelheit zog der Nebel in silbrigen Fäden durch die Straßen und schien die niedrig gebauten Häuser gänzlich zu verschlucken. Ein Mann, kahlköpfig und mit stattlichem Bauch, torkelte aus einer Gaststube und trat den Weg nach Hause an. Er trällerte ein Lied, doch energische Beschimpfungen aus einem geöffneten Fenster mahnten ihn zur Ruhe. Der Mann blieb stehen und versuchte mit zitternden Fingern den Weinschlauch zu öffnen. Plötzlich wurde er von hinten gepackt und eine schwielige Hand presste sich auf seine Lippen. Eine Zweite führte einen Dolch, dessen schartige Klinge dem Unglücklichen erbarmungslos die Kehle durchschnitt. Blut sprudelte aus der grässlichen Wunde und der Ork schnappte mit gieriger Zunge danach, um ein paar Tropfen des Lebenssaftes zu kosten. Ein zweites der Ungeheuer packte den Mörder an der Kehle und sprach im Flüsterton: „Erst erledigen wir unseren Auftrag, dann kannst du deinen Gelüsten nachgehen!“
Augenblicklich stieß der andere den toten Körper zu Boden. Zwei Dutzend der unheimlichen Kreaturen scharten sich um ihren Anführer.
Mog war für einen Ork außergewöhnlich groß, mit breiten Schultern, mächtiger Brust und Armen, so dick wie ein Männerschenkel. Seine Kleidung, Jacke, Hose und Stiefel, bestand aus Tierfellen und dem entsetzlichen Geruch nach zu urteilen, hatte er sie seit geraumer Zeit nicht mehr gewechselt, geschweige denn gesäubert. Auf der faltigen Stirn seines kahlen Schädels perlten dicke Schweißtropfen ab. Die gelben, wässrigen Augen musterten die Umgebung. Er knurrte leicht und gab damit gelbe, faulige Zähne preis. Speichel trat über seine wulstigen Lippen und sonderte sich in schleimigen Fäden ab. Die rechte Hand umklammerte den langen Stiel der zweischneidigen Axt fester. „Ausschwärmen! Wir müssen das neugeborene Menschenkind finden. Doch denkt daran, ihm darf kein Leid zugefügt
werden!“
Dann brach über die ahnungslosen Bewohner des kleinen Dorfes das Grauen herein.
Mit schwingenden Klingen drangen die Orks in die Häuser ein. Sie brüllten und tobten wie die Berserker. Viele ereilte der Tod in den Betten. Männern, Frauen und Kindern wurden im Schlaf die Schädel gespalten oder die Eingeweide von rostigen Schwertern durchbohrt. Immer wieder schrieen die Orks nach dem Kind, dem neugeborenen Kind, das sie für ihre Herrin stehlen sollten. Sie durchwühlten die Zimmer eines jeden Hauses, schlugen alles kurz und klein. Männer, die sich den Angreifern mutig entgegen stellten, wurden niedergestreckt. Frauen, die ihre Kleinsten beschützen wollten, enthauptet. Die Orks kannten keine Gnade. Sie töteten die Kinder, die Pferde und sogar das Vieh in den Ställen. Manche, von ihrer Gierübermannt, legten die Waffen nieder und labten sich an ihren Opfern. Wenn sie einmal Blut und Menschenfleisch gekostet hatten, gerieten sie in einen unaufhaltsamen Rausch. Der Auftrag wurde vergessen. Jetzt galt es nur noch zu zerstören, zu töten, zu fressen.
Mog stürmte mit bluttriefender Axt in eines der Häuser. Der Hausherr, ein großer, kräftiger Mann mit dunklen Haaren, kam ihm mit einem Schwert entgegen. „Hinaus, du Bestie!“, schrie er und schaffte es tatsächlich, ein paar Angriffe des Orks zu parieren. Schließlich aber trennte ihm der Eindringling mit einem kräftigen Hieb den Kopf von den Schultern. Die junge Frau stand im Hintergrund, hob die Hände vors Gesicht und schrie aus Leibes Kräften, als sie den verstümmelten Körper ihres Mannes fallen sah. „Wo ist das Kind?“, schrie Mog und stieg über den Leichnam hinweg. Er wollte die Frau packen, doch sie wich seinem langen Arm aus und drückte sich an ihm vorbei. Er drehte sich nach ihr um und plötzlich prasselte ihm von hinten ein Schlag auf den Schädel. Es überraschte ihn selbst, dass er ins Taumeln kam und auf die Knie sackte. „Nimm es! Nimm das Kind und geh!“, vernahm er eine weibliche Stimme hinter sich.
"Es muss unbedingt am Leben bleiben!“
Der Ork nahm alles gleichzeitig in sich auf: Die junge Frau, die ein schreiendes Bündel aus einer Krippe holte und an ihre Brust drückte und eine Greisin, die hinter ihm stand und mit zitternden Händen eine Keule hielt. „Lauf! So lauf doch!“, schrie die Alte, ohne den Ork aus den Augen zu lassen. Mog stand brüllend auf. Das Kind war vergessen. Er war von einer Greisin niedergeschlagen worden. Diese Schmach war fast unerträglich für ihn.
Er hoffte, niemand seiner Kameraden hatte die Tat beobachtet. Sofort würde ihm jeder aus der Horde die Stellung des Anführers streitig machen.
Die alte Frau ließ entsetzt die Waffe fallen und kreischte, als sich das Ungeheuer vor ihr aufbaute. Seine Linke schnellte vor und die klobigen Finger packten brutal ihren Hals. Von Wutgebrüll begleitet schlug er ihren Kopf gegen die Wand. Der Schädel zerbarst, Blut und Gehirnmasse spritzten umher und besprengten die umgestürzten Möbel. Endlose Sekunden später dachte er wieder an die andere Frau und sah sich hastig um.
Die Frau war verschwunden.
Sie war mit dem Kind entkommen.
Vor Wut brüllend rannte Mog hinaus. Er schrie mit seiner krächzenden Stimme einen Befehl und sofort hetzten die ersten seiner Untergebenen zu ihm. Mog zählte fünf Orks. Einem befahl er, die restlichen einzusammeln, die anderen vier folgten ihm auf der Suche nach der flüchtigen Menschenfrau.
+++
Tamira rannte, rannte bis ihre Lungen zu bersten drohten. Das wimmernde Kind in den Armen, ohne Proviant und mit nichts als den Kleidern an ihrem Leib, rannte sie blind in die Dunkelheit hinein. Sie lief in den finsteren Wald, ohne auf die Äste zu achten, die in ihr Gesicht peitschten. Und wenn sie mit nackten Knien in die feuchte, laubbedeckte Erde stürzte, stand sie entschlossen auf und hetzte weiter. Sie wusste nicht wo sie war und wohin sie rannte, doch sie wusste, dass das Schicksal der ganzen Welt in ihrer Hand lag. Sie musste den schreienden Säugling retten. Sie musste ihn fortschaffen von diesen Kreaturen, die ihn ihr wegnehmen wollten, um ihn ihrer Herrin zu bringen. Sie betete still zu all ihren Göttern, sie mögen ihr beistehen. Die junge Frau stieg in das eisige Wasser eines Baches. Sie hoffte, so ihre Spuren zu verwischen. Außerdem mochte sie auf ein Dorf oder eine Siedlung stoßen, wo es Menschen gab, die sich ihrer annahmen. Wie Nadeln stach das eiskalte Wasser in ihre nackte Haut, doch mutig biss sie die Zähne zusammen und eilte weiter.
+++
Trotz ihrer scharfen Augen hatten die Orks die Spur der Menschenfrau verloren. Mog schrie und tobte und stampfte wütend auf den Boden. Als er sich langsam beruhigte, sah er seine Häscher an und befahl: „Wir schlagen hier ein Nachtlager auf, morgen verfolgen wir die Spur dieses Weibes weiter!“
Die Orks hatten schnell ein prasselndes Feuer entzündet und wärmten sich an den Flammen.
Niemand wagte ein Wort zu sprechen.
Mog holte ein kleines Säckchen hervor und streute ein wenig des weißen Pulver über das Feuer. Sofort tanzten bläuliche Lichter über den Flammen, bündelten sich und das Abbild Königin Getherens erschien.
Die Orks, einschließlich Mog, gingen auf die Knie.
„Wo ist das Kind? Zeigt es mir!“, sprach die Erscheinung. „Wir ... wir haben das Kind noch nicht, Herrin!“, stotterte Mog und erhob sich langsam.
"Ihr habt es nicht? Was ist geschehen?"
„Eine Frau ist mit dem Kind entkommen, aber sie wird bald in unseren Händen sein.“
Außer sich vor Wut spie die Königin blasphemische Flüche auf die Orks nieder.
„Du hast versagt, spüre meinen Zorn!“
Die Gestalt aus blauem Licht verwandelte sich in eine dämonische Schlangenbestie und schoss auf den hilflosen Mog zu. Wie ein lebendiges Reptil wickelte sich die Erscheinung um den Körper des kräftigen Ork und hob ihn vom Boden hoch. Mog keuchte, als sich die tödlichen Schlingen zuzogen und ihm die Luft aus den Lungen presste. Sein Keuchen wurdezu einem leisen Röcheln und schon hörte man das Reißen von Muskeln und das Bersten von Knochen. Der Körper zappelte noch wenige Sekunden und verharrte dann in Bewegungslosigkeit. Schließlich wurde er wie ein nasser Sack fallen gelassen und stürzte plump auf die feuchte Erde.
Der transparente Reptilienkörper verwandelte sich wieder in das Abbild der schönen Königin.
„Wer bist du?“, fragte sie barsch und deutete mit ausgestreckten Fingern auf einen der verängstigten Orks. Der Angesprochene, ein Ork von kräftiger Gestalt, der das fettige Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, antwortete mit bebender Stimme: „Ich bin Tug, meine Königin!“
„Nun denn, Tug, ich hoffe, du enttäuschst mich nicht so wie dein Vorgänger. Finde das Kind und bring es mir!“
Dann löste sich die Erscheinung in der Luft auf.
Der neue Anführer umklammerte den Griff des Schwertes und blickte auf den Toten zu seinen Füßen.
Nein, er würde seine Herrin nicht enttäuschen!
+++
Das einzige was sie hörte war das Klappern ihrer eigenen Zähne. Sie hatte in einem hohlen Baumstumpf Zuflucht gefunden und es trotz der durchdringenden Kälte geschafft ein wenig zu schlafen. Tamira schreckte plötzlich auf und sah mit klopfenden Herzen nach dem Baby.
Es lebte.
Die dünnen Lippen waren zwar blau angelaufen, der ganze Körper eisig kalt und die Atmung sehr flach, aber es war am leben. "Den Göttern sein Dank, du lebst noch", sprach sie zu dem Kind.
Die Kälte und der knurrende Magen trieben sie aus ihrem Versteck.
Sie kämpfte sich durch den dichten Wald und gelang schließlich auf eine breite Straße. Die junge Frau wiegte das unruhige Kind in ihren Armen und sah sich in beide Richtungen um. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte.
Seit Generationen führten die Menschen ihres Dorfes ein abgeschiedenes Leben. Nichts trieb sie in die Ferne, niemand gelüstete es, die großen Städte zu besuchen und keiner kümmerte sich um das Geschehen der Welt.
Mit einem Schulterzucken entschied sie sich für eine Richtung und marschierte los. Sie betete, so bald wie möglich auf menschliche
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2012
ISBN: 978-3-95500-640-2
Alle Rechte vorbehalten