Shogun – Band 10
Christiane Gref - Kabuki
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Masayuki Otara
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Kabuki
von Christiane Gref
Prolog
„Ich suche eine Freiwillige, die auf den Markt geht und Stoff für Hinas Kleid kauft“, sagte Okuni und klatschte dabei in die Hände, um die Aufmerksamkeit der schnatternden Frauen zu erringen. Schweigen senkte sich über die Gruppe. Keine von ihnen erwiderte Okunis Blick. Hina schaute zu Boden und drehte nervös ihren Haarkamm in den Händen. „Ayko, du wirst gehen“, entschied Okuni. Gehorsam stand die junge Frau auf und nahm den Korb, sowie den Beutel mit Münzen entgegen.
„Warum geht Hina nicht selbst?“, fragte Sakura.
„Das soll sie dir beantworten.“
Hina errötete und senkte den Kopf so tief, dass er fast die Brust berührte. Kaum hatte Okuni den Raum verlassen, überschütteten die Frauen ihre beschämte Kollegin mit Fragen. Es wurde totenstill, als Hina sagte: „Ein Mann zerriss mir gestern das Kleid. Ich ... ich konnte mich nicht wehren.“
„Ein Mann?“, kreischten die Frauen unisono.
Hina nickte; Tränen flossen aus ihren Augen. Sofort wurde sie umarmt und getröstet. Nach einer Weile sagte Sakura: „Trockne jetzt deine Tränen. Okuni wird es nicht dulden, wenn du mit dicken Augenlidern tanzt. Die Probe beginnt bald. Du kannst eines meiner Kleider haben.“
Tatsächlich wirkte der Trost, der ein Quäntchen Drohung enthielt. Die Frauen hatten Respekt vor Okuni. Schließlich war sie die Gründerin des Kabuki-Theaters. Sie hatte vor siebzehn Jahren ihre kühnen Träume wahr gemacht und zu Ehren der Götter in einem ausgetrockneten Flusslauf getanzt. Ihre Grazie hatte die Menschen bezaubert. Eben jene Anmut verlangte Okuni auch von ihren Tänzerinnen. „Eure Bewegungen müssen leicht aussehen, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings“, trichterte sie ihnen immer wieder aufs Neue ein. „Selbst wenn euch der Schweiß in Bächen den Rücken hinabläuft, darf das Publikum nicht einen Lidschlag lang euer tatsächliches Gewicht im Kopf haben, sondern es muss an Federn denken, die sanft zu Boden gleiten.“ Leider war dies allzu oft leichter gesagt als getan. Besonders Mayo, die ständig gegen ihr Übergewicht ankämpfte, glich eher einem behäbigen Fisch als einem Schmetterling.
Die Frauen kleideten sich für die Probe an. Am Abend sollte das erste Mal die Aufführung „Der ermordete Samurai“ stattfinden. Sorgfältig wurden die Schminke angerührt, die Haarbänder zurechtgelegt und die Kleidung ausgebürstet. Besonders Sakura, die den Samurai spielen sollte, wurde von den anderen Frauen kritisch beäugt.
„Wir können dir unzählige Bärte übereinander auf dein Gesicht malen, du siehst immer noch aus wie eine Frau“, schimpfte Hina, die das größte Geschick beim Schminken besaß. Sakura zuckte mit den Schultern. Unwillig trug Hina eine weitere Schicht Kohle, mit Öl vermischt, auf und zeichnete die Konturen des Bartes nach.
Die Probe glich einer Heimsuchung der Rachegötter. Okuni wurde nicht laut, obwohl ihr jeder Fehler, den sie mitansehen musste, körperliche Schmerzen zu bereiten schien. Die senkrechte Falte auf ihrer Stirn glättete sich nicht einmal. Sie gab Anweisungen und führte sogar hier und da eine Passage selbst auf, wenn es überhaupt nicht klappen wollte. Atemlos verharrten die jungen Frauen. Selbst im Alter von über vierzig Jahren war Okuni ihnen weit überlegen. Sie konnten sich nicht erklären, warum die Leiterin des Ensembles nicht mehr auftreten wollte. Okuni sagte, sie sei zu alt, doch ihre Anmut sprach ihrem Alter Hohn.
Kapitel 1
Sakura wartete auf ihren Einsatz. Die Scheide des Holzkatana umklammerte sie so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervorstanden. Ein echtes Schwert zu benutzen wäre ein Affront, der hart geahndet würde. Derart unwohl hatte sie sich in einer Rolle selten gefühlt. Es schien nicht richtig zu sein, dass sie einen Samurai spielte, der zudem noch hinterrücks ermordet wurde. Sagte man den edlen Kriegern nicht Unsterblichkeit nach? Wenn die Seelen der Samurai davongingen, war es der Wille der Götter, und sie starben ausschließlich im ehrlichen Kampf. An die Reaktionen des Publikums wagte sie nicht zu denken. Okuni hatte, allen Einwänden ihres Ensembles zum Trotz, auf dem Thema der Aufführung bestanden. Sie fürchtete die hohen Herren nicht. Allerdings hatte sie auch keinen Grund dazu, denn sie war eine ehemalige Schreindienerin, was sie zu einem unantastbaren Geschöpf machte. Leider galt dies nicht für das restliche Ensemble. Keine der Frauen hatte Dienst im Tempel verrichtet.
„Sakura, du träumst mit offenen Augen. Du bist an der Reihe“, scheuchte Okuni sie auf die Bühne. Hina spielte den gedungenen Mörder. Sie holte mit ihrem Holzschwert aus und deutete den tödlichen Hieb an. Sakura, die bäuchlings auf einem Tatami lag und so tat, als schliefe sie, spürte, wie der Stahl – Stahl? – in ihren Rücken fuhr und Muskeln, Knochen und Adern zertrennte. Sakura schrie auf und schlug wild um sich. Ihr Blut sickerte in die Matte. Ihre Hände, Arme, ja ihr ganzes Kleid waren rot getränkt. Schluchzend zog sie die Beine eng an den Körper. Dann schlug sie die besudelten Hände vor ihr Gesicht und weinte.
„Sakura! Steh auf!“, drang Okunis Stimme in ihr Bewusstsein.
Ich kann nicht, dachte Sakura. Hina hat mir die Knochen am Rücken zerteilt. Aber wieso? Ich habe ihr nie etwas getan.
Mit einem Ruck wurde sie auf die Beine gezogen. Ein Schlag ließ ihren Kopf zur Seite schnellen. Sakura kam wieder zu sich. Erschrocken sah sie an sich herunter. Kein Blut. Sie tastete nach ihrem Rücken, der ebenfalls unversehrt war. „Aber ich habe es doch gespürt!“, flüsterte sie.
„Wir machen eine Pause. Wenn die Sonne am höchsten Punkt steht, beginnen wir erneut mit der Probe. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich mir dann größte Konzentration ausbitte.“
Wortlos wandte sich Sakura ab, kaum, dass Okuni zu Ende gesprochen hatte, und verließ die Bühne. Hinter sich hörte sie Hinas Stimme: „Dabei hat sie so gut gespielt. Ich hatte wirklich Sorge, sie verletzt zu haben.“
Sakura umrundete die Holzplanken und das kleine Haus dahinter, das die Kostüme und Requisiten beherbergte. Der Weg führte sie zu einem Teich, der von einer geschwungenen Brücke überspannt wurde. Bekümmert stützte sie die Arme auf die Balustrade und schaute ins Wasser. Sie hoffte, dass die Fische, die gemächlich ihre Bahnen zogen, ihr ein wenig Ruhe schenkten.
*
Als hätten die Götter diesen Tag verflucht, ging alles schief. Zu Beginn der zweiten Probe war Ayko noch nicht vom Markt zurückgekehrt. Okuni war besorgt, denn sie hatte mit voller Absicht diejenige der Frauen geschickt, die sich durch die größte Zuverlässigkeit auszeichnete. Sakura war noch immer von ihrem Tagtraum schockiert, und Hina begann, eine Wut auf den Mann zu entwickeln, der ihr Kleid am Vorabend zerrissen hatte. Sie tanzte so schlecht wie noch nie zuvor. Die Stimmung im Ensemble war bedrückt. Sie sangen entweder nicht im Takt oder vergaßen ihren Text. Okuni brach auch diese Probe ab und ging persönlich zum Markt, um Ayko zu suchen. Die Falte auf ihrer Stirn schien sich noch tiefer eingegraben zu haben.
Sakura wurde derweil von einem Zaungast in ein Gespräch verwickelt. Zwar lag die Bühne etwas außerhalb der belebten Regionen Kyotos, dennoch fanden sich häufig Zuschauer ein, die zu arm waren, um sich den Eintritt leisten zu können, und die stattdessen eine fehlerhafte Probe in Kauf nahmen. Sie standen am Rande der blank polierten Bühnenbretter und sahen mit gespannten Gesichtern zu den Schauspielerinnen empor. Sakura saß auf ihren Fersen, die Hände züchtig in den Schoß gelegt, und stand ihnen Rede und Antwort, während die anderen Frauen die Kulisse wegräumten.
„Es schickt sich nicht, dieses Thema zu spielen“, sagte ein altes Väterchen und zupfte entrüstet an seinem langen Bart. „Was ist nur aus dem guten Noh geworden?“
„Das Noh findet nach wie vor statt. Nur an einem anderen Ort. Verzeih einer unwürdigen Tänzerin diese Belehrung, nur würde mein Herz vor Trauer weinen, wenn ich dir dies vorenthielte.“
„Ich weiß, wohin mich meine Füße tragen müssen, wenn es mich nach Anmut dürstet.“
Sakura versuchte, sich die Schmach nicht ansehen zu lassen, und lächelte den alten Mann an. Leider ließ er kein gutes Haar an den Frauen. Er wandte sich ab und schlurfte davon. Seinen Gehstock, den er in regelmäßigen Abständen auf den Boden schnellen ließ, benötigte er im Grunde nicht. Sakura war sicher, dass er sie unterwegs eilends überholen würde, gäbe es auf dem Markt unverhofft kostenloses Essen.
Seufzend erhob sie sich und ging ins Kleiderhaus, um sich ihres Kostüms zu entledigen und sich die Schminke vom Gesicht zu waschen. Das Haus bestand nur aus einem Raum, der zwei Zugänge besaß. Linker Hand waren die Kleider säuberlich aufgehängt und rechter Hand befand sich ein Tisch, auf dem die Gesichtsfarben aufbewahrt wurden. Daneben lehnten die Kulissen an der Wand. Sie waren so gefertigt, dass man sie für einen Szenenwechsel umklappen konnte. Eine Truhe mit Requisiten war unter den Tisch geschoben, um Platz zu schaffen.
„Was tun wir, bis Okuni und Ayko zurückkehren?“, wollte Mayo wissen.
„Ich weiß nicht, was ihr tun wollt, aber ich gehe zum Markt und kaufe mir ein paar Taiyaki“, erwiderte Sakura.
„Du wirst noch fett, wenn du weiter so maßlos isst. Eine Frau sollte nicht so viel in sich hinein schlingen“, sagte Mayo.
„Eine Frau sollte allerdings auch keinen Hunger leiden. Soll ich dir auch ein Stück Gebäck mitbringen?“, fragte Sakura zuckersüß.
Mayo schob trotzig die Unterlippe vor und schwieg.
Kapitel 2
Auf dem Markt herrschte reges Treiben, wie immer, wenn sich die Sonne zeigte. Einige Adlige aus dem Palast flanierten zwischen den Ständen umher, eskortiert von ihrer Leibgarde. Sakura konnte problemlos ausmachen, wo sich die Schar befand, denn überall, wo sie vorbeikam, verbeugten sich die anderen Marktbesucher sehr tief. Sakura nahm einen anderen Weg, denn sie hielt nichts von den aufgeputzten Gockeln, die ihre Gewänder spazieren führten und die nur auf die Bewunderung der armen Menschen aus waren.
Sakura schaute nach dem Stand der Sonne. Sie durfte sich nicht zu lange auf dem Markt aufhalten. Die Zeit würde gerade genügen, um sich an ihrem Lieblingsstand zu verköstigen, dann musste sie bereits wieder ins Theater zurück. Shouta, dem der Stand mit dem besten Gebäck Kyotos gehörte, nahm ein Stück gewachstes Papier zur Hand, als er Sakura auf sich zueilen sah. Ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen, häufte er bereits fünf fettglänzende Taiyaki auf das Papier und machte Anstalten, es ihr über seine Auslagen hinwegzureichen. Doch plötzlich hielt er inne. Das Papier auf seiner Handfläche vibrierte. Tief verbeugte sich Shouta vor jemandem, dem Sakura den Rücken zuwandte. Sie sah über die Schulter zurück und gewahrte einen Samurai, der gelangweilt die Umgebung musterte. Nein, dachte sie entsetzt, er ist nicht irgendein Samurai. Er ist der Samurai!
Der Blick des Kriegers glitt über sie hinweg, als existiere sie nicht. Er trat an den Stand, keinen Schritt von Sakura entfernt. Sie ging langsam rückwärts, dabei bemühte sie sich, den Oberkörper gebeugt zu halten und den Rücken durchzustrecken. Es fehlte noch, dass sie durch mangelnde Grazie auffiele. Shouta begann zu zittern.
„Gib mir zwanzig Taiyaki für meinen Herrn“, befahl der Krieger und machte eine Vierteldrehung, um die anderen Köstlichkeiten zu betrachten, die Shouta verkaufte. Sakura riss die Augen auf. Am Rücken des Samurai, bahnte sich ein Rinnsal Blut seinen Weg zwischen den Plättchen der Rüstung hindurch und überzog das matte Metall mit einem glänzenden Film. Sakuras Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Mehr Blut quoll hervor.
„Zwanzig Taiyaki. Sofort“, sicherte Shouta dem Samurai zu und stapelte eilends die Gebäckteilchen auf.
„Willst du die Nahrung etwa darin einwickeln?“ Der Samurai deutete angewidert auf das Wachspapier. Shouta nickte unsicher.
Sakura stolperte und trat auf den Saum ihres Gewandes. Das Geräusch reißender Seide ließ den Samurai kampfbereit herumzucken. Die Tänzerin blickte in völlig schwarze Augen, die von einem milchigen Schleier überzogen waren und in denen der Tod wohnte. Die Haut des Kriegers sah aus wie brüchiges Wachs, der Bart wie mit Tusche gezeichnet.
„Was starrst du mich so an?“
„Es liegt nicht in meiner Absicht, einen ehrenwerten Krieger des Palastes zu beleidigen.“
„Warum tust du es dann?“ Er lächelte überheblich mit halb geöffneten Lippen. Seine Zunge war schwarz und kräuselte sich zwischen gelben Zahnstummeln. Ohne Sakura weiter zu beachten, wandte er sich wieder dem Verkäufer zu und knüpfte nahtlos an das vorangegangene Gespräch mit ihm an.
„Nein, das Papier ist dem Stande meines Herrn nicht gemäß. Packe die Stücke in diese Kiste dort.“
Die Angst, einem Adligen einen Wunsch abzuschlagen, wog schwerer als der Verlust des Kästchens, obgleich es eine Hochzeitsgabe gewesen war. Der Samurai nahm die Kiste entgegen, verbeugte sich knapp und bezahlte die Gebäckstücke.
Sakura rang mit sich selbst. Sie wusste, dass der Samurai in Gefahr war. Allerdings wusste sie auch, wie die Angehörigen des Palastes Ungehorsam ahndeten. Sie entschied sich für den goldenen Mittelweg und warf sich vor dem Krieger auf den Boden. Die Stirn drückte sie fest auf die Erde. Jetzt musste sie warten, ob der Samurai ihrer Bitte um Gehör nachkam oder einfach über sie hinweg oder, schlimmer noch, auf sie trat.
Sakuras Herz klopfte hart gegen ihre Rippen. Der Krieger verharrte eine geraume Weile bewegungslos. Sein Schatten hüllte Sakura ein und füllte sie mit innerer Kälte. Doch schließlich schien seine Neugier zu siegen. „Was willst du von mir, Frau?“
„Ich sorge mich um das Wohlergehen des ehrenwerten Samurai.“
„Das ist wirklich nett von dir. Ich kann dich beruhigen, es geht mir ausgezeichnet.“ Er lachte humorlos.
„Gewiss, doch ich sehe großes Unheil und bitte inbrünstig darum achtzugeben.“
„Du bist eine Seherin?“
„Ich bin Tänzerin.“
„Das reicht. Ich werde meine kostbare Zeit nicht länger damit verschwenden, dir zuzuhören. Geh mir aus dem Weg.“
Sakura erhob sich steif und ließ den Samurai passieren. Sie sah nicht zu ihm auf.
Shouta stand mit versteinerte Miene da und bewegte sich erst wieder, als der Krieger außer Sichtweite war.
„Bist du von allen Göttern verlassen? Wie kannst du es wagen, einen Angehörigen des Palastes zu belästigen?“
„Shouta, bitte sei gnädig. Ich habe meine Gründe dafür.“
„Und die wären?“
„Das würdest du mir
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2012
ISBN: 978-3-95500-630-3
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