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Shogun – Band 7
Janine Höcker – Der blinde Samurai
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Masayuki Otara
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de

Erstes Kapitel: Ein Hauch von Kälte

Daimyo Musanaga Hayato saß im Schneidersitz auf den harten, aus Reisstroh gefertigten Tatami-Matten seines Thronsaals und blickte mit grimmiger Miene auf die randvoll mit grünem Tee gefüllte Tasse, die vor ihm auf dem niedrigen Tisch aus dunklem Holz stand.
Der Herr der Dorfprovinz Katunoru hatte bis jetzt keinen einzigen Schluck genommen; zu schwer lag ihm die Nachricht im Magen, die er kürzlich von einem seiner Vertrauten erhalten hatte.
Vor einer halben Stunde schon hatte er nach seinen Söhnen rufen lassen, doch waren sie seinem Befehl bisher nicht gefolgt, so dass Musanaga Hayato wie auf brennenden Kohlen ausharren musste.
„Ich wüsste gern, wo sie sich herumtreiben“, murmelte er und zog einen verzierten Fächer aus seinem Gürtel, um ihn aufzufalten und nervös damit zu fächeln. Im gleichen Moment sah er aus den Augenwinkeln zwei Schatten, die vor den durchscheinenden Schiebetüren der Halle, den Shojis, auf die Knie stürzten. Nur einen Herzschlag später wurde die zarte Papiertür flink zur Seite geschoben.
Es dauerte weitere lange Sekunden, bis drei junge Männer in der Tür erschienen und mit langsamen, erhabenen Schritten den Raum betraten. Hayatos Söhne Tageochi, Aguri und Izumi trugen edle Gewänder aus robusten Stoffen in verschiedenen Farben, die sich vorzüglich für alle vorstellbaren Situationen eigneten – ebenso zu einem Besuch bei ihrem Fürsten, dem Daimyo, als auch zum Reiten oder zum Kämpfen. Während die beiden jüngeren Männer lediglich diese Kleidung trugen, war Tageochi in eine leichte Lederrüstung gehüllt. Einen Helm trug er in der rechten Hand, sein Langschwert, das Katana, sein Kurzschwert und sein Dolch, der Tanto, steckten wie gewohnt in seinem Gürtel, dem Obi.
„Herr?“ Tageochi ging bis auf fünf Meter an seinen Vater heran, verneigte sich dann tief und kniete sich auf dem Boden nieder. Sein seidiges, schwarzes Haar, das er wie immer zu einem langen Zopf gebunden trug, reichte in dieser Körperhaltung fast bis auf den Boden. Einige Strähnen wehten widerspenstig in das hübsche Gesicht des jungen Mannes, doch Tageochi sah in diesem Moment davon ab, sie fortzustreichen.
Aus den Augenwinkeln beobachtete der Zwanzigjährige, dass seine beiden jüngeren Brüder seinem Beispiel folgten, doch knieten sie in noch größerer Entfernung zu dem Daimyo nieder als er selbst.
„Tageochi“, begann Hayato mit strenger Stimme, „ich bin wahrhaft enttäuscht von dir und deinen Brüdern. Ich hatte vor einer Ewigkeit nach euch schicken lassen, und ihr folgt meinem Ruf erst jetzt?“ Die ergrauten Augenbrauen des ehrwürdigen Fürsten zogen sich zusammen und seine Stirn legte sich in Falten.
„Gomenasai! Verzeiht, Herr!“ Tageochi verneigte sich erneut, fast bis auf den Boden, und sein von einer beinah weiblichen Anmut gezeichnetes Gesicht verzog sich zu einer reuevollen Miene.
„Selbst die Vögel zwitschern von der Kunde, die ich euch zutragen wollte, doch wie mir scheint, habt ihr kein Interesse für die Belange eures Herrn!“ Hayato war streng und zornig. Er sah keinen Grund dafür, seinen Söhnen ihren Fehltritt nachzusehen, und er wollte sie keinesfalls auf eine andere, bevorzugtere Weise behandeln als seine übrigen Untergebenen. Seitdem die drei offiziell in seinen Dienst getreten waren, war er nicht länger ihr Vater, sondern vielmehr ihr Herr, ihr Daimyo, und ihr Befehlshaber. „Ich kann Ungehorsam nicht dulden“, fuhr er mit schneller Stimme fort. „Und von einem Samurai hätte ich dieses Verhalten nun wirklich nicht erwartet“, fügte er mit einem verächtlichen Blick auf Tageochi hinzu.
„Aber Vater!“ Izumi, der jüngste der Brüder, sprang vom Boden auf und rief aufgebracht, noch bevor der überraschte Daimyo ihn zum Schweigen bringen konnte: „Vater, es waren dringende Gründe, die uns ferngehalten haben. Zumal wir nicht einmal in der Nähe der Burg waren. So dauerte allein der Ritt zurück nach hier schon eine lange Zeit.“
„Izumi!“, donnerte Hayato und faltete seinen Fächer geräuschvoll zusammen, um im nächsten Moment mit dem Accessoire auf seinen Sohn zu deuten. „Du hast kaum siebzehn Winter erlebt, bist weder Samurai noch sonst ein hoher Mann in meinem Reich. Ich kann nicht glauben, dass du es wagst, gegen mich aufzubegehren. Meine Entscheidungen sind die Gesetze in Katunoru, das muss ich dir nicht erklären.“
„Verzeih, Vater ... Herr!“ Izumi zitterte, seine Augen waren feucht und er bereute sein Fehlverhalten. „Ich werde jede Strafe auf mich nehmen, die Ihr für mich vorseht, Herr!“
„Ich werde später darüber urteilen“, gab Hayato missbilligend zurück und strafte seinen jüngsten Sohn durch Nichtbeachtung. Gleich darauf wandte er sich wieder an Tageochi und erklärte: „Ich habe dich nicht ohne Grund zu mir rufen lassen, Tageochi. Da du mit deinen zwanzig Wintern am ältesten bist, hielt ich dich bis heute auch für am verständigsten. Bis jetzt warst du einer meiner treuesten Gefolgsmänner, wenn nicht der Treueste von allen. Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht, Samurai!“
„Gewiss nicht, Herr!“ Tageochi hatte sich aus seiner Verbeugung gar nicht erst wieder aufgerichtet, so dass er nun vor seinem Vater liegen blieb und beteuerte: „Es tut mir unendlich leid, Herr. Ich schwöre bei meinem Leben und unseren Ahnen, dass ich nie wieder so frevelhaft mit einem Eurer Befehle umgehen werde.“
„Gut.“ Musanaga Hayato nickte zufrieden und wandte sich dann an Aguri und Izumi. „Ihr werdet den Thronsaal verlassen.“
„Aber ...“ Aguri verstand nicht. Dennoch stand er auf und zog Izumi mit sich hoch. „Aber ich dachte, Ihr hättet uns drei zu Euch gerufen, nicht bloß Tageochi.“
„Ihr wolltet den Thronsaal verlassen“, wiederholte Hayato und wies mit seinem Fächer auf die durchscheinende Schiebetür am anderen Ende des Raumes. Zögernd und mit zweifelnden und verwirrten Mienen folgten die beiden jüngeren Söhne der Aufforderung des Daimyos. Als sie den Shoji erreichten, wurde er von außen leise geöffnet und direkt hinter ihnen wieder geschlossen.
„Ungehorsam muss bestraft werden“, folgerte Hayato mit leiser Stimme und schüttelte vage den Kopf, um seinem Unverständnis Ausdruck zu verleihen. „Tageochi!“, rief er dann mit rauer Stimme und einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch duldete.
„Herr?“ Der junge Samurai blickte auf. Seine feingeschwungenen, tiefschwarzen Augen musterten den Vater mit einer Mischung aus Stolz und Härte. Der junge Mann war der treueste Diener des Daimyo und war bereit, alles für ihn zu tun. Tageochi sah in Hayato schon seit Jahren nicht mehr einen Vater, sondern den Herrscher Katunorus, dem es Folge zu leisten galt.
Musanaga Hayato liebte seinen Sohn aufgrund der Vielzahl wunderbarer Eigenschaften, die er in sich vereinbarte. Der junge Mann verfügte über eine ausgezeichnete Geschicklichkeit und Anmut, die sich in jeder seiner Handlungen, in jedem Schritt und in jedem Blick widerspiegelte. Jedes seiner Worte war gewählt und präzise gesetzt, und seine aufmerksamen Blicke zeugten von Disziplin und hoher Intelligenz. Wo immer Tageochi auftrat, zog er viele Blicke auf sich. Sein verwegener Charme und die beinah weibliche Schönheit über seinem durchtrainierten, hochgewachsenen Körper bildeten eine faszinierende Einheit, die mit dem Mut und dem Selbstbewusstsein des jungen Kriegers verschmolzen.
„Tageochi, du bist mir der liebste Krieger unter meinen Samurai. Kaum jemand versteht es, so gut mit den Schwertern umzugehen wie du. Niemand verfügt über eine Geschicklichkeit, eine Stärke und ein Verständnis, wie du es tust, oder weiß diese so zu nutzen wie du“, erklärte der Daimyo, und Tageochi glaubte, ein wenig Wärme in der Stimme seines Vaters erkennen zu können.
Mit gesenktem Blick starrte der junge Samurai auf den dunkelblauen Stoff seines Kimonos und spürte, wie ihm heißes Blut in die Wangen schoss, als der Daimyo voller Ernst sagte: „Du bist mir immer der liebste Sohn gewesen und ich weiß, dass du mich niemals enttäuschen wirst. Gerade aus diesem Grund bin ich froh, dass du einer meiner höchsten Samurai bist und neben deiner Mutter mein engster Vertrauter.“
„Habt Dank, Herr! Ihr schmeichelt mir zu Unrecht“, erwiderte Tageochi und sah kurz auf, um seinem Vater in die Augen zu blicken.
„Dennoch werde ich dich nicht den anderen vorziehen. Und auch deine Brüder werden nicht anders behandelt werden, sollten sie irgendwann einmal ihren kindlichen Leichtsinn und ihre Torheit ablegen.“
„Natürlich nicht, Herr“, sagte Tageochi mit fester Stimme. „Ihr seid weise, Herr.“
„Ich verlange von euch wie von jedem meiner Männer absoluten Gehorsam; was auch immer euch vorhin davon abgehalten hat, schneller zu mir zu kommen – es darf nie wieder geschehen! Ich erwarte, dass du diesen Befehl an deine Brüder weitergibst.“
„Hai! Ja, Herr.“
„Gut.“ Musanaga Hayato stand vom Boden auf, steckte den Fächer in seinen Obi zurück und meinte dann mit fester Stimme: „Ich habe euch nicht ohne Grund zu mir rufen lassen. Doch ich habe mich entschieden, dir allein die Nachricht anzuvertrauen, die mir an diesem Morgen ein Bote überbrachte. Deine Brüder sind zu töricht; außerdem werden sie früh genug davon erfahren, wenngleich auch aus anderer Quelle.“
„Ich werde schweigen, Herr“, versprach Tageochi und kniete sich wieder aufrecht hin. Seine gesamte Haltung sprach von dem Stolz, der ihm innewohnte, und sein blasses Gesicht zeugte von keinerlei Gefühlsregung.
„Selbstverständlich erwarte ich Loyalität von dir, Tageochi. Doch wenngleich nicht ich es sein werde, der deinen Brüdern von den Unglücken berichtet, die über unsere Heimat ziehen, erwarte ich, dass du sie an meiner Statt unterrichtest!“ Hayato sprach, wie so oft, einige seiner Worte nicht zu Ende oder formte sie in einer Weise um, wie es nur hohen Adeligen zugestand. Der Daimyo sprach in dieser abwertenden Weise gewöhnlich nur mit seinen Untergebenen, mit seinen Söhnen aber nie. Dass er es heute tat, erfüllte Tageochi mit Kummer. Doch wusste er auch, dass er die geringschätzige Behandlung seines Vaters selbst verschuldet und verdient hatte.
„Ja, Herr“, entgegnete Tageochi schnell. „Wenn Ihr mir erzählt, was ...“
„Ich werde dir davon berichten“, fuhr Hayato fort, ohne darauf zu achten, dass er seinen treuesten Samurai unterbrach. Der Daimyo blickte seinen Sohn mit sorgenvoller Miene an und berichtete ihm dann, dass in der angrenzenden Provinz Unruhen herrschten.
„Wie du weißt, war unsere Familie seit jeher mit dem Clan der Koguawas verfeindet, doch jetzt, befürchte ich, plant Daimyo Koguawa Hainnoku Atto einen Hinterhalt gegen unser Reich.“
„Seit Ihr Euch sicher, Herr?“ Tageochi wirkte zerknirscht. Er wusste, dass die Worte seines Vaters großes Unheil bedeuteten.
„Die Samurai, die im Norden unseres Reiches patrouillierten, fanden heute im Morgengrauen sieben Männer, die im Verlauf von sieben Meilen um Katunoru herum von Pfeilen durchbohrt am Boden lagen“, erwiderte der Daimyo streng. „All diese Pfeile trugen das Wappen des Koguawa-Clans.“ Er hielt einen Moment inne und erklärte dann: „Du weißt, was das zu bedeuten hat, Tageochi. Es ist eine eindeutige Botschaft – ein Aufruf zum Krieg!“
„Was sollen wir tun?“, begehrte Tageochi zu wissen. „Soll ich Eure Männer zusammenrufen?“
„Halte ein!“, befahl der Daimyo und fügte dann langsam hinzu: „Frühestens wenn die Küken aus dem Ei schlüpfen und zu zwitschern beginnen, wird auch das Nest der klügsten Vogelmutter verraten sein.“
Tageochi verbeugte sich abermals tief, begreifend, dass sein Herr zunächst einmal abwarten wollte, anstelle eine überstürzte Handlung zu begehen.

*

Nur wenige Minuten später verwies Hayato seinen Sohn des Raumes, und Tageochi lief eiligen Schrittes hinaus. Wie ein dunkler Schatten lag die Bedrohung durch den Koguawa-Clan über Katunoru, und der junge Samurai glaubte, die Finger des Krieges bereits zu spüren, die nach der Provinz seines Vaters tasteten.
Flink schlüpfte er in seine Reiterstiefel und verließ die Burg seines Herrn, um seine Brüder aufzusuchen und ihnen von den beunruhigenden Worten des Vaters zu berichten.

*

Hell strahlte die Sonne von einem blauen Himmel herab, doch vermochte auch sie es nicht, das getrübte Gemüt des jungen Kriegers mit Frohsinn zu erfüllen. Ohne auf die Schönheit der gerade im Frühling erwachten Natur zu achten, hetzte Tageochi den Hügel hinab, auf dem die Burg des Vaters stand. Er wollte das Dorf Katunoru erreichen, das sich eng an den grünen Hügel schmiegte, da er dort die Anwesenheit seiner Brüder vermutete.
Tatsächlich entdeckte er sie nach nur wenigen Minuten. Sie standen auf einer halbrunden Brücke aus Bambus, die einen kristallklaren Bach überquerte, der durch Katunoru floss. Gemeinsam mit ihren beiden Schwestern schienen sich die jungen Männer über die Ungerechtigkeiten des Vaters auszutauschen. Tageochi konnte genau erkennen, wie die beiden den Vater nachahmten und ihre Schwestern kichernd applaudierten.
Als er jedoch zu ihnen stieß, schwiegen sie schnell und wandten ihrem ältesten Bruder ihre volle Aufmerksamkeit zu. Sie alle waren neugierig, was Tageochi zu berichten wusste, doch mussten sie dem Samurai zunächst an einen entlegeneren Ort des Dorfes folgen, bevor er bereit war, die Worte des Vaters zu wiederholen.
Um kein Aufsehen zu erregen, schickten sie die umstehenden Leute fort und achteten peinlich darauf, dass niemand ihnen zu nahe kommen und ihren Gesprächen lauschen konnte.
Die vier Geschwister waren ebenso bestürzt wie Tageochi ob der Botschaft und bedauerten den Tod der sieben Krieger im Norden Katunorus. Doch sie beschlossen, dem Befehl des Vaters Folge zu leisten und erst einmal abzuwarten.


Zweites Kapitel: Maskentanz

Weitere Tage kamen und gingen, während immer wieder patrouillierende Samurai am Grenzgebiet der kleinen Provinz ermordet aufgefunden wurden. Mit der Zeit wurden die Grausamkeiten schlimmer, und anstelle von mit einzelnen Pfeilen durchbohrten Toten fand man letztendlich bloß noch die Köpfe der Hingerichteten – aufgespießt auf Speeren. Diese Handlungen waren eine klare Kampfansage, der Koguawa-Clan bereitete sich auf einen Angriff oder einen Hinterhalt vor, das wusste inzwischen jeder in Katunoru.
Dennoch hatte Daimyo Musanaga Hayato mehr als zwanzig Tage verstreichen lassen, ohne dem Feind die Stirn zu bieten oder auch nur seine engsten Vertrauten über seine Pläne aufzuklären. Für die Bewohner Katunorus wirkte es zeitweise sogar so, als habe ihr Fürst gar keinen Plan erdacht, was den Unmut und die Angst unter der Bevölkerung sehr schürte.
Weder Tageochi noch ein anderes Familienmitglied hatten den Daimyo innerhalb der vergangenen Tage zu Gesicht bekommen; sie waren weder über seinen Gemütszustand noch über seine weiteren Absichten informiert. Dennoch waren es Tageochi und seine Brüder und Schwestern, welche die Bewohner Katunorus beruhigen und ihnen erklären mussten, wie die derzeitige Lage war.

*

„Ich verstehe nicht, was Vater beabsichtigt!“, schimpfte Yumie, die jüngste der beiden Schwestern, und zog ihren geblümten Fächer aus den weiten Ärmeln ihres Kimonos. „In all den Jahren zuvor wussten wir immer, was er beabsichtigt. Seit jeher hat er uns in seine Pläne eingeweiht und zumindest Tageochi an seinen Überlegungen teilhaben lassen. Ich begreife es nicht, weshalb er sein Volk und auch uns in dieser schwierigen Zeit so sehr im Ungewissen lässt.“
„Urteile nicht so vorschnell und sprich nicht so erhitzt, Schwester“, forderte Satomi, das ältere der beiden Mädchen. Gemeinsam standen sie an einem der zahlreichen Seen der Provinz und blickten im strahlenden Sonnenschein auf die unzähligen Fische, die unter der Wasseroberfläche ihre neckischen Spiele trieben. „Vater wird schon einen Sinn in seinem Tun sehen, Yumie. Vater ist ein sehr weiser Mann, und er ist ein guter Daimyo. Er wird weder uns noch sein Volk im Stich lassen. Auch wenn er uns dem Volk nicht länger vorzieht, werden wir, ebenso wie die übrigen Menschen in Katunoru, bald erfahren, welche Gedanken er hegt. Dessen bin ich sicher.“
„Mögen die Götter deine Worte hören, Satomi-chan!“ Yumie gebrauchte absichtlich die Koseform, um ihre ältere Schwester zu beschwichtigen. Die feingeschwungenen Mandelaugen des zarten Mädchens blitzten kampfesmutig. Sie zischte: „Ich sage dir, dass etwas Schlimmes auf Katunoru zukommt! Und wenn Vater noch weiter schweigt und sein Tun unter den Schatten der Zedern verbirgt, wird ihm sein Volk davonlaufen, da es keinen Rat weiß, wenn das Unheil erst über uns kommt.“
„Sieh nur!“, unterbrach Satomi das Mädchen und wies einen Pfad entlang, der sich über hölzerne Brückchen und vorbei an Reisfeldern und Viehweiden am Rand des Dorfes entlang schlängelte. „Dort kommt Tageochi!“
Als Yumie den Kopf wandte und dem Fingerzeig der Schwester nachblickte, erkannte auch sie ihren Bruder schnellen Schrittes heraneilen. Wie immer war der stattliche junge Mann in edle Gewänder und seine lederne Rüstung gehüllt. Seine Klingen trug er stolz in den Obi gesteckt und sein langes Haar wehte ihm verwegen in das Gesicht.
Als der junge Samurai seine Schwestern erblickte, lief er eilends auf sie zu und winkte ihnen.
Yumie und Satomi eilten ihrem Bruder entgegen, so schnell sie auf ihren hohen Sandalen, den Getas, laufen konnten. Doch bevor sie ihn erreichten, stürzten plötzlich zwei in einfache Kleider gehüllte Männer heran und warfen sich vor dem edlen Samurai auf den staubigen Weg.
Tageochi hielt abrupt an, um nicht über die Männer zu stolpern, und wollte von ihnen wissen, weshalb sie sich anmaßten, ihn in seinem Lauf zu unterbrechen.
„Verzeiht, oh Herr!“, bat einer der Männer, während beide ihre Stirn tief über den Boden senkten und kaum aufzublicken wagten.
„Verzeiht, wir sind töricht“, murmelte auch der andere mit jammernder Stimme.
Yumie und Satomi näherten sich ihren Bruder bis auf etwa fünf Meter und blieben dann unter einem verkrüppelten Pflaumenbaum stehen, um zu beobachten, was weiter geschah.
„Herr, verzeiht, doch unser Begehr duldet keinen Aufschub“, erklärte einer der Männer und blickte für einen kurzen Moment nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde musterte er das angespannte Gesicht des Samurai, blickte er in seine funkelnden, schwarzen Augen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Boden zuwandte.
„Nun?“, knurrte Tageochi ungehalten. „Sprich, denn ich habe nicht viel Zeit. Ich hoffe, dein Anliegen ist wirklich wichtig.“
„Herr, mein Sohn und ich besitzen einen Hof weit außerhalb Eures Dorfes, hoch in den Hügeln“, berichtete der ältere der beiden Männer. „Von dort haben wir einen guten Blick auf Katunoru, aber auch auf das umliegende Land und die Provinz des ehrwürdigen Herrn Koguawa.“
„Heute waren wir auf den Feldern, als wir plötzlich bewaffnete Truppen herannahen sahen!“, platzte es aus dem jüngeren Mann heraus. Er kniete sich aufrecht hin und blickte geradewegs in Tageochis hübsches Gesicht, das im gleichen Moment zu versteinern schien. „Es waren Dutzende Männer, gehüllt in schwere Rüstungen. Sie waren

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2012
ISBN: 978-3-95500-627-3

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