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Shogun – Band 3
Gunter Arentzen – Yama-Onna
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Masayuki Otara
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de

Yama-Onna
von G. Arentzen

Ryo fixierte seinen Gegner. Das Schwert in seiner Hand wurde zu einer Verlängerung seines Armes, während er mit einem raschen Sprung auf den schon älteren Mann zueilte und ohne zu zögern zwei schnelle Hiebe ansetzte. Doch er konnte seinen Gegner nicht verletzten, da dieser ebenso schnell reagierte und die Hiebe abwehrte.
Der junge Krieger spürte, dass sich die Vibrationen des Schlags durch den Griff des Katanas auf seine Hand übertrugen. Er hörte auch das metallische Schaben, als die beiden Schneiden gegeneinander rieben. Nur Sekunden später befanden sich die Gesichter der Männer so dicht beieinander, dass sie den Atem des jeweils anderen auf ihrer Haut fühlen konnten.
Ryo nahm den Geruch seines Gegners war. Er sah den Schweiß über die Stirn des Alten perlen, hörte dessen rasselnde Atemzüge und spürte auch die Schwäche des Mannes, als er den Druck etwas erhöhte. Der junge Krieger drehte die Klinge leicht nach rechts, während er das Katana gleichzeitig nach vorne kippte. Noch einmal erhöhte er den Druck. Er trieb den Alten über den Hof des kleinen Anwesens. Dabei zwang er ihn, rückwärts zu laufen. So lange, bis sein Gegner strauchelte und in den Schnee fiel, der erst wenige Stunden zuvor gefallen war.
Der Alte öffnete seine Hand und ließ das Schwert los. Ryo hingegen schenkte dem Mann ein kurzes, triumphales Lächeln, ehe er das Katana einmal drehte und die Spitze schließlich in die Tiefe stieß. Knapp über der Kehle seines Gegners hielt er jedoch inne. Sein Blick fraß sich in den des Alten.
„Sehr gut“, lobte dieser, ehe er sich auf die Beine helfen ließ. „Du hast viel gelernt, seit du als Knabe zu mir gekommen bist. Nun kann ich dich mit ruhigem Gewissen in die Welt entlassen. Du wirst mir Ehre bereiten; so, wie du deinem Daimyo Ehre bereiten wirst. Schon morgen früh kannst du dich seiner Armee anschließen.“
Ryo nickte knapp. Stolz erfüllte ihn. „Das verdanke ich nur Euch. Ihr habt mich gelehrt, was ich wissen muss um zu bestehen. Meine Ehre wird Eure Ehre sein.“
Der Alte lächelte gütig. Ein Gefühl von Wehmut überkam ihn, während er den jungen Samurai betrachtete. Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als Ryo zu ihm gebracht worden war. Der zarte Körper des Jungen, sein wacher Geist und seine hervorragenden Reflexe hatten ihn von der ersten Sekunde an beeindruckt. Es war ihm eine Freude gewesen, ihn auszubilden. Jeden Tag, ja jede Sekunde mit dem Knaben hatte ihn diese Freude erneut erleben lassen. Der Alte zweifelte keinen Moment daran, dass Ryo seinen Weg gehen würde.
Die beiden Männer betraten das kleine Haus. „Ich möchte, dass du ein Bad nimmst. Anschließend werde ich dein Haar schneiden. Es gibt nichts mehr, was ich dich noch lehren könnte.“
„Danke, Meister“, erwiderte der angehende Samurai knapp, ehe er den großen Raum mit den Matten durchmaß und in ein kleines Zimmer trat. Dort stand der Zuber, in dem er sich waschen konnte.
Während er das Wasser auf einer Feuerstelle erhitzte, gab er Öle in die Wanne. Er wollte einen angenehmen Duft verströmen, wenn er den Haarschnitt der Samurai erhielt.
Der Moment, für den er all die Jahre geübt hatte, stand nun unmittelbar bevor. Kein Schüler mehr, sondern ein Krieger. Während er das Wasser in den Zuber gab und sich selbst hinein setzte, trieben seine Gedanken davon.
Er sah große Schlachten und gefallene Gegner. Blut würde er vergießen, wenn es ihm befohlen wurde, und seinen Daimyo schützen. Das Leben eines Samurai hielt Krieg und Ehre bereit. Zumindest in dieser Zeit ohne Ordnung.
Ryo wusste, dass das Land zerstritten war. Etwa dreißig große Herren kämpften um die Vormachtstellung. Sie alle hatten ihre Armeen und Soldaten. Samurai, aber auch Ashigaru; einfaches Fußvolk. Ihm war auch bewusst, dass sein Leben rasch enden konnte. Die Vorstellung, schon in der ersten Schlacht zu sterben, bereitete ihm dennoch keine Furcht. So lange er ehrenvoll und im Kampf starb, würde er seine Ehre wahren.
Er wusch sich gründlich, ehe er das Wasser wieder verließ. Nackt kehrte er zurück in den großen Raum. Scham empfand er keine. Nicht vor jenem Mann, mit dem er sich über das Wakashudo verbunden fühlte. Seit Jahren schon kannten sie einander. Der Alte hatte ihm nicht nur das Kämpfen beigebracht, sondern auch die Philosophie der Krieger sowie die Kunst der körperlichen Liebe. Erst in den letzten Monaten war dieser letzte Aspekt der Ausbildung zur Ruhe gekommen. Etwas, mit dem sich Ryo schwertat, es gleichwohl aber verstand. Er war nun reif, in die Welt hinaus zu gehen. Zudem gab es noch etwas anderes als die Liebe zu einem alten Mann.
Die Liebe zu einer Frau.
Auch wenn sich der junge Mann nicht vorstellen konnte, in naher Zukunft auf eine Frau zu treffen, für die er mehr als Freundschaft empfinden konnte. An jenem Tag drängte es ihn, sich dem Heer des Daimyo anzuschließen. Alles andere war zweitrangig. Obwohl ihm sein Meister sicherlich eine Braut vorgestellt und die Ehe arrangiert hätte. Doch erst, wenn er in der Hierarchie aufstieg, musste er sich eine Frau suchen. Als einfacher Samurai war dies nicht nötig.
Der Alte lächelte milde, als er seinen Schützling sah. „Setz dich“, bat er ihn. „Setz dich und lass mich dir die Haare schneiden. Anschließend habe ich ein Geschenk für dich. Es wird dir helfen, deinen Weg zu gehen.“
Der junge Krieger kam der Aufforderung nach. Er setzte sich nieder und schloss die Augen, während der Alte sein Werk begann. Sekunden dehnten sich zu Minuten.
„Fertig“, erklärte der Alte schließlich. „Geh und sieh es dir im Brunnen an. Aber nicht so. Sonst wirst du krank, noch ehe du dich dem Heer anschließen kannst.“
Eilig schlüpfte Ryo in seine Kleider, ehe er hinaus zum Brunnen lief. Er warf einen Blick auf das spiegelnde Wasser. Seine Frisur entsprach nun dem traditionellen Schnitt der Samurai. Offen im hinteren Bereich, im oberen Bereich und über der Stirn jedoch nach hinten gekämmt und zu einem kleinen Zopf geflochten. Die Frisur betonte sein einerseits jugendliches, andererseits aber auch männliches Aussehen. Die Augen standen nicht zu weit auseinander, die Nase war nicht zu groß und gerade. Auch sein Mund passte sich diesem Aussehen an, denn mit fein geschwungenen Lippen harmonierte er mit den Augen. In der Stadt hatte er die versteckten, scheuen Blicke der Mädchen auf sich gezogen.
Ihm war, als würde sein Herz doppelt so schnell schlagen. Er, Ryo, hatte es geschafft. Die Ausbildung war alles andere als leicht gewesen. Mehrfach hatte er geglaubt, sie nicht bewältigen zu können. Der Alte hatte ihm viel abverlangt. Doch nun wurden all seine Mühen belohnt. Wenn er auch nach außen hin die Form wahren musste, so war die Freude tief in seinem Inneren überwältigend.
Er kehrte zurück in das Haus und sah, dass sein Lehrmeister bereits mit einem Stoffballen auf ihn wartete. „Nun zu deinem Geschenk“, erklärte der Alte und reichte Ryo den Ballen. „Dies soll dich auf all deinen Wegen schützen und dir Glück sowie Ehre bringen.“
Neugierig öffnete der junge Mann das Paket. Zum Vorschein kamen zwei kunstvoll gearbeitete Schwerter; das lange Katana sowie das kurze Wakizashi. Beide besaßen die traditionelle Form. Die Griffe waren reich verziert, die Blutrinne exakt gearbeitet und die Klinge extrem scharf. Der Name des Kriegsgottes Hachiman war darauf eingraviert.
„Sie sind sehr schön“, stieß Ryo hervor. „Vielen Dank, Meister.“
„Es hat mich Monate der Arbeit gekostet. Du hast mich oft gefragt, was ich in dem kleinen Schuppen tue. Nun weißt du es.“
Ryo verbeugte sich tief. „Ich werde das Daisho stets in Ehren halten, Meister.“
„Ich weiß. Und nun sollten wir Tee trinken.“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Alten, doch noch bevor er die Kanne von der Feuerstelle holen konnte, erklang rasch näherkommender Hufschlag. Überrascht hielt er inne und wandte sich zur Tür. Auch Ryo hatte die Geräusche vernommen und eilte hinaus. Der junge Krieger sah den Reiter den verschneiten Weg entlangkommen. Er trug die Kleidung eines Boten.
„Wer ist es?“, rief sein Lehrmeister. Auch wenn er seinen Schüler Geduld gelehrt hatte, verfügte er selbst nicht in hohem Maße über diese Gabe.
„Ein Bote“, gab Ryo zurück. „Er ist bald da. Ich frage mich, ob er zu mir möchte. Vielleicht die Anordnung, welchem Heer ich mich anzuschließen habe.“
„Möglich“, erwiderte der Alte. „Dein künftiger Herr weiß, dass deine Ausbildung abgeschlossen ist. Ich hatte ihm eine Botschaft gesandt, als wir deine Rüstung in Auftrag gaben. Er wird dir mitteilen wollen, wo du ihm dienen sollst.“
Ryo nickte unmerklich. Die Ungeduld in ihm wuchs, je länger der Bote brauchte. War dieser zuvor noch in gestrecktem Galopp geritten, so ließ er sein Pferd nun traben. Als wolle er mich und meine Geduld auf eine Probe stellen, dachte der junge Samurai. Ihm war bewusst, dass der Reiter lediglich sein Tier schonen wollte, so kurz vor dem Ziel. Ryo besann sich auf seine Ausbildung und versuchte, die Neugier zu zügeln.
Schließlich hielt es der junge Krieger doch nicht mehr aus und ging ihm entgegen. Noch bevor der Bote das Grundstück des Alten erreichte, stand Ryo vor ihm.
Ohne ein Wort streckte der Reiter die Hand aus und hielt dem Samurai eine Schriftrolle entgegen. Ryo erkannte sofort das Siegel des Daimyo. Also handelte es sich in der Tat um ein Schreiben von seinem künftigen Herrn.
Er lief, so rasch es seine Sandalen in dem dünnen Schnee zuließen, zurück zum Haus und trat ein. Dort überreichte er dem Alten das Schriftstück. Doch dieser lehnte ab.
„Es ist für dich; von nun an wirst du solche Dinge selbst öffnen. Das kommt meinen Augen zudem sehr gelegen. Bitte, lies vor.“
Ryo öffnete die Rolle und überflog den Text. Aus freudiger Erwartung wurde eine leichte Enttäuschung.
„Was steht denn dort?“, drängte ihn sein Lehrmeister. „Ist es der Befehl, sich einer Armee anzuschließen?“
„Nein“, murmelte der junge Krieger. „Nein, es ist ... Offenbar glaubt mein künftiger Herr nicht, dass ich ihm in einem Heer gute Dienste leisten kann. Er entsendet mich in die Präfektur Miyagi. Ein kleines Dorf hat sich Hilfe suchend an ihn gewandt, da mehrfach Männer aus dessen Mitte verschwunden sind. Ich soll den Bauern dort beistehen.“
Der Alte lachte. „Also hat mein Schreiben an ihn gewirkt.“
Ryo sah ihn fragend an. „Wie meint Ihr das? Haltet Ihr mich auch nicht für geeignet, in einem Heer zu dienen?“
„Doch, doch“, beruhigte ihn sein Lehrmeister. „Mehr als das. Ich schrieb ihm, dass du für große Dinge bereit bist. Dein künftiger Herr weiß, dass er sich auf mein Wort verlassen kann. Ich habe ihm und seiner Familie treu gedient und nie enttäuscht. Für dich ist es eine Ehre, allein dorthin entsandt zu werden. Keine Strafe.“
„Oh.“ Ryo verbeugte sich kurz. „Danke, Meister. Es war dumm von mir, etwas anderes anzunehmen. Verzeiht.“
„Trinken wir Tee. Und dann solltest du dich auf die Aufgabe vorbereiten, die vor dir liegt. Möglich, dass große Gefahren auf dich warten. Wenn mehrere Männer verschwinden, auch wenn es sich um Bauern handelt, wird nicht die Natur oder ein Tier daran die Schuld tragen. Vielleicht hat sich eine Bande in den Wäldern versteckt. Oder etwas anderes, etwas Böses lauert zwischen den Bäumen. Die Welt ist gefährlich.“
Ryo nickte. Er kannte den Hang des Alten, rasch Dämonen oder böse Geister für Unglücke und Todesfälle verantwortlich zu machen.
Natürlich glaubte auch er an diese Dinge. Wie jeder andere Mensch wusste er, dass es nicht nur die guten Götter gab. Nur hatte er in seinem bisherigen Leben noch keinen Geist und auch keinen Dämon zu Gesicht bekommen. Wobei er sich eingestehen musste, dass er nicht sehr weit herumgekommen war in der Welt. Der Ritt in die Präfektur Miyagi würde seine bisher weiteste Reise sein.

*

Schnee fiel. Die Kälte kroch unter die Kleidung des Samurai, während er sich aufmerksam umschaute. Deine Reise wird dich in eine mildere Gegend führen, hatte sein Meister gesagt. Bisher war davon jedoch nicht viel zu spüren. Obwohl die Präfektur Miyagi im Westen der Insel lag und das Klima dort tatsächlich angenehmer sein sollte. Die Götter haben wohl beschlossen, mich bei meinem ersten Auftrag frieren zu lassen. Ich hoffe nur, dass dies kein böses Omen ist.
Der Atem des Pferdes dampfte vor dem Maul. Mal ließ es Ryo im gemächlichen Trab laufen, dann trieb er es wieder an, damit die Muskeln des Tieres warm blieben. Hin und wieder war ein unwilliges Schnauben zu hören. Immer dann, wenn dem Pferd der Sinn nach etwas Gras stand, es aber keines finden konnte, da der Schnee die gesamte Umgebung bedeckte.
„Schon gut“, wisperte der junge Krieger. Er hatte auf diesem Tier das Reiten erlernt. Er konnte bei gestrecktem Galopp einen Pfeil abschießen und diesen mit hoher Genauigkeit in sein Ziel lenken. Eine der Künste, für die man die Samurai beneidete.
Manchmal strich Ryo über die Rüstung, welche am Sattel befestigt war. Er hatte sie anfertigen lassen, ebenso wie den Bogen. Beide würden ihm in einem Kampf gute Dienste leisten. So wie die Schwerter, die er von seinem Meister erhalten hatte.
Noch immer spürte der junge Krieger das Glücksgefühl in sich, die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen zu haben. Er war nun ein Samurai, ein Mitglied des Kriegeradels. Kein einfacher Fußsoldat, sondern ein geachteter Mann. Dass ihm dies zu Anfang nur wenige Lohn einbringen würde, wusste er. Sein Herr war nicht geizig; mit siebzig Koku durfte er rechnen. Solange er unverheiratet war, keine Abgaben zu zahlen hatte und zudem eine freie Unterkunft erhalten würde, erschien ihm dies ausreichend. Zumal er seinem Meister Ehre zu machen gedachte. Und dies gelang ihm am besten durch einen raschen Aufstieg. Es gab Samurai, die zehntausend Koku und mehr verdienten.
Der Wind schnitt ihm scharf ins Gesicht. Eine Bö trieb den Schnee auf und nahm ihm kurz die Sicht. Wenn dies eine milde Gegend ist, so möchte ich nicht den Osten besuchen, der als rau und kalt gilt.
Zwischen den Bäumen, die den Weg säumten, kroch die Dunkelheit empor. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Ryo verließ den Weg, um sich im Wald einen Platz für ein Nachtlager zu suchen. Die kleine Reismatte würde ihm erneut als Unterlage dienen, ein Feuer behagliche Wärme spenden. Es machte ihm nichts aus, unter freiem Himmel zu nächtigen. Auch wenn ihm eine Hütte lieber gewesen wäre.
Was mag in dem kleinen Dorf geschehen, dass Männer verschwinden? Sein erster Gedanke war, dass sich Räuber in den Wäldern aufhielten, die Bauern überfielen. Aber was hätte ihnen das gebracht? Die Männer, die auszogen, um Brennholz zu sammeln, trugen sicherlich keine Wertsachen mit sich. So sie überhaupt welche besaßen. Sie zu überfallen und auszurauben wäre sinnlos gewesen. Ebenso, sie zu verschleppen und Lösegelder zu fordern. Auch das erschien Ryo unwahrscheinlich. Es sei denn, dachte er, sie wurden entführt und gezwungen, in einer Armee zu dienen.
Es waren unruhige Zeiten. In Schlachten starben oft viele Soldaten; nicht nur Samurai, sondern auch Fußvolk. Die Generäle mussten für Ersatz sorgen. Hatte man also die Bauern darum entführt?
Je länger der junge Krieger darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien es ihm. Auch wenn er noch nicht wusste, wer genau verschwunden war. Doch jene, die in ihrem Dorf lebten und dort die Felder bestellten, waren sicherlich alles andere als junge, starke Kämpfer.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2012
ISBN: 978-3-95500-623-5

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