Shogun – Band 1
S. Rafflenbeul – Der falsche Samurai
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Masayuki Otara
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Der falsche Samurai
1
Der Tatara war erloschen. Das Feuer in dem eckigen Brennofen loderte nicht mehr, die Glut war kalt und unbrauchbar. Der Geruch nach heißem Stahl und Schweiß war verflogen. Michero saß zu Füßen des Vaters auf dem kurzen Gras vor dem Haus. Ihre Füße lagen ordentlich nach hinten, vom Vater fort, um diesen nicht zu beleidigen. Die Fünfjährige hielt einen Schleifstein in der Hand, einen der kleineren, die die Togishi zum Polieren benutzten. Es war ein alter Stein, der unnütz geworden war, aber in der Hand eines Kindes war er ein vergnügliches Spielzeug. Michero war stolz, den Stein des alten Polierers zu besitzen, der den Schwertern ihres Vaters den rechten Schliff verlieh und ihre Struktur so zauberhaft zur Geltung brachte.
Junaki Muramara saß nach der harten Arbeit gerne auf der Wiese vor seinem Haus und blickte hinüber zu den Bergen, hinter denen die Sonne unterging und die Sonnengöttin sich zur Ruhe legte.
Michero genoss die seltenen Momente, die sie mit dem Vater allein hatte. Obwohl beide nichts sagten, fühlte sich die jüngste Tochter des Schmiedes sehr wohl, geborgen und getragen durch die Nähe des Vaters, der oft genug nur Augen für seine drei älteren Söhne hatte. Aber die Brüder waren noch fort, Holz sammeln und schneiden, und die Mutter bereitete an der Kochstelle das Abendessen, gemeinsam mit Shana Lin, der zweiten Tochter des Hauses.
Michero beobachtete eine dünne graue Katze, die eine Maus im Maul trug und eben aus dem Reisfeld hervorgekommen war. Ein Schaudern überkam Michero, als sie sah, dass die Maus keinen Kopf mehr hatte. Vielleicht hatte die Katze ihn gefressen, vielleicht lag er aber noch immer im Feld des Nachbarn Shuito, der ihn finden und als schlechtes Omen sehen würde. Michero wandte den Blick ab, zum Vater hin, und sah die Anspannung auf seinem Gesicht. Sie folgte dem Blick seiner dunkelbraunen Augen, wandte sich um und sah die sieben Reiter, die in scharfem Galopp auf sie zuhielten. Erde und Gras flog hinter den Hufen der Pferde hoch und Michero hatte plötzlich Angst, wollte nur weglaufen vor den sieben Bewaffneten, die die Farben des Shoguns trugen. Nur einer von ihnen, der, der an der Spitze ritt, war in einen edlen dunkelbraunen Kimono gekleidet, bewaffnet war er aber wie ein Samurai. Michero kannte ihn. Es war Katagawa, der Herr der Präfektur und ein Onkel des Shoguns Fujiwara no Yoritsune. Seine Augen waren klein und stechend, die Lippen aufgeworfen, als wollten sie aus dem Gesicht hinausquellen. Er hatte dünnes, schütteres Haar, obwohl er die dreißig noch nicht erreicht hatte. Vater sprach oft schlecht von ihm, dass er ungerecht sei. Aber Michero wusste, wie leise und selten er das tat, und sie wusste auch, dass sie zu schweigen hatte über das, was Männer sprachen.
Der große, leicht untersetzte Katagawa zügelte sein Pferd hart. Die Hufe des riesigen Tieres waren bedrohlich nah an Micheros kleinem Körper, aber sie schluckte die Angst hinunter und rührte sich nicht. Sie konnte sich nicht bewegen. Die düsteren Vorahnungen, die sie überkamen, pressten ihr die Luft aus den Lungen. Warum trugen drei der Männer Fackeln? Es war noch nicht dunkel.
Katagawa beachtete das schwarzhaarige Mädchen nicht, das zusammengekrümmt auf der Wiese hockte.
Junaki Muramara war aufgestanden. Stolz und waffenlos verneigte er sich vor seinem Herrn, wie es die Etikette verlangte. Katagawa erwiderte den Gruß in keiner Weise. Er verzog spöttisch die aufgedunsenen Lippen. „So höflich, mein Freund? Aber was ist mit meinem Katana? Du wolltest mir ein Schwert schmieden, eines, das den Geist der Wölfe in sich trägt.“
„Verzeiht, Herr, es ist mein Fehler“, entschuldigte sich ihr Vater sofort. Auch das verlangte die Etikette, und selbst Michero wusste, dass die Worte ihres Vaters nur wohlerzogene Lippenbekenntnisse waren. „Ich konnte Euch das Schwert nicht schmieden. Es gibt keinen Stahl, der Euch gerecht werden würde. Der Eisensand dieser Gegend ist für Euch nicht gut genug.“
Katagawa schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Er trug dunkle Handschuhe aus Leder, die seine dicken Finger umspannten. Michero schrie auf. Zugleich spürte sie einen schützenden Arm um sich, der sie zum Haus zog. Michero wehrte sich gegen die Mutter, aber die hob sie mit stummer Gewalt auf ihre Arme und trug sie zur Eingangstür. Dort verharrte sie, und Michero weinte lautlos, während Katagawa den Vater demütigte.
„Spar dir deine Wort, Schmied. Hätte Kaiser Go-Toba dir nicht solche Rechte gegeben, als Schmied ersten Ranges, ich hätte dich schon vor vier Jahren getötet. So lange ist es schon her, dass du meine Bitte ablehntest, mir ein Schwert zu schmieden. Ich hätte dich gut bezahlt. Aber nun wirst du zahlen. Teuer bezahlen. Denn dein göttlicher Kaiser ist tot und seinen Sohn bekümmern die Schmiede wenig. Er hat nichts mehr zu sagen. Die Herrschaft der Kaiser gehört der Vergangenheit an. Von jetzt an ist die Macht der Shogune in Kamakura gesichert, und an dir werde ich es der ganzen Präfektur demonstrieren.“ Er drehte sich zu seinen Männern um. „Steckt das Haus an. Lasst niemanden heraus.“
Die Männer stiegen von den Pferden und umstellten das Haus.
„Ihr braucht mein Haus nicht niederzubrennen!“ Junaki Muramara war bleich, doch seine Worte waren ruhig, als habe er sich bereits seinem Schicksal ergeben. „Tötet mich, wenn Ihr es möchtet, oder lasst zu, dass ich mir den Bauch schneide. Aber verschont meine Familie.“
Katagawa zog sein Schwert. „Ich lasse dich nicht mit Ehre sterben, Kaiserfreund“, stieß er wütend hervor. „Du hast mich erniedrigt, und das ist deine Strafe.“ Die Waffe des Mannes bohrte sich in den Bauch Muramaras, es sah so leicht aus, spielerisch, als würde man einen Löffel in weichen Reisbrei stoßen. Muramara verzog das Gesicht und ächzte, wie Michero nie einen Menschen ächzen gehört hatte. Sie sah, wie er gegen die Schreie kämpfte, sie tief in sich einschloss, während er vor Katagawa auf die Knie sank. Einen Moment trafen sich die Blicke von Vater und Tochter. Michero spürte, wie die Tränen ihre Brust erreichten. In den Augen des Vaters lag die Bitte um Vergebung.
Vergebung für ihren baldigen Tod.
„Nein!“ Micheros Mutter setzte das Kind ab. Sie zog einen langen, gekrümmten Dolch aus einer versteckten Scheide an ihrem Oberschenkel und rannte damit auf Katagawa zu. Seine Männer reagierten zu spät, sie aufzuhalten. Aber Katagawa war nicht unerfahren, was die Kriegskunst betraf. Er blockte den Angriff mit der freien Hand und stieß mit dem Tsuka zu. Die Endkappe des Schwertgriffes traf Narukos Kinn. Die Mutter fiel schluchzend zu Boden.
Michero kauerte noch immer im Hauseingang. Sie roch Feuer. Im Inneren des Hauses hörte sie die Schreie ihrer Schwester. Anscheinend hatte Shana Lin versucht, durch den Hinterausgang zu fliehen, und war ins Haus zurückgeschafft und eingesperrt worden. Micheros Tränen versiegten.
„Meine Brüder werden dich töten, du hässlicher, böser Mann!“, schrie sie voller Zorn.
Katagawa trat zu ihr hin. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er ihr das Amulett ihres ältesten Bruders Tikowa hinhielt. Es war ein gebrochener Stein. Shana Lin hatte als älteste Tochter die andere Hälfte. „Deine Brüder sind schon bei deinen Ahnen, meine Kleine“, erklärte er kalt.
Michero spürte, wie die Welt sich drehte, wie sie auf sie zusprang, um sie zu vernichten. Ihr Herz klopfte wie der Hammer ihres Vaters, hell und kreischend, und mit jedem Schlag war es, als würde sie von dem Hammer getroffen, als läge sie auf dem Schmiedestein, um von Katagawa zerschlagen zu werden. Sie wollte nicht bewusstlos werden. Verzweifelt sank sie auf die Knie, wie zuvor der Vater, der jetzt reglos auf der Seite lag, die starren Augen den Bergen zugewandt, die er so sehr geliebt hatte. Michero sah den Dolch, der der Mutter entglitten war. Als Katagawa sich von ihr abwandte, packte sie ihn, aber sie hatte nicht die Kraft, ihn zu führen. Während sie das Amulett des Bruders fest umklammert hielt, versteckte sie den Dolch mit der anderen Hand unter ihrem Gewand.
Katagawa stieg wieder auf sein Pferd. Die Flammen loderten nun hell, waren ein gut sichtbares Feuer in der anbrechenden Nacht.
„Wir nehmen die Frau und das Mädchen mit“, entschied Katagawa leicht belustigt. „Mit solchen Temperamenten müsste sich noch Geld machen lassen.“
Michero drehte sich ein letztes Mal zum nahen Haus um. Die Schreie ihrer Schwester Shana Lin waren verstummt. Sie musste jetzt bei den Ahnen sein, wie ihre Brüder und ihr Vater. Michero klammerte sich an die bewusstlose Mutter und ließ die Dunkelheit zu.
2
„Shana Lin“, meinte Michero leicht ärgerlich. „Wenn du wieder etwas kaputt machst, nehme ich nicht die Schuld auf mich.“ Sie zeigte Shana Lin ihren nackten Rücken, doch die reagierte gänzlich unbeeindruckt auf die roten Striemen und die blauen Flecken auf dem blassen Fleisch. Michero seufzte.
„Shana Lin, so kann es nicht weitergehen“, diesen Satz sagte sie seit elf Jahren jeden Tag dreimal. Es war ein Ritual, das ihr auf eine verrückte Weise half, ihre Gefangenschaft und die Misshandlungen besser zu ertragen. Sorgsam richtete sie ihren weißen Kimono und überprüfte mit geschickten Fingern ihre kunstvolle Frisur.
Shana Lin begann sich die Pfoten zu putzen. Michero streichelte den Kopf der kleinen weißen Katze und setzte sich in Seizahaltung neben sie. Sie hockte im Knien auf ihren Fersen.
„Kaede hat mich wieder belästigt“, flüsterte sie dem Kätzchen zu. „Sie will ständig, dass ich sie massiere und sie anfasse. Ich hasse das.“ Micheros Stimme war ein kaum hörbares Flüstern. Sie wusste nur zu gut, was geschah, wenn die führende Geisha des Hauses hörte, wie ungebührlich die Sklavin Michero von ihr sprach. Das Haus Kaedes war eines der schlechteren Geishahäuser der Stadt, das merkte man schon an den Kimonos. Dennoch erhielt Michero eine gute Ausbildung. Es war ihr auch nie in den Sinn gekommen, fortzulaufen. Sie wusste nicht wohin. Jeder Ort auf der Welt erschien ihr gleich schlecht. Katagawa hatte damals die Mutter mitgenommen und Michero verkauft. Nun konnte sie tanzen und singen, Gedichte schreiben, Kalligraphie, Blumensteckkunst und demütig sein. Und das alles bis zum Erbrechen. Michero verzog angewidert das Gesicht. Sie hatte daran gedacht sich umzubringen, aber es gab einen Gedanken, der sie am Leben hielt. Noch immer besaß sie den Dolch, mit dem die Mutter versucht hatte, Katagawa zu töten. Und dieser Dolch war ihre Stütze, war das, was ihr Kraft gab, wenn sie in den einsamen Stunden der Nacht am Verzweifeln war. Sie würde durchhalten, bis sie keine Gefangene mehr war und ihre Schulden abbezahlt hatte. Sie würde sich Katagawa als Geisha anbieten und dann, wenn er nicht damit rechnete, würde sie ihn umbringen. Genauso hatte es auch der große Held Takeru gemacht, der sich als Frau verkleidet in den Palast der Brüder Kumaso eingeschlichen hatte, um sie zu töten. Michero lächelte zufrieden.
„So wird es sein, Shana Lin. Ich gehe in Katagawas Burg, tanze, singe und male für ihn, und noch in derselben Nacht bringe ich ihn um.“ Sie wusste nicht, wie es dann weitergehen sollte. Eigentlich war es ihr gleich, ob ihr die Flucht gelang, oder ob sie von erfahrenen Samurai zu Fischfutter verarbeitet wurde.
„Michero!“ Die unangenehm durchdringende Stimme der alten Geisha Kaede drang durch die dünnen Papierwände. Michero erhob sich seufzend. Die Alte warten zu lassen, bedeutete neue Muster auf ihrem Rücken.
„Ich komme, Herrin!“, rief sie hinunter und machte sich auf den Weg in Kaedes großes Zimmer.
Wie immer trug die alte Frau einen bunten Kimono, als sei sie noch eine blutjunge Geisha. Kaede konnte sich nicht damit abfinden, alt zu werden. Sie schmierte sich Unmengen von Öl und dunklen Pflanzensaft in die Haare, nur um jünger auszusehen. Aber das Ergebnis war erbärmlich.
Michero kniete sich vor die hagere Frau mit der zu großen Nase. „Was wünscht meine Herrin?“
„Geh hinüber auf den Markt und kaufe mir Orchideenblüten. Sie sollen Wunder im Badewasser wirken.“ Kaede hielt Michero einen genau abgezählten Betrag hin.
Michero erhob sich eilfertig. „Wie Ihr möchtet, Herrin.“
„Und beeil dich. Wenn du länger wegbleibst, schicke ich Sagoku hinter dir her.“ Sagoku war der Gärtner und Gehilfe des Hauses. Wenn er sie mit dem Stock schlug, konnte sie tagelang nicht sitzen. Michero verneigte sich tief und verließ rückwärts den Raum.
*
Sie hatte die Orchideenblüten gekauft, aber sie konnte den Markt nicht verlassen. Lange Zeit war alles in ihr kalt und tot gewesen. Nur nachts spürte sie das vernichtende Feuer ihres Hasses, das keine Wärme schenkte. Aber jetzt fühlte sie etwas Neues. Sie hatte etwas entdeckt, das sie beschützen wollte, aber sie wusste nicht wie.
Michero drückte sich zwischen zwei Stände mit Stoffballen und blickte zu dem fremden Mann hinüber, der sie in diese merkwürdige Lage gebracht hatte. Er war durchschnittlich groß. Das Unterhaar trug er offen, während das Haar über seiner Stirn auf dem Oberkopf zu einem Zopf zusammengebunden war. Es reichte ihm bis auf die Schultern. In seine Augen fiel ein langer Pony. Seinen Bewegungen sah man Geschmeidigkeit an. Er trug eine graue Reisejacke über dem Kimono und wirkte ganz so, als gehöre er nicht in diese schmutzige, laute Stadt, in der der Unrat auf den Straßen lag. Er war ein Fremder, und das Fremde umgab ihn wie ein Mantel in Regenbogenfarben. Immer wieder wurde er von andren gemustert – flüchtig, denn er bewegte sich wie ein Krieger. Vielleicht war er ein Ronin, ein herrenloser Samurai. Jedenfalls war er nicht in den Farben Katagawas gekleidet und Michero wusste, dass er keiner von Katagawas Männern sein konnte. Sie huschte hinter dem Fremden her und beschattete ihn auf Schritt und Tritt.
Ihre Augen klebten an seiner Hüfte, an der Scheide des Schwertes, die den Namen Muramara trug, den Namen ihres Vaters. Und eben dieses Schwert wollte sie schützen. Sie wollte dem Fremden sagen, dass er den Namenszug verdecken solle, um Ärger zu vermeiden. Katagawa ließ die Schwerter Muramaras noch immer einschmelzen, wenn er ihrer habhaft wurde. Michero rang gegen die Respektlosigkeit, einen Mann von sich aus anzusprechen. Hatte nicht auch die erste Frau den ersten Mann gegrüßt, ohne dass er sie aufgefordert hatte, und hatte sie nicht daraufhin zur Strafe von den Göttern eine Missgeburt bekommen? Micheros Herz schlug heftig. Immer wieder musste sie an den Vater denken, an seine toten Augen, die auf die fernen Berge zu blicken schienen.
Auf der anderen Seite des Marktes war Hufschlag zu hören. Samurai von Katagawa. Michero suchte erschrocken nach dem Fremden in der grauen Jacke, aber sie konnte ihn nicht entdecken. Verzweifelt drehte sie sich in alle Richtungen, als eine Stimme ganz nah an ihrem Ohr erklang: „Sucht Ihr mich, Maiko?“
Michero erstarrte. Seine Stimme war weich, wie fließendes Wasser. Sie blickte auf und sah in sein ebenmäßiges, schönes Gesicht. Es war noch sehr jung und knabenhaft. In seinen Augen blitzte der Schalk, doch zugleich saß darin auch eine Trauer, die Michero so vertraut war wie ihr Spiegelbild.
„Verzeiht“, gab sie charmant zurück und war zum
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2012
ISBN: 978-3-95500-621-1
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