Ken Norton – Band 10
Erik Schreiber – Vor dem Thron der Finsternis
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Ken Norton
Das große Fantasy-Abenteuer Nr. 10
Vor dem Thron der Finsternis
von
Erik Schreiber
nach einer Idee von Lothar Gräner
Der französische Sektengründer Raymond de Chanfray hatte es geschafft: Er konnte das Tor zwischen den Welten öffnen und im Land der Straße der Legenden die Macht an sich reißen. Als Hohepriester Nergal erschlich er sich das Vertrauen des Königs von Bel-achay, der goldenen Stadt. Der Herrscher von Bel-achay, Urdak von Argoon, wurde von ihm ermordet. Es gelang Nergal jedoch nicht, Prinzessin Aylisha, Urdaks Tochter, zu töten. So ist er nun auf der Suche nach ihr. Die Prinzessin wiederum ist auf der Suche nach Unterstützung, um sich ihren Thron zurückzuerobern. Elben, Zwerge und Krieger der verschiedensten Länder stehen ihr zur Seite. Ebenso Fremde aus einer unbekannten Welt.
Ken Norton, Anthropologe aus Großbritannien, verschlug es auf diese Welt auf der Suche nach einem Artefakt, das sich Raymond de Chanfray unrechtmäßig angeeignet hatte. Auch Pater Turini und die Reporterin Rhonda McFarlane sind in dieser Welt gelandet. Turini, der Geheimdienstler des Papstes, war auf der Suche nach einer Hexe, die ihn und die Reporterin letztlich in eine Falle lockte. Andere Menschen gerieten ebenfalls in den Strudel unerwarteter Ereignisse. Dies ist ihre Geschichte.
*
Die kleine Gruppe von Zwergen, ein Aufgebot an Kundschaftern und Spionen, hatte das Land durchquert. Einen halben Tagesmarsch hinter ihr befand sich die eigentliche Armee unter Führung König Morans. Die Anzahl der Zwergenkrieger war verhältnismäßig gering. Fünfundzwanzig Mann standen, schwer gerüstet in Kettenhemden und Harnischen und bewaffnet mit Kriegshämmern und Schilden, einer plötzlich auftauchenden Armee von Söldnern gegenüber. Tief in den Bergen fochten die Zwerge einen Jahrhunderte alten Hass auf Rattenartige aus. Gerin Grimbart ärgerte sich über den fatalen Fehler, einfach so in das geschändete und noch brennende Dorf hineingegangen zu sein. Kundschafter, die dumm genug waren, in ein Heer zu geraten. Es war die Strafe der Götter für ihren Leichtsinn. Als sie aus dem Wald herausgetreten waren, hatten sie plötzlich vor einem brennenden Dorf gestanden – und vor einem Heer von Söldnern, das einen halben Tag zuvor noch nicht dagewesen war.. Zwar versuchten die Kundschafter noch, in den rettenden Wald zurückzutreten, doch es war bereits zu spät. Ein Alarmruf der Söldner sorgte dafür, dass der schnelle Rückzug in eine noch schnellere Flucht überging. Die Zwerge hatten keine Chance. Bis auf einen wurden sie aus dem hügeligen Wald getrieben. Gerin Grimbart erkannte schnell, dass ein Mann fehlte, und hoffte, dieser würde die Streitmacht warnen und schnell hierher führen. Doch wann immer diese einträfe – für sie würde es zu spät sein. Dennoch ließ er Marvin Malebekus das Horn blasen. Das Kundschafterhorn, dass nur im äußersten Notfall geblasen wurde. Seit dreihundert Jahren hatte kein Kundschafter das Horn blasen müssen. Der Ton würde weit über das Land tragen, jedoch, würde es reichen, die Armee zu alarmieren? Die wackeren Zwerge würden so viele von den Söldnern mit in den Tod nehmen, wie es ihnen ihre Göttin erlaubte. Sie waren einen Mond gewandert, aus einer wilden und ungemütlichen Heimat, in der sich Kälte, Eis und Schnee heimischer fühlten als Yetis. Zwerge, zum Überleben erzogen in einer unwirtlichen Gegend, ständig im Kampf gegen Rattenartige und andere Finsterlinge aus den Bergen. Der Führer der Söldner tobte, als er sah, wie seine Krieger einer nach dem anderen getötet wurden. Die Zwerge hingegen behaupteten sich erstaunlich lange gegen die riesige Übermacht. Doch ihr Ende stand unmittelbar bevor: Plötzlich donnerte eine hasserfülle Reiterschar um die Palisaden des Dorfes herum. Das Trommeln der Huf mischte sich mit dem Klirren der Waffen, dem Krachen der Schilde und den Schmerzens- und Todesschreien der getroffenen Krieger. Während dieses Chaos schmetterte das Zwergenhorn ein letztes Mal mit voller Kraft seinen Hilfeschrei hinaus in die Welt. Es war, als ob die streitenden Gegner wie eine Urgewalt aufeinander stießen. Die ungeordnete Söldnerhorde überwand bald die geballte Kraft der Zwergenkrieger. Das Klirren und Krachen von Stahl klang wie ein Schmiedehammerwettbewerb. Gerin Grimbart brüllte immer wieder seinen Schlachtruf, der von immer weniger Stimmen erwidert wurde, und schwang seinen mächtigen Kriegshammer in tödlichem Bogen, dem weder Lederrüstungen noch stählerne Brustpanzer standhalten konnten. Er stand wie ein Fels in der Brandung den anstürmenden Söldnern entgegen. In seinen Augen funkelte ein unbändiger Hass gegen alles, was das friedliche Leben an der Straße der Legenden bedrohte. Und die Söldner waren ein Teil von Nergals Bedrohung. Doch das Gemetzel konnte er nicht zu seinem Gunsten entscheiden. Die einzige Genugtuung war, möglichst viele Gegner mit in einen blutigen Tod zu nehmen. Ein Söldner schrie auf, als er eine Lücke in Gerins Deckung ausmachte. Wild schlug er mit einem Schwert nach ihm; die Schneide prallte gegen Gerins Helm, so dass Funken stoben. Gerin taumelte zurück. Sein Kriegshammer zertrümmerte den Helm des Söldners und den Schädel gleich mit. Ein Schreckensschrei der Feinde alarmierte Gerin; erst da bemerkte er, dass es der Anführer der Söldner war, der vor ihm lag. Als wäre es ein Signal, stürzten die restlichen Söldner auf Gerin zu. Neben ihm fielen die letzten verbliebenen Zwergenrecken. Er stand allein gegen ein Überzahl rachedürstender Schlagetots.
»Bei allen finsteren Heerscharen und Göttern der Welt!«, fluchte Gerin. »Auch wenn ich jetzt allein stehe und nicht zu den Helden meiner Ahnen gehören werde, ich werde den Weg mit Leichen pflastern, der mich dorthin führt. Und vielleicht, in einem anderen Leben, werden ich meinen heldenhaften Ahnen begegnen.« Mehr war nicht von ihm zu vernehmen, denn im gleichen Moment wurde er von mehreren Schwertern gleichzeitig niedergestreckt. Zwei Dutzend Zwerge inmitten einer viel größeren Zahl toter Söldner. Doch die Zahl der harmlosen und unschuldigen Dorfbewohner war noch größer.
*
Gewaltige Säulen wirkten wie ein undurchdringlicher Wald, der sich in der Ferne verlor. Das Licht der wenigen Feuerschalen bildete nur kleine Lichtinseln, die sich in der düsteren, erschreckenden Halle, die genauso hoch wie weit zu sein schien, verlor. Der Weg zwischen den Säulen führte auf gespaltenen Platten tief in die Halle hinein.
Sah man nach links oder rechts, konnte man fremde Szenen erkennen. Ein Blick nach links ließ den Eindruck entstehen, auf einem alten Friedhof zu sein. Der Boden war steinig, ein paar Bäume standen zwischen den verwitterten Grabsteinen. Uralte Gräber, deren Hügel schon lange in sich eingesunken waren. Unkraut wucherte dazwischen und darüber. Trotzdem lagen hier die verblichenen Gebeine von Menschen. Kleinere Knochen waren in den Boden gerammt und mit den Menschenknochen durch Draht verbunden.
Der Beobachter ging weiter. Ein Blick nach rechts; der Mann sah in die Flammen eines großen Kaminfeuers. Das Holz knisterte und Funken sprühten. Aus den Flammen formten sich der Hölle entsprungene Teufelsgestalten. Spitze Ohren und Hörner auf dem Schädel. Die Gesichter langgezogen in Flammenform, große Augen, die wild funkelten und nichts anderes darstellten als Spiegel, in denen sich das Entsetzen des Betrachters zeigte. Teuflisches Kichern, schrille Schreie und hassgetränktes Brüllen überflutete ihn. Es nutzte nichts, dass der Betrachter die Hände auf die Ohren legte; das Geschrei wurde dadurch nicht leiser. Die Flammenwand schien sich aufzublähen. Aus den Feuerzungen, die sich ihm entgegenstreckten, erwuchsen Oberkörper mit langen Flammenhänden, die nach ihm griffen.
Er wandte sich ab und schritt zügig weiter. Schwärze umhüllte ihn. Ein beklemmendes Gefühl der Angst traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Links, zwischen zwei weiteren Säulen, lag eine Frau auf einer Steinplatte. Sie warf ihren Kopf hin und her, so dass die langen blonden Haare herumwirbelten. Der Kopf war auch das einzige Körperteil, das sie bewegen konnte, denn Hände und Füße waren mit eisernen Spangen auf der Platte fixiert. Lederbänder hüllten die Arme und Beine ein. Lediglich der nackte Torso lag frei. Der Mund der Frau entließ einen stummen Schrei, während sich ein Schwert mit Flammenklinge in ihren Brustkorb bohrte.
Der Atem des Betrachters stockte immer wieder, wenn er nach links oder rechts zwischen die Säulen sah. Dies war die Welt eines fremden Gottes, eines dunklen Gottes. Seines Gottes.
Er ging weiter. Sein Schritt wurde nicht langsamer, aber auch nicht schneller. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah er weit hinten ein giftgrünes Licht. Blutrote Strahlen gingen von etwas aus, verdeckt von einem unförmigen Schatten. Je näher er kam, desto deutlicher schälte sich die Gestalt aus dem Dunkel. Eine grotesk aussehende Figur. Er wagte keinen genauen Blick auf sie.
My-Tharn-yarl.
Der Betrachter hatte Angst und schritt so lange weiter, bis es nicht mehr ging. Vor dem Thron öffnete sich ein Becken mit dunklem, brackigem Wasser. Aus ihm heraus reckten sich ungezählte Arme in die Höhe, wie um Hilfe heischend.
»Raymond de Chanfray oder Nergal oder wie immer du dich nennst: Du hast viel gewagt, um mich zu treffen. Du hast noch mehr gewagt, darum zu bitten, die Stelle von Nheli einnehmen zu dürfen. Sie dient mir schon Jahrtausende deiner Zeitrechnung. Wieso glaubst du als kleiner Emporkömmling, sie ersetzen zu können?«
»Weil ich in kurzer Zeit die Straße der Legenden übernehmen werde, was ihr niemals gelang.«
Ihm schlug ein schauerliches Lachen entgegen. »Du willst die Straße der Legenden übernehmen? Wer sagt denn, dass ich sie haben möchte?«
Nergal schluckte. Sollte er sich übernommen haben? Plötzlich wurde ihm der Kragen seines Hemdes eng. Vor allem, als gleichzeitig neben ihm zwei Dämonen erschienen. Sie packten ihn mit ihren fischigen Klauen und hoben ihn über das Becken. Und dann ließen sie ihn fallen, in die ausgestreckten Knochenarme. Es war, als jubelten die Hände. Nergal versank im Becken. Er schrie, bis die Flüssigkeit in seinen Mund lief.
*
Der stürmische Ostwind schleuderte ihm den heftigen Regen ins Gesicht, als er durch die Dunkelheit rannte. Vor ihm war nichts als freie Steppe, aus der ab und zu kleinere Haine auftauchten. Vom Blitz erhellt, erkannte er bei den wenigen Malen, da er zurückzusehen wagte ... nichts.
Die Angst war sein ständiger Begleiter. Sie lief, ging, schlich im gleichen Schritt vorwärts, in dem er sich bewegte. Die Angst, nicht rechtzeitig im Lager anzukommen, um die anderen zu warnen. Der Lärm der Söldner im Dienste Nergals, die das Menschendorf angegriffen hatten, blieb hinter ihm zurück, erstickt unter einem Blitzgewitter und rollendem Donner. Während er über die dunkle Ebene rannte, peitschte ihm der Regen mit unverminderter Heftigkeit ins Gesicht.
Gradins Geschwindigkeit ließ nach. Die rote Zöpfe seines Bartes schlugen nicht mehr so heftig in sein Gesicht. Die fieberhafte Erregung, die ihn gefangen hielt, nahm langsam ab. Der Regen und der heftige Gegenwind kühlten ihn ab. Eine halbe Stunde später wurde sein Lauf zu einem schnellen Schritt und verlangsamte sich bald weiter. Es kostete ihn Mühe, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Der schnelle Lauf hatte ihn erschöpft. Schließlich stand er da, beugte den Oberkörper nach vorn und stützte seine Arme auf den Knien ab. Das rote Haar hing im nass und glatt ins Gesicht, aus dem Bart tropfte das Regenwasser genauso schnell, wie es der Himmel auf ihn herabfallen ließ. Er warf einen Blick über die Schulter zurück, konnte jedoch keine Verfolger mehr ausmachen. Gradin riss sich keuchend zusammen. Er stolperte mehr, als dass er ging, und wäre um ein Haar auf einer schlammigen Stelle ausgerutscht. Als er nicht mehr laufen konnte, schleppte er sich weiter. Er merkte gar nicht, wie er weiterkam, sah nichts, ging nur mechanisch vorwärts. Schritt für Schritt für Schritt.
Plötzlich wurde er aufgehalten. Aus dem Schatten löste sich eine Wache , während sich eine Speerspitze gegen seinen Brustpanzer drückte.
»Halt, gib dich zu erkennen!« Drohend klang die Stimme der Wache.
Außer Atem hielt der Kundschafter einen Augenblick inne, bevor er schwer atmend antwortete: »Ich bin Gradin, Sohn des Bewin Steinschläger, Kundschafter Morans.«
Mit diesen Worten schien die Wache zufrieden zu sein, denn sie ließ Gradin passieren.
»Bitte führe mich sofort zum König.«
Die Wache pfiff leise und meinte dann: »Ich kann meinen Posten nicht verlassen, aber Gyran Felsenspalter wird dich führen.«
Aus der Dunkelheit tauchte ein zweiter Zwerg auf, der sich in Kleidung und Aussehen kaum vom ersten unterschied.
»Bring mich zum König, schnell. Ich habe schlechte Neuigkeiten.«
»Folge mir.« Sprach’s und drehte sich um, ohne darauf zu achten, ob Gradin ihm wirklich folgte. Schnellen Schrittes durcheilte er das Wäldchen, Gradin immer hintendrein. Sie durchquerten das schlafende Lager, wo nur hie und da noch ein kleines Feuer unterhalten wurde, und erreichten das Zelt Morans. Davor standen, etwas schläfrig, zwei andere Zwerge, lediglich durch eine über den Bauch und die linke Schulter verlaufende Schärpe als Königswachen gekennzeichnet.
»Dies ist Gradin, Kundschafter des Königs. Er hat wichtige Nachrichten«, sagte Gyran. Gradin selbst konnte sich kaum aufrecht halten, so hatte ihn der lange Lauf mitgenommen. Eine der Wachen drehte sich um, schlug die Zeltplane zur Seite und trat hinein. Kurz darauf erhellte eine Sturmlaterne das Innere, man hörte leises Murmeln. Dann durfte Gradin eintreten. Er sah einen schlaftrunkenen König auf seinem Feldbett sitzen, der gerade dabei war, die Stiefel anzuziehen.
»Was gibt es so Drängendes, Kundschafter Gradin, das nicht bis zum Morgengrauen warten kann?«
Gradin lies sich auf die Knie fallen, scheinbar zur Ehrerbietung, doch der wahre Grund war, dass er nicht mehr stehen konnte. Hatte ihn bis eben noch Wut und Angst um die Kameraden beflügelt, so verließ ihn die Kraft jetzt endgültig.
»Mein König, ich bin der letzte eurer Kundschafter. Wir waren unterwegs und hatten ein geplündertes Menschendorf entdeckt. Als wir es untersuchen wollten, gerieten wir in eine Falle von Söldnern aus Bel-achay und wurden von der Übermacht in einen heftigen Kampf verstrickt. Ein Kamerad nach dem anderen fiel, dann gab man mir den Befehl, mich vom Kampfplatz zu entfernen und Euch zu warnen. Ich bin sicher, dass inzwischen auch der letzte meiner Kameraden gefallen ist. Ich bin seit Tag und Nacht unterwegs, um Euch diese Meldung zu überbringen. Die ersten Gegner sind vielleicht schon auf dem Weg hierher, obwohl ich immer wieder versuchte, meine Spur zu verwischen.«
»Das ist keine gute Nachricht Gradin. Doch ich danke dir, dass du sie mir überbracht hast.«
Die beiden Männer unterhielten sich noch über die Entfernung, den Weg und die Kampfstärke des Gegners. Bald bemerkte König Moran, der inzwischen an seinem Tisch saß und Notizen machte, dass sein Kundschafter auf dem Boden lag und völlig erschöpft eingeschlafen war. Er rief eine Wache und befahl seine Hauptleute zu sich. Bis zum Morgengrauen wurden Pläne geschmiedet. Kaum war das Frühstück der Zwerge beendet, ertönten die Rufe der Hauptleute.
Aufbruch!
*
»Im Untergrund von Bel-achay festzustecken und nach einem geheimen Zugang zum Palast zu suchen – wie eklig!«
John Buchannan fluchte wie ein Hafenarbeiter. Die Woche zuvor waren er, die Amazone Vhanis und der Zwergenprinz Blarn bei den Rebellen von Bel-achay eingetroffen. Gesucht hatten sie Ken Norton, in der Hoffnung, mit ihm zurück auf die Erde zu gelangen. Gefunden hatten sie jedoch die Rebellen. Oder besser gesagt, die Rebellen hatten sie gefunden, als sie durch das Tor der Hauptstadt Argoons schritten. Die drei ungleichen Begleiter fielen auf wie ein bunter Farbtupfer auf einer grauen Wand. Bevor die Stadtwache Nergals sie aufgreifen konnte, holte Rhonda McFarlane, die zufällig in der Nähe war, sie von der Straße. Jetzt standen sie hier in den Abwässern der Stadt. Und das deshalb, weil Rhonda McFarlane und Pater Franco Turini von einem schmierigen Händler namens Han Ter Son einen Tipp bekommen hatten, wie man auf geheimen Wegen in den Palast gelangen könne.
John verfluchte Nergal und seine dunkle Göttin Nheli aus tiefsten Herzen. Weit über ihnen führte die Stadtbevölkerung ein gottgefälliges Leben. Dabei war es John inzwischen egal, ob sie Nheli oder ihre lichte Schwester, die Göttin Chrios, anhimmelten. Er wollte nur noch aus der stinkenden Kloake heraus. Zu zehnt krochen, schlichen und tappten sie im Dunkeln über schmale Gehstreifen, aber immer öfter in der Ablaufrinne, entlang. Manchmal wurden die Rinnen breiter und tiefer. Ein einziger Fehltritt würde jeden zu einem unfreiwilligen Bad in der nach Fäulnis stinkenden Brühe eintauchen lassen. Ihm tat der Rücken vom vielen Bücken weh. Er beneidete den Zwerg Blarn, der keine Mühe hatte, hier aufrecht zu laufen.
»Hör auf zu jammern.« Vhanis wies John bestimmt, aber nicht unfreundlich zurecht. Sie schenkte dem Gestank und der Enge der Kanalisation sowie dem Gebräu aus Exkrementen und manchmal sogar Leichenteilen nicht die geringste Beachtung. In der linken Hand eine Fackel, in der rechten ein Kurzschwert schien sie hier fast zu Hause zu sein, so sicher bewegte sie sich.
John schwindelte von den Ausdünstungen. Ganz vorn ging Blarn, der keine Fackel benötigte. Mit seinen Augen konnte er im Dunkeln sehen. Blarn schritt zügig aus und die anderen hatten Mühe, ihm zu folgen. Sein Vorsprung wurde immer größer. Lediglich Franco Turini hielt, aus welchen Gründen auch immer, Schritt mit ihm. Ohne Fackel. Hinter ihnen ging John Buchannan. Er betrachtete im flackernden Licht die muskelbepackte Gestalt des Zwergenprinzen. Leichtfüßig schritt er aus, gewandt und trittsicher wie eine Katze. Aber das war ja auch nicht weiter verwunderlich: Sein Volk war an die lichtlosen Bergwerke tief unter den schneebedeckten Gipfeln gewöhnt. Auch Blarn trug ein Kurzschwert, wie jeder andere der kleinen Gruppe. Hinter Buchannan ging inzwischen Vhanis, gefolgt von sechs weiteren Rebellen. Da es in den meisten Bereichen der Kanalisation nicht genügend Platz gab, um ein normales Schwert zu schwingen oder eine Zwergenaxt zu führen, mussten sie mit ungewohnten Kurzschwertern vorliebnehmen. Ungewohnt deshalb, weil Buchannan sowieso kein Schwert führen konnte, Blarn lieber eine große Axt führte und Franco Turini gerade mal einen Degen handhaben konnte.
John packte sein Kurzschwert fester und wünschte sich, es nicht einsetzen zu müssen. Er war sicher, bevor er auch nur einen Treffer landen könnte, würde er im Abwasserkanal schwimmen.
In der Dunkelheit öffnete sich eine Art Halle. Mehrere Kanäle trafen sich und flossen in ein tiefes Becken, von dem ein großer Abfluss nach rechts wegführte. Im Schein der trüben Fackeln schienen Johns Kameraden hier unten schemenhafte Schattengeister zu sein. Er rückte seine Kopfbedeckung zurecht und den Mundschutz, der wenigstens etwas von dem Gestank abhalten sollte.
»Spuren!«, rief Blarn plötzlich. »Wir sind
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-610-5
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