Ken Norton – Band 8
Lothar Gräner – Hüter des Runenschwertes
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
KEN NORTON
Das große Fantasy-Abenteuer Band 8
Hüter des Runenschwertes
von
Lothar Gräner
Vhanis stand fest mit beiden Beinen auf dem Boden, das Schwert in beiden Händen. Die Rattenartigen, die sich langsam näherten, stießen seltsame Laute aus, Geifer troff aus ihren aufgerissenen Schnauzen.
Hartung und John, wo waren die beiden? Hatten sie sich in Sicherheit bringen können oder waren sie schon Opfer der Bestien geworden, die jetzt die Amazone angriffen?
Die Kriegerfrau duckte sich; ihr blauschwarzes Haar war im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden, der sich geschmeidig um ihren Hals legte. Sie atmete flach, während ihre Sinne auf das Äußerste angespannt waren.
Die drei Angreifer kamen langsam näher. Das mittlere Untier schien der Anführer zu sein; die beiden anderen sahen ihn an und schienen auf ein Zeichen zu warten. Es handelte sich um ein hoch gewachsenes Wesen, das die anderen um Haupteslänge überragte. Sein rechter Arm schoss in die Höhe, und ein gurgelnder Laut entrang sich seiner Kehle. Vhanis wartete nicht länger, sondern sprang vor. Ihr Schwert traf die Waffe ihres linken Gegners. Der kraftvoll geführte Schlag riss ihm sein Schwert aus den Klauen, und die Amazone setzte nach. Mit einem mächtigen Hieb trennte sie den Arm beinahe am Gelenk ab. Schreiend brach das Untier zusammen und blieb wimmernd auf dem Boden liegen.
Für einen Moment waren die anderen wie gelähmt, dann stürzten sie sich gleichzeitig auf die Kriegerfrau, die herumwirbelte und ihr Schwert kreisen ließ. Ein wilder Kampf begann, begleitet von Stöhnen und Keuchen. Die Rattenartigen stießen ihre Grunzlaute aus, mit denen sie sich verständigten; Vhanis begleitete jeden ihrer Schwerthiebe mit einem wilden Schrei, der ihr selbst Mut machen sollte. Noch konnte sie die Angreifer abwehren, doch Vhanis spürte, wie ihre Kräfte erlahmten. Ein Stich hatte sie am Arm verletzt, einem zweiten war sie im letzten Moment ausgewichen. Ihre beiden Gegner drangen weiter auf sie ein, während das dritte Untier immer noch wimmernd am Boden lag.
Doch dann geschah das Unglaubliche!
Die Amazone nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass der dritte Angreifer sich erhob; taumelnd kam er auf die Beine – und der abgeschlagene Arme war nachgewachsen!
Ein triumphierendes Geheul kam ihm über die Lippen, als er sich bückte und sein Schwert wieder aufnahm, das immer noch von der Klaue des abgetrennten Armes umklammert wurde.
Wieder waren es drei Gegner, denen sich Vhanis gegenübersah. Sie hatte kaum noch die Kraft zu kämpfen und schloss innerlich schon mit dem Leben ab. Wie ein Spuk rauschten die Ereignisse der letzten Zeit an ihrem inneren Auge vorüber.
Die Vertreibung aus der Heimat, der Überfall auf Hartungs Hof, der Tod der Aufständischen und schließlich der Auftrag, den Jurak U’Shaine ihr und den beiden Gefährten gegebenen hatte – die Suche nach Verbündeten im Reich der Zwerge.
Doch diesen Auftrag würden sie nicht mehr ausführen können. Nergals Häscher waren überall, und am Ende musste der Priester der Finsternis den Sieg davontragen, wenn nicht ... ja, wenn sie nicht sämtliche Kräfte mobilisierte und diese Bestien vernichtete!
Die Amazone kämpfte mit dem Mut der Verzweifelten. Sie sprang hin uns her, tänzelte um die Angreifer herum, unterlief deren Hiebe und teilte dabei selbst aus. Nie war ihr bewusster, dass sie nicht unterliegen durfte. Vom Ausgang dieses Kampfs hing es vielleicht ab, ob Chrios, die Göttin des Lichts, oder ihre dunkle Schwester über das argoonische Reich und all die andern Länder an der »Straße der Legenden« herrschen würde.
Ein Schwert strich um Haaresbreite an ihrem Kopf vorbei. Vhanis vollführte eine Drehung und stieß dem Rattenartigen ihren rechten Fuß in den Unterleib. Die Bestie krümmte sich vor Schmerzen und gab einen erstickten Ton von sich. Sie hieb ihr das Schwert in den Hals und wich dem Blutstrom aus, der daraus hervorschoss. Im nächsten Moment wirbelte sie herum und entging in letzter Sekunde dem Schlag, der sie am Hinterkopf treffen sollte.
Wieder und wieder ließ sie ihr Schwert niedersausen, traf den zweiten Angreifer tödlich und sah, wie der dritte sein Heil in der Flucht suchte.
Erschöpft ließ sie sich zu Boden sinken. Doch Vhanis gönnte sich nur eine kurze Verschnaufpause, dann raffte sie sich auf und machte sich auf die Suche nach den Gefährten. Sie zerteilte das hohe Gras mit dem Schwert, bahnte sich einen Weg zum Ufer und rief dabei immer wieder ihre Namen.
Doch sie bekam keine Antwort.
*
Die drei Reiter standen auf dem Pass und blickten ins Tal hinunter. Viele Tausend Meter fielen die Hänge steil ab. Sattes grünes Land bot sich ihrem Blick, während die kargen Felsen über ihnen in Nebel getaucht waren.
Jurak U’Shaine deutete auf die Stadt, die zu ihren Füßen lag.
»Das ist Banjahag«, sagte er mit belegter Stimme. »Wir haben unser Ziel erreicht.«
Aylisha legte ihre Hand auf seinen Arm. Die Prinzessin konnte erahnen, was ihren Waffenmeister jetzt bewegte. Es war das Wiedersehen mit seiner Heimatstadt nach vielen, vielen Jahren.
Der große, starke Mann sah seine Begleiterin an. »Glaubt Ihr, dass ich willkommen sein werde?«
Aylisha antwortete nicht gleich. U’Shaine hatte Schuld auf sich geladen und war des Landes verwiesen worden. Sein Vater selbst hatte den Spruch gefällt. Niemand konnte vorhersagen, was die unerwartete Rückkehr des Geächteten in den Menschen auslösen würde.
Sie stiegen ab und führten die Pferde den schmalen Pfad hinunter. Erst als sie die Talsohle erreicht hatten, stiegen sie wieder auf. Das Land wurde flacher; Bäume und dichtes Buschwerk säumten ihren Weg, fruchtbare Äcker lagen vor ihnen. Nach einer Weile kamen sie an einem Gehöft vorüber. U’Shaine zügelte sein Pferd und sah zu dem Mann hinüber, der aus dem Haus kam. Wenn der Freikämpfer ihm Angst machte, zeigte er es jedenfalls nicht.
»Chrios sei mit Euch«, grüßte er. »Es kommen selten Fremde hier vorbei. Mir scheint, Ihr habt einen weiten Weg hinter Euch. Steigt ab und labt Euch an einem kühlen Trunk.«
Die Prinzessin sah ihren Waffenmeister an. »Sollen wir der Einladung folgen?«, fragte sie leise, damit der Bauer sie nicht hörte. »Es könnte immerhin eine Probe sein, zu erfahren, ob wir tatsächlich so willkommen sind, wie es den Anschein hat.«
»Warum nicht«, nickte Jurak und stieg aus dem Sattel.
Der Bauer kam eilfertig herbeigelaufen.
»Willkommen, Fremde. Mein Name ist Gorthan D’Harn. Tretet näher und seid unsere Gäste.«
Erst jetzt schien er zu bemerken, dass es sich bei einem der Reiter um eine Frau handelte. Fher schenkte er kaum Beachtung.
»Sicher wollt Ihr Euch erfrischen«, sagte er zu der Prinzessin. »Geht schon ins Haus, während Eure Begleiter und ich uns um die Pferde kümmern. Mein Weib wird Euch zeigen, wo Ihr alles Nötige findet.«
Aylisha dankte ihm mit einem Kopfnicken und ging zum Haus. Jurak U’Shaine, Fher und Gorthan, der Bauer, nahmen die Zügel und führten die Pferde zur Tränke, einem ausgehöhlten Baumstamm, der, mit Wasser gefüllt, vor dem Stall lag. Nachdem die Tiere getrunken hatten, bekamen sie Futter, dann gingen die beiden Männer ins Haus. Bisher hatte der Waffenmeister geschwiegen, obgleich er sehen konnte, dass dem Bauern die Frage nach seinem Namen auf der Zunge brannte.
Drinnen war Aylisha von der Bäuerin umsorgt worden. Sie war eine dralle Frau, der man ansah, dass sie zupacken konnte. Als ihr Mann und die Gäste eintraten, blickte sie U’Shaine und Fher neugierig an.
»Das ist Laknar«, stellte Gorthan seine Frau vor.
Jurak nickte und murmelte einen Gruß. Die Prinzessin saß am Tisch und aß. Vor ihr stand ein gefüllter Teller; das Essen darauf sah appetitlich aus, und U’Shaine verspürte ein plötzliches Hungergefühl.
»Setzt Euch«, forderte der Bauer ihn auf und schenkte Wein in einen Becher. »Auf Euer Wohl.«
Aylisha lächelte. »Es schmeckt köstlich!«, sagte sie zu ihren Begleitern und wandte sich an die Bäuerin. »Laknar, Ihr seid eine hervorragende Köchin.«
Die Frau dankte bescheiden.
Jurak U’Shaine und der Freikämpfer hatten Platz genommen. Das gebratene Fleisch auf seinem Teller verströmte einen betörenden Duft. Herzhaft bissen sie hinein und nickten anerkennend.
»Woher kommt Ihr?«, erkundigte sich Gorthan. »Eine lange Reise scheint hinter Euch zu liegen ...«
»So ist es«, erwiderte der Waffenmeister. »Doch nun sind wir am Ziel angelangt. Sagt, mein Freund, wer regiert das Volk der Norgier?«
Er hatte mit einem bangen Gefühl diese Frage gestellt. Seit seinem Weggang hatte er die Heimat nie wieder betreten. Jurak wusste weder, ob sein Vater noch lebte, noch wie sonst die Verhältnisse in Norgien waren.
»Thorak U’Shaine«, lautete die Antwort. »Er ist seit vielen Jahren unser Herrscher, weise und gerecht.«
Jurak atmete innerlich erleichtert auf und warf der Prinzessin einen vielsagenden Blick zu, den Aylisha mit einem leichten Kopfnicken quittierte. Beide wussten, dass diese eine gute Nachricht war. Vielleicht würde der Vater dem Sohn vergeben, ganz gewiss aber würde Thorak U’Shaine verstehen, warum der Ausgestoßene zurückgekehrt war.
Gorthan konnte seine Neugier jetzt nicht mehr verhehlen.
»Ihr habt Eure Namen noch nicht genannt«, sagte er und blickte seine Gäste durchdringend an.
»Verzeiht«, nickte der Waffenmeister und deutete auf seine Begleiter. »Das sind Fher und Prinzessin Aylisha, Tochter König Urdaks von Argoon und seine legitime Nachfolgerin auf dem Thron.«
Die beiden einfachen Leute blickte das Mädchen ehrfürchtig an. Sie hatten ganz sicher nicht erwartet, dass es sich bei ihm um eine so hochgestellte Persönlichkeit handelte.
Doch es sollte nicht ihr einziges Erstaunen bleiben. Der Waffenmeister hatte seinen Weinbecher gehoben und trank einen Schluck.
»Meinen Namen werdet Ihr kennen«, fuhr er fort. »Ich bin Jurak U’Shaine ...«
Die auf diese Worte folgende Stille war beinahe unheimlich. Gorthan und Laknar sahen sich an, während sich ihre Augen vor Aufregung weiteten.
»Ihr ... Ihr seid Thoraks Sohn?«, rief der Bauer. »Aber wie kann das sein? Es heißt, Ihr währet nicht mehr am Leben! Seit Eurem Fortgang trauert unser Herrscher um Euch. Thorak sandte Männer aus, Euch zu suchen. Sie alle kamen zurück, ohne Euch gefunden zu haben. Jedermann war sicher, dass Ihr tot seid. Euer Vater war untröstlich und erwägte gar seinen Rücktritt, um sich in die Einsamkeit der Wälder zurückzuziehen und sich dort seinem Kummer über Euer Schicksal hinzugeben.«
U’Shaine schluckte. Gorthans Worte hatten unbegreifliche Empfindungen in ihm ausgelöst. Bedeuteten sie doch, dass sein Vater ihm vergeben hatte.
»Ich danke Euch für diese Nachricht«, sagte er mit belegter Stimme. »Wie Ihr seht, lebe ich noch. Meine Rückkehr in die Heimat erfolgt nicht ohne Grund. Es sind Dinge geschehen, die auch das norgiersche Volk betreffen. Ich gestehe, dass es mir nicht leichtgefallen ist, meinen Fuß auf den Boden meiner Väter zu setzen. Doch jetzt ist es mir leicht ums Herz.«
»Von welchen Dingen sprecht Ihr, Herr?«, fragte der Bauer.
»Von dem Mord an König Urdak, der erst der Anfang für weiteres Morden war, für Angst und Unterdrückung. Die Mächte der Finsternis trachten danach, die Herrschaft über die Welt der Menschen zu erlangen. Und es wird ihnen gelingen, wenn sich nicht jedes Volk ihnen entgegenstellt!«
Mit vor Furcht geöffneten Augen hörten der Bauer und seine Frau, was sich im fernen Argoon ereignet hatte. Das Königreich war für sie nicht mehr als ein Name, das Land selbst würden sie in ihrem Leben wohl niemals sehen. Aber sie begriffen, was die Gäste ihnen sagten – ihre Heimat, sie selbst waren verloren, wenn die dunkle Göttin den Sieg davontrug.
*
Bis zum Morgengrauen hatte Vhanis nach ihren Gefährten gesucht.
Vergebens!
John Buchannan und Hartung waren wie vom Erdboden verschluckt.
Als die Amazone zum Lagerplatz zurückkehrte, erwartete sie eine Überraschung. Die Leichen der beiden getöteten Untiere waren verschwunden. Selbst der abgeschlagene Arm lag nicht mehr dort, wo er hingefallen war.
Vhanis schürte das Feuer neu und setzte sich an die wärmenden Flammen. Ihre Pferde standen immer noch dort, wo Hartung sie gestern Abend festgebunden hatte. Während des Kampfes mit den Rattenwesen hatten sie in Panik gewiehert und mit den Hufen geschlagen; jetzt grasten sie friedlich, als hätte es diesen Spuk nie gegeben.
Während sie von den Vorräten aß, überlegte die Kriegerfrau, was sie unternehmen sollte. Es war wichtig, dass sie zum Reich der Zwerge gelangte, um das Kleine Volk zu mobilisieren. Andererseits widerstrebte es ihr, die Gefährten ihrem ungewissen Schicksal zu überlassen. Hin und her wogte ihr innerer Kampf, schließlich siegte das Pflichtgefühl. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass sie auf das Leben zweier Männer Rücksicht nehmen konnte. Vhanis sattelte die Pferde und packte die Sachen zusammen. Die Reittiere ihrer Begleiter band sie hintereinander an und führte sie am Zügel mit sich.
Gegen Mittag tauchten in der Ferne Berge auf, und Vhanis wusste, dass sie ihrem Ziel nahe war. Der Bergwald war das Gebiet, in dem die Zwerge lebten. Hier trieben sie Stollen in den Berg und schürften Gold und Edelsteine. Es waren sagenumwobene Wesen, früher einst Freunde der Menschen. Aber im Laufe der Jahrtausende hatte sich diese Freundschaft gewandelt. Was genau geschehen war, konnte niemand mehr sagen, aber aus den einstigen friedlichen Nachbarn waren erbitterte Feinde geworden. Das war es, was das Unternehmen der Amazone auch so schwierig machte. Sie musste den Herrscher des Zwergenvolks davon überzeugen, dass die Menschen seine Hilfe brauchten. Da die Kriegerfrauen, genau wie die Zwerge im Allgemeinen, den Umgang mit den anderen Völker mieden, hatte Jurak U’Shaine Vhanis mit dieser heiklen Mission beauftragt. Er hoffte, dass das Kleine Volk der Amazone eher trauen würde als einem Abgesandten des argoonischen Königshauses.
Sie ritt über einen breiten Pfad, der durch den Wald führte. Um sie herum wurden die Geräusche lauter; Vögel zwitscherten in den Bäumen, Tiere brachen durch das Dickicht, als sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-608-2
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