Ken Norton – Band 7
Lothar Gräner – Barke in der Zeit
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
KEN NORTON
Das große Fantasy-Abenteuer Band 7
Barke in der Zeit
von
Lothar Gräner
Die Augen der Prinzessin glänzten vor Begeisterung, als sie auf das satte, tiefgrüne Land zeigte. Darin leuchteten bunte Blumen, geheimnisvoll schillernd. In den hohen Bäumen sangen bunt gefiederte Vögel, und Blüten und Früchte lockten summende Bienen an.
»Seht euch das an!«, rief sie. »Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?«
Jurak U’Shaine lächelte. »Nein, Aylisha«, antwortete er, »solche Farben gibt es wohl nur im Land der Elben.«
Der große, breitschultrige Krieger, der hinter ihnen ritt, blickte eher ausdruckslos. Er schien sich nicht für das herrliche Farbenspiel zu begeistern. Doch hinter der scheinbaren Gleichgültigkeit lag Wachsamkeit. Der Freikämpfer hatte seine Augen überall; er war bereit, im Falle einer Gefahr das Schwert zu ziehen und die beiden Gefährten zu verteidigen.
»Was ist mit Euch, Freund Fher?«, rief Aylisha über den Rücken zurück. »Freut Ihr Euch nicht an dem Farbenspiel?«
Der Hüne gab einen Grunzlaut von sich. Es klang verächtlich.
»Gaukelei und Augenwischerei«, entgegnete er. »Die Elben sind ein sonderbares Volk. Ich traue ihnen nicht.«
»Ich denke, Euer Misstrauen ist unbegründet«, schüttelte der Waffenmeister den Kopf. »Im Dorf sind wir gastfreundlich aufgenommen worden, und König Ilfing wird uns ebenso empfangen.«
Jurak U’Shaine blickte sich suchend um. »Weit kann es nicht mehr sein«, murmelte er.
Aylisha hatte ihr Pferd neben einen Strauch getrieben, an dem saftige Früchte hingen. Sie pflückte eine davon und biss hinein.
»Lasst uns weiterreiten«, sagte U’Shaine und deutete nach vorne. »Wenn die Beschreibung richtig ist, die man uns gegeben hat, dann müssen wir unser Ziel bald erreicht haben.«
Am Morgen waren sie aus dem Dorf aufgebrochen, in dem die Prinzessin auf ihrer Flucht vor den dämonischen Bestien Zuflucht gefunden hatte.
Nach einiger Zeit wurde der Wald dichter, und bald schien kaum mehr das Sonnenlicht durch das Blätterdach. Fher wurde noch aufmerksamer. Zwar waren sie weit von Argoon entfernt, doch die Häscher des Priesters konnten überall sein.
Endlich lichtete sich das Dickicht, doch dann versperrte ein umgestürzter Baum den Weg.
»Vorsicht!«, rief der Freikämpfer. »Das könnte eine Falle sein.«
Sie zogen ihre Schwerter und warteten ab. Ein leises Lachen ertönte, dann hörten sie eine Stimme.
»Steckt Eure Waffen weg. Wenn wir gewollt hätten, wäret Ihr jetzt schon tot.«
Die Gefährten sahen sich um. Sie hatten keine Ahnung, woher die Stimme gekommen war. Um sie herum war nichts als Wald und Buschwerk.
»Seid unbesorgt«, vernahmen sie den Sprecher erneut. »Wir sind gekommen, um Euch an dieser Stelle zu empfangen und nach Mornhaim zu bringen.«
Im nächsten Moment teilte sich das Gebüsch vor ihnen, und ein Elb trat heraus.
»Willkommen«, sagte er. »Mein Name ist Nao. Ich grüße Euch im Namen Ilfings.«
Nacheinander kamen weitere Elben zum Vorschein, sechs an der Zahl, die sich respektvoll vor der Prinzessin verneigten.
»Verzeiht, dass wir Euch nicht gleich offen entgegengetreten sind«, bat Nao. »Aber die Kunde von den Vorgängen in Bel-achay hat auch das Elbenland erreicht, und der König ordnete Vorsicht an.«
»Wir freuen uns, Mornhaim gefunden zu haben«, erwiderte Aylisha. »Und habt Dank für Eure Eskorte.«
Nao neigte wieder den Kopf. Die Gefährten hatten die Schwerter zurückgesteckt und stiegen von den Pferden. Die Tiere am Zügel führend, überstiegen sie den gefällten Baum und folgten der Schar.
Nicht lange darauf erreichten sie eine Lichtung und sahen den Herrschersitz des Elbenkönigs.
Mornhaim war nicht nur das Schloss, das auf einem Hügel stand, sondern auch die Häuser und Katen ringsum, die sich an seine Mauern zu schmiegen schienen. Das Schloss überragte sie, und sein Anblick löste bei den Menschen Erstaunen aus.
Die weißen Mauern glänzten in der Sonne. Zinnen, Türme und Dächer waren mit bunten Fahnen geschmückt, und eine Brücke führte über einen ringsum verlaufenden Graben. Nao eilte voraus, die anderen folgten ihm.
Im Schlosshof herrschte geschäftiges Treiben. In der offenen Küche wurde alles für ein Festmahl hergerichtet, vor den Stallungen standen prächtige Pferde, die geputzt und gestriegelt wurden, Dienstboten eilten hin und her und vor der großen Freitreppe standen die edelsten des Elbenvolkes zum Empfang bereit. Die Damen trugen prächtige Kleider, ihre Haare waren mit Blumen geschmückt. Die Elbenritter hatten Rüstungen angelegt, die in der Sonne blitzen. Auf der obersten Stufe wartete Ilfing.
Der König war hoch gewachsen. Er trug ein dunkles Gewand, das in der Mitte von einem goldenen Gürtel gehalten wurde; goldfarben waren auch seine Stiefel. Sein Haar war schulterlang und glänzte silbrig, darauf trug Ilfing eine mit Edelsteinen verzierte Krone. Er hatte ein markantes Gesicht, das von zwei unergründlich blickenden Augen dominiert wurde.
Aylisha und ihren Gefährten wurden die Pferde abgenommen. Nachdem sie sich den Staub von den Kleidern geklopft hatten, stiegen sie die Treppe hinauf. Ilfing kam ihnen entgegen.
»Seid willkommen, Prinzessin«, sagte der Herrscher mit einer angenehmen Stimme. »Es betrübt mich, dass Euer Besuch einen so traurigen Anlass hat. Lasst Euch mein Bedauern über den Verlust Eures Vaters und des Königs von Argoon bekunden. Ich habe Urdak stets für seine Güte und Weisheit verehrt.«
Die Prinzessin verneigte sich. »Ich danke Euch, König Ilfing, für Eure tröstenden Worte«, antwortete sie. »Lasst mich Euch meine Begleiter vorstellen.«
Ilfing lächelte. »Euren Waffenmeister kenne ich wohl«, sagte er. »Seid auch Ihr willkommen, Jurak U’Shaine.«
»Und dieser Krieger hat sich unserer Sache angeschlossen«, deutete Aylisha auf den Freikämpfer. »Sein Name ist Fher.«
Der König entbot dem Hünen seinen Gruß und machte eine einladende Handbewegung.
»Kommt herein«, sagte er. »Es ist alles für ein Festmahl vorbereitet. Später wollen wir die Angelegenheit bereden, derentwegen Ihr den weiten Weg nach Mornhaim unternommen habt.«
Aylisha nickte und betrat neben Ilfing die große Halle.
Hier herrschte, ebenso wie draußen, ein geschäftiges Treiben. Diener und Mägde eilten hin und her. Die riesige Tafel bot Platz für hundert oder mehr Gäste. An den Wänden hingen kostbare, gewebte Teppiche, die Szenen aus dem Alltag des Elbenvolkes darstellten. Die Marmorsäulen waren von Blumen umrankt, Springbrunnen plätscherten in den Ecken, und an der Stirnseite sprang ein Wasserfall direkt aus der Wand, floss über Felsen und künstlich angelegte Inseln, um irgendwo an der Seite wieder zu verschwinden.
Die Elbendamen und Ritter waren den Gästen gefolgt. Jeder schien zu wissen, wo sein Platz war, und schnell saßen sie an der Tafel und warteten auf das Mahl. Ilfing hatte die Prinzessin zu seiner Rechten platziert, während Jurak U’Shaine links von ihm saß, neben dem Freikämpfer. Auf ein Zeichen des Königs wurde aufgetragen, und von der Empore erklang Musik. Schnell hatte das Gerede ein Ende, und man konzentrierte sich auf das Essen.
»Sagt, Prinzessin«, wandte sich Ilfing an Aylisha, »ist es wahr, dass Ihr den Bestien, die Euch töten oder entführen wollten, mithilfe eines meiner Untertanen entkommen seid?«
»Ja, Herr«, nickte sie. »Farain heißt der tapfere Bursche, der mich gerettet hat.«
»Ich kenne den Namen. Elha ist seine Mutter, und sein Vater ist ein Mensch. Horm, der noch vor der Geburt seines Sohnes verschwand.«
»Und jetzt ist Farain verschwunden«, berichtete Aylisha.
Ilfing sah sie überrascht an. »Verschwunden?«
»Ja. Elha vermutet, dass er auf dem Weg nach Bel-achay ist, um nach seinem Vater zu suchen, dessen Spur sich dort verliert.«
Der Elbenkönig machte ein nachdenkliches Gesicht. »Hoffen wir, dass Chrios seinen Weg begleitet«, sagte er leise.
Das Essen zog sich lange hin. Immer neue Platten und Schüsseln wurden zu Ehren der Gäste aufgetragen. Erst nachdem auch Früchte und kalte Cremes verspeist waren, hob Ilfing die Tafel auf und lud die Gäste in seine Privaträume ein.
Aylisha bat darum, sich zuerst erfrischen zu dürfen, und ein junger Elb führte sie und die beiden Männer durch einen langen Flur, eine Treppe hinauf und einen weiteren Gang. Ihre Zimmer lagen nebeneinander und waren reich ausgestattet. Es fehlte an keiner Bequemlichkeit, sogar warmes Wasser wurde gebracht, in dem Blumen schwammen, die einen betörenden Duft verströmten und das Wasser aromatisierten.
Nachdem sie sich gewaschen und die Kleider gesäubert hatten, brachte der Elb sie zum König. Ilfing stand am Fenster des Raumes und blickte hinaus. Als die Gefährten eintraten, drehte er sich um und ging ihnen entgegen.
»Nehmt Platz«, forderte er sie auf.
Ein Diener brachte erfrischende Getränke. Ilfing hob seinen Pokal.
»Auf die Herrin von Argoon.«
Aylisha schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht sein, solange der Tod meines Vaters nicht gerächt ist«, stellte sie klar.
Der Elbenkönig betrachtete sie. Ein wunderschönes Wesen, dachte er, noch nicht Frau und doch kein Mädchen mehr.
Er lächelte in Gedanken, als er sich an die Menschenfrau erinnerte, mit der er vor vielen Jahren ein Kind gezeugt hatte. Einen Sohn hatte sie ihm geboren, den er Skarf genannt hatte. Ilfing wusste nicht, was aus ihm geworden war. Die Frau, deren Namen er vergessen hatte, war längst gestorben, und manchmal, in einsamen Stunden, fragte er sich, ob er Skarf jemals wiedersehen würde. In ihm floss elbisches Blut, und wenn er nicht durch eine Waffe umgekommen war, würde er genauso lange leben wie sein Vater.
Die Stimme der Prinzessin riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ihr ahnt gewiss den Grund unserer Reise nach Mornhaim«, sagte Aylisha ernst. »Nergal, der oberste Priester des Lichttempels, steckt hinter dem Attentat auf meinen Vater. Inzwischen ist es ihm gelungen, die Macht an sich zu reißen und ein schreckliches Regime zu errichten. Nergal paktiert mit dem Herrscher des Dämonenreiches. My-Tharn-yarl greift durch ihn nach der Macht über alle Länder und Völker an der ›Straße der Legenden‹. Dem muss Einhalt geboten werden, sonst sind wir alle verloren! Ihr habt von den dämonischen Bestien gehört, die auf Nergals Befehl Überfälle begehen, arme, unschuldige Menschen töten und sich an deren Fleisch laben.
Hört, König Ilfing, ich habe bei Chrios geschworen, Nergal und seine dunkle Armee zu bekämpfen und den Tod meines Vaters zu rächen. Viele haben sich uns schon angeschlossen, aber es sind noch längst nicht genug. Auch Euch bitte ich um Euren Beistand. Das Volk der Elben ist ebenso gefährdet wie jedes andere, das an den Ufern des großen Flusses lebt. Wollt Ihr uns diesen Beistand gewähren?«
Jurak U’Shaine hatte die ganze Zeit geschwiegen, Fher hielt sich ohnehin im Hintergrund. Jetzt ergriff der Waffenmeister das Wort.
»Ich weiß, dass Euch diese Entscheidung nicht leichtfallen kann«, sagte er. »Euer Volk lebte fernab der Menschen, und doch ist es nur eine scheinbare Sicherheit. Denn die Prinzessin hat recht – Nergal wird sich nicht damit zufriedengeben, nur ein Land, ein Volk zu unterdrücken. Immer weiter wird er voranschreiten auf dem Weg zu seinem Ziel, und dieser Feldzug hat nur einen Zweck: dem Dämonengott Tür und Tor zu öffnen!«
Ilfing schien in weite Ferne zu blicken, dennoch hatte er zugehört. Endlich, nach einer langen Weile, richtete er seinen Blick auf den Waffenmeister.
»Es hätte Eurer eindringlichen Worte nicht bedurft, Jurak U’Shaine«, antwortete er. »Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Und doch gebietet es mir die Fürsorge für mein Volk, abzuwägen und es vor allen Gefahren zu beschützen.«
Er hob die Hand, als Aylisha eine Bemerkung machen wollte.
»Das heißt nicht, dass ich Euer Anliegen nicht unterstütze«, fuhr er fort. »Doch es wird eine Weile dauern, bis ein Heer zusammengestellt ist. Zudem ist es Jahrhunderte her, dass wir Krieg geführt haben. Meine Ritter sind im Kampf nicht mehr so geübt. Sie müssen sich die alten Fähigkeiten erst wieder aneignen. Rechnet also nicht in Bälde mit Unterstützung.«
Die Prinzessin atmete auf. »Ihr werdet genug Zeit haben, Euch vorzubereiten«, rief sie. »Gleich morgen früh reisen meine Begleiter und ich weiter nach Norgien, um auch das Volk meines Waffenmeisters von der Notwendigkeit, sich uns anzuschließen, zu überzeugen.«
»Wann werdet Ihr zurückkehren?«, wollte der Elbenkönig wissen.
»Wenn der Mond zum zweiten Mal wieder voll am Himmel steht«, sagte U’Shaine. »Von jetzt an gerechnet.«
Ilfing nickte.
»Und wo werden die Truppen der Verbündeten sich vereinigen?«
»Ihr kennt die frühere Karawanenstraße, die von Nord nach Süd führte«, antwortete der Waffenmeister. »Längst wird dieser alte Handelsweg nicht mehr benutzt. Südöstlich davon, einen Tagesmarsch entfernt, stehen die Ruinen von Lur. Das ist der Treffpunkt.«
König Ilfing erhob sich und sah sie der Reihe nach an.
»Bei den Ruinen von Lur«, nickte er. »Gebe Chrios, dass das Licht den Sieg davontragen wird!«
*
»Ich habe Hunger!«
Thiras Stimme riss ihn aus dem Schlaf. Müde wischte sich Farain über die Augen. Er gähnte und richtete sich auf.
Am Vortag hatten sie sich in die Stadt geschlichen. Nachdem sie vom Wagen des Bauern, auf dem sie sich versteckt hatten, heruntergesprungen waren, standen das Mädchen und der Elb staunend auf einer breiten Straße. Bel-achay war riesig; weder Thira noch Farain hatten jemals etwas Vergleichbares gesehen. Mit ungläubigen Blicken wanderten sie durch die Stadt, vom Tempel über den Markt mit all seinen Ständen, bis hinunter zum Hafen, in dem große und kleine Schiffe lagen. Überall herrschte ein Kommen und Gehen, die Menschen redeten durcheinander, und der Lärm tat beinahe weh in ihren Ohren.
Am Abend suchten sie sich ein Versteck zum Schlafen. Geld, um in einer der Herbergen ein Zimmer zu mieten, hatten sie nicht, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als in einem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-607-5
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