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Ken Norton – Band 6
Lothar Gräner – Herrscher der Nebelinsel
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de


KEN NORTON
Das große Fantasy-Abenteuer Band 6

Herrscher der Nebelinsel
von
Lothar Gräner

Der Morgen dämmerte gerade erst, als sich die beiden Gefährten aus ihren Decken schälten. Ken Norton reckte die Glieder und richtete sich auf. Tam y Lin, der ein paar Schritte neben ihm lag, sah ihn an und grinste.
»Bei Chrios, das wird ein guter Tag!«, sagte der Gaukler.
»Euer Wort in Chrios’ Ohr«, erwiderte der Anthropologe, in Abwandlung eines Sprichworts aus seiner Welt.
Er sah zum Himmel hinauf, der wolkenlos war. »Immerhin scheint es gutes Reisewetter zu sein.«
Die Männer sahen nach den Pferden, die sie in einiger Entfernung angebunden hatten. Sie befanden sich an der Grenze Argoons zum Nachbarland Dairien. Die letzten Tage waren sie durch bergiges Gelände geritten. Ken hatte schon geglaubt, die Felsen würden überhaupt nicht mehr aufhören. Die Kargheit der Landschaft konnte schwermütig machen. Hinzu kam, dass es einen Tag nach ihrer Abreise aus dem Dorf des Bergvolkes zu regnen angefangen hatte. Erst gestern hatten sich die dunklen Wolken verzogen, und die Sonne zeigte sich wieder.
Ihr Frühstück bestand aus einem frugalem Mahl; ein paar getrocknete Fleischstücke, die Torg ihnen mitgegeben hatte, und etwas Wasser aus den Schläuchen an ihren Sätteln. Das Futter der Pferde bestand aus dem, was die Tiere unterwegs abzupften; die Beutel, in denen sich etwas zu fressen befunden hatte, waren leer.
»Nicht mehr lange, und die Pferde und wir haben wieder einen vollen Magen können sich satt fressen«, versprach Tam y Lin.
Sie hatten seit dem Morgen nichts mehr gegessen und waren den ganzen Tag durchgeritten. Die hügelige Landschaft wurde von kleinen Wäldern gesäumt, unbekannte Pflanzen zogen Ken Norton in ihren Bann. Doch zum Verweilen war keine Zeit. Immer schneller trieben sie ihre Pferde voran, gönnten sich und den Tieren keine Pause.
Der Engländer dachte an seinen Gefährten, John Buchannan, der mit der Amazone und dem Siedler geritten war. Er hoffte, dass es dem Iren gutging und dass die Mission der drei genauso erfolgreich verlaufen würde wie die, die er und der Sänger hoffentlich erfüllen würden.
»Da, seht!«
Tam y Lin deutete nach vorne. Die beiden Reiter hatten einen langgestreckten Hügel überquert und blickten auf eine Ansiedlung hinab. Sie bestand aus einer Handvoll Häuser, die dicht gedrängt standen und von einem Palisadenzaun umgeben waren.
»Das ist Thalen«, erklärte Tam. »Das erste dairienische Dorf an Argoons Grenze. Hier herrscht König Olv. Er ist ein ... na, sagen wir mal, ein etwas eigenartiger Mann ...«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte der Engländer.
Kens Gefährte zuckte mit den Schultern. »Mir wäre es lieber, wenn wir das Dorf umrunden könnten«, fuhr er fort. »Aber wir brauchen dringend eine Pause, von den Pferden ganz zu schweigen. Außerdem ist hier die einzige Möglichkeit, unseren Proviant aufzufüllen.«
Der Engländer schaute skeptisch auf die Holzhäuser. Das sollte ein Königreich sein? Von einem Palast oder Ähnlichem war nichts zu sehen. Bestenfalls kam dafür ein langes, großes Haus in Betracht. Es war das größte von allen.
»In Dairien gibt es viele Könige«, erklärte der Sänger auf Kens entsprechende Bemerkung. »Ober- und Unterkönige. Kleinstaaterei eben. Jeder will in seinem Reich das Sagen haben. Aber über allen herrscht Ayman, der König von Thurs, dem größten Dorf.«
»Lieber Himmel, hört auf«, stöhnte Ken Norton. »Mir schwirrt schon der Kopf von deiner Erzählung. Mich interessiert eigentlich nur eines: ob wir alle Ober- und Unterkönige überzeugen können, sich unserer Sache anzuschließen.«
Tam y Lin lächelte verschmitzt. »Warten wir es ab«, entgegnete er und trieb sein Pferd den Hügel hinunter.
Ken folgte ihm. Er hatte die Dschellaba ausgezogen und hinter sich auf den Sattel geschnallt. Noch immer trug er die Kleidung – Jeans, Hemd und Stiefel –, mit der er das Hotel in Marrakesch verlassen hatte und zu Khalid, seinem Freund aus alten Tagen, gegangen war.
Mein Gott, wie lange ist das schon her?
Der Engländer fand keine Antwort auf diese Frage. Wochen waren zumindest vergangen, wenn nicht gar Monate.
Ken dachte an die erste Begegnung mit Raymond de Chanfray, dem geheimnisvollen Grafen, der ihn auf die Suche nach dem Zepter geschickt hatte. Mit dieser Suche hatte alles angefangen, und es war noch längst nicht zu Ende.
Der Gaukler, Taschenspieler und Bänkelsänger zügelte sein Pferd und blickte zurück. Das Dorf lag am Rande eines Waldes, Rauch stieg aus den Hütten, und vor den Palisaden weideten Pferde. Tam y Lin wartete, bis sein Reisegefährte herangekommen war.
»Dann wollen wir König Olv mal unsere Aufwartung machen«, sagte er. »Und hoffen, dass er guter Laune ist.«
Sie ritten langsam weiter. Vor dem Eingang der Umzäunung stand eine Wache. Der Mann war groß und breitschultrig, das strohige Haar war im Nacken zu einem Zopf gebunden. Er trug ein graues Wams und Hosen aus demselben Stoff; ein Messer steckte im Gürtel und in der rechten Hand hielt er eine Lanze, deren Spitze auf die beiden Reiter zeigte.
»Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier?«, fragte er mit rauer, kehliger Stimme.
Tam y Lin setzte ein fröhliches Lachen auf. »Wir grüßen das Volk der Dairier«, antwortete er mit einer Verbeugung. »Zwei Reisende bitten um ein Mahl und einen Platz zum Ausruhen. Wir sind schon lange unterwegs, und unser Weg ist noch weit. Meldet König Olv die Ankunft von Tam y Lin, des weit über die Grenzen Argoons hinaus bekannten Sängers, und seines Begleiters Ken.«
Der Torwächter hatte sie misstrauisch beäugt. Als er den Namen des Mannes vor ihm hörte, überzog ein Grinsen sein Gesicht.
Offenbar hatte sein Begleiter nicht übertrieben, dachte der Engländer, man kannte den Sänger tatsächlich auch hier.
Der Mann ließ seine Lanze sinken und gab den Weg frei. Sie durchritten das Tor und kamen auf einen großen Platz. Hier sah Ken, dass die Hütten doch nicht so gedrängt standen, wie es den Anschein gehabt hatte. Das große, langgestreckte Haus stand am anderen Ende. Tam y Lin hielt darauf zu, ohne sich um die neugierigen Blicke zu kümmern, die den beiden Männern folgten.
»Das ist der Herrschersitz«, sagte Tam. »Haltet Euch genau an das, was ich sage, und verhaltet Euch, wie ich es tue.«
Er sprang aus dem Sattel und streckte die vom Reiten steifen Glieder. Auch hier stand eine Wache vor der Tür, sah aber weniger abweisend aus als der Mann am Tor, der ihnen gefolgt war und jetzt das Haus betrat.
Ohne zu zögern ging der Sänger hinterher, und Ken folgte dem Gefährten.
Drinnen brannte ein Feuer, dessen Rauch durch eine Öffnung im Dach abzog. Der Anthropologe schaute sich um. Unwillkürlich wurde er an die Langhäuser der Wikingerzeit erinnert. Lange Bänke standen an den Wänden zu beiden Seiten, davor Tische, an denen eine Anzahl Männer und Frauen saßen. Sie tranken aus irdenen Bechern, lachten und redeten durcheinander. Die Wände waren mit Fellen und Schilden behängt; gekreuzte Lanzen und Schwerter glänzten im Schein der brennenden Fackeln.
Die Mitte des Raumes war frei. Rechts und links führten Treppen in das obere Stockwerk, und an der Stirnseite stand, auf einem erhöhten Podest, ein großer, breiter Holzstuhl, der reich verziert war.
Wie im Haus von Mustafa Terjoong, dachte Ken, während er dem Sänger folgte, der hinter dem Torwächter unbeirrt auf den Mann zuging, der auf dem Thron saß. Zwei Schritte davor hielt Tam y Lin an und verbeugte sich.
Ihr Begleiter beugte sich vor und sagte etwas zu dem Mann auf dem Stuhl. Ken Norton betrachtete ihn fasziniert. König Olv schien geradezu das Abbild eines nordischen Kriegers zu sein. Sein muskulöser Oberkörper war, abgesehen von einem breiten Riemen, der sich über die mächtige Brust spannte, nackt. Lediglich ein Umhang aus Fell bedeckte die breiten Schultern. Beine und Füße steckten in Lederhosen und Stiefeln. Breitbeinig saß er da, die rechte Hand auf die Lehne gestützt, in der linken einen Becher, den er immer wieder zum Mund führte. Das Gesicht des Königs war kantig und wurde fast zur Hälfte von einem schwarzen Bart verdeckt; sein Haar zeigte bereits einige graue Strähnen, die unter einem silbernen Helm hervorlugten, dessen Seiten mit gehämmerten Flügeln verziert waren. Buschige Augenbrauen vervollständigten das Bild von einem herrschsüchtigen Mann, der die meiste Zeit seines Lebens übel gelaunt zu sein schien.
Der Torwächter entfernte sich unter Verbeugungen vom Thron, und der Blick des Königs fiel auf die beiden Ankömmlinge.
»Was führt Euch so weit fort von Urdaks Reich?«, fragte Olv den Sänger.
Tam y Lin trat vor. »Argoons Thron ist verwaist«, antwortete er. »König Urdak wurde ermordet, in Bel-achay regiert eine Marionette, doch der wahre Herrscher dahinter ist Nergal, der Oberpriester, der für das Attentat verantwortlich ist. Er hat Chrios abgeschworen und dient nun dem finsteren Gott, dessen Name besser unausgesprochen bleibt.«
Der König beugte sich überrascht vor. »Was redet Ihr da?«
»Es ist so, wie ich es sage. Die Kunde ist noch nicht zu allen Völkern an der Straße der Legenden gedrungen. Doch die, die es wissen, schließen sich der rechtmäßigen Thronerbin an. Prinzessin Aylisha versammelt Verbündete um sich, um den Kampf gegen Nergal und die Mächte der Finsternis aufzunehmen.« Tam y Lin deutete auf Ken Norton. »Mein Freund hier und ich, wir sind auf dem Wege zu den Nebelinseln, um Prinz Vangar für unsere Sache zu gewinnen«, fuhr er fort. »Und Euch, König Olv, bitten wir um Unterstützung auf unserer Reise; ein Mahl, etwas Proviant und, wenn es Euch gefällt, ein Lager für die Nacht.«
Der Dairier knebelte nachdenklich seinen schwarzen Bart. »Die Bitte sei Euch gewährt«, sagte er schließlich nach einer schier endlosen Weile. »Nehmt an meiner Tafel Platz, esst und trinkt und schlaft Euch aus. Wenn Ihr morgen weiterreist, sollen Eure Proviantsäcke und Wasserschläuche gefüllt sein.«
»Wir danken dem Herrn von Thalen, aber ich habe noch eine Bitte«, sagte Tam y Lin. »Schickt einen Boten zum Hofe von Thurs und gebt König Ayman Nachricht von dem, was in Argoon geschehen ist. Der oberste König muss entscheiden, ob das Volk der Dairier sich aus dem Kampf heraushalten kann.«
»So soll es geschehen.« Olv neigte das Haupt.
Der Sänger verbeugte sich und der Engländer tat es ihm gleich. Sie setzen sich an einen der langen Tische, wo ihnen bereitwillig Platz gemacht wurde. Eine Magd stellte Schüsseln mit Braten und gedünstetem Gemüse auf den Tisch, einen Krug mit Wein und zwei Becher brachte ein Diener.
»Scheint so, als habe er heute recht gute Laune«, raunte Tam seinem Begleiter zu. »Aber das muss nicht unbedingt etwas heißen. König Olv ist berüchtigt dafür, dass seine Launen stündlich wechseln.« Er zuckte mit den Schultern. »Also, lasst uns essen, solange er uns wohlgesonnen ist.«
Sie aßen und tranken, und ihre Teller und Becher wurden ohne zu fragen erneut gefüllt, wenn sie leer waren. In einer Ecke hatten sich Musikanten versammelt; zwei Trommler und ein Lautenspieler. Bald schon tanzten die ersten Paare ausgelassen. Eine Frau mit langen, roten Haaren saß auf dem Schoß des Königs, der ihr ungeniert in den Ausschnitt griff. Dann entstand irgendwo in der großen Halle ein Streit. Zwei Männer schlugen aufeinander ein. Einer stürzte zu Boden, der andere zog seinen Dolch und warf sich auf ihn.
Ken Norton wollte aufspringen, doch Tam y Lin zog ihn auf die Bank zurück.
»Seid kein Narr und mischt Euch da nicht ein«, sagte er.
König Olv stieß die Frau von sich und stand auf. Die Kämpfenden waren so miteinander beschäftigt, dass sie die schweren Schritte nicht hörten, mit denen der Herrscher sich näherte. Er hatte ein breites Schwert gezogen und hieb damit auf die beiden ein.
Den Engländer durchfuhr ein eisiger Schreck, als er den Doppelmord mit ansehen musste. Für einen Augenblick war es totenstill in der Halle.
»Was ist?«, rief der Herr von Thalen. »Schafft die beiden hinaus und feiert weiter!«
»Versteht Ihr jetzt, was ich gemeint habe?«
Ken Norton nickte und schob seinen Teller beiseite; der Appetit war ihm vergangen.
»Wir werden morgen früh verschwinden, ehe sie es bemerken«, raunte der Sänger ihm zu. »Leider werden wir auf den Proviant verzichten müssen, aber das ist immer noch besser, als den Launen eines verrückten Königs ausgesetzt zu sein.«
Ken Norton nickte unmerklich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er Thalen jetzt sofort verlassen. Doch das war zu riskant. Niemand konnte voraussehen, wie König Olv auf diesen Affront reagieren würde.
Ihm blieb nichts

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-606-8

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