Ken Norton – Band 5
Lothar Gräner – Dämonenblut
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Ken Norton
Das große Fantasy-Abenteuer Band 5
Dämonenblut
von
Lothar Gräner
Alles um sie herum wirkte gespenstisch. Grau war der Himmel, grau auch das Land, über das sie schritten, und die Stadt, die am Horizont sichtbar war und der sie sich näherten.
Rhonda McFarlane hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, ob sie schon Stunden, Tage oder vielleicht erst Minuten unterwegs waren. Ihrem Begleiter schien es ebenso zu gehen. Pater Franco Turini, ein Jesuit und Mitglied einer geheimen Organisation innerhalb des Vatikans, die dem Präfekten für die Glaubenskongregation, Kardinal Belucci, unterstand, die es offiziell aber gar nicht gab, ging neben der englischen Journalistin. Sein markantes Gesicht war aschfahl, und Rhonda war sicher, dass ihres ebenfalls diese Farbe angenommen hatte.
»Wie lange sind wir wohl schon unterwegs ...«, murmelte der Geistliche.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie. »Aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.«
Schweigend gingen sie weiter; ein jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Nach ihrem überstandenen Abenteuer in Rumänien war die Engländerin überzeugt, dass es nicht mehr schlimmen kommen könne. Doch die Ereignisse in Ljungby, einem kleinen, verschlafenen Nest in Südschweden, belehrten sie eines Besseren. In dem beschaulichen Landstrich hatte es eine Reihe bizarrer Morde gegeben. Franco Turini war aufgefordert worden, einem Hinweis nachzugehen, dass es sich dabei um die Taten einer okkulten Sekte handeln könnte, und Rhonda begleitete ihn. Ihr erster Kontakt war der Journalist Holm Anderson, der sie auf die Spur einer ebenso attraktiven wie geheimnisvollen Frau gebracht hatte. In ihrem Haus hatten die Ereignisse ihren Anfang genommen.
Nachdem sie sich unter einem fadenscheinigen Vorwand Zutritt zu dem Haus verschafft hatten, verschwand Anderson. Rhonda und Franco vermuteten, dass der Schwede in das Haus zurückgekehrt war, und suchten dort nach ihm. Karen Lundgren überraschte sie dabei, und ihnen blieb nur die Flucht durch den magischen Spiegel im Schlafzimmer der Frau.
Eine Flucht, die sie in eine andere Welt führte – in das Reich der Toten!
Die beiden Menschen ahnten nicht, dass Stunden zuvor Holm Anderson denselben Weg genommen hatte ...
Rhonda deutete auf die Umrisse der Stadt. Sie war von Mauern umgeben, hinter denen Dächer zu sehen waren, Türme und Zinnen.
Necropolis hatte Turini sie genannt, ein Hort der Qualen und unvergänglichen Leiden. Die Engländerin schauderte bei dem Gedanken, für immer in dieser Umgebung gefangen zu sein, aus der es kein Zurück gab.
»Welche Bewandtnis hat es mit dem Spiegel?«, fragte sie.
Turini nagte an seiner Unterlippe. Er war ein attraktiver Mann, schlank und groß gewachsen. In seinem Job, als »Geheimagent« des Vatikans, war er einer der Besten. Er kannte sich mit alten Mythen und Legenden aus, und dieses Wissen hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet.
»Wenn wir von der Tatsache ausgehen, dass es neben unserer eigenen Welt noch unzählige andere gibt«, antwortete er, »dann stellt sich die natürlich Frage, wie man dorthin gelangt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Sie haben vielleicht schon einmal von dem sogenannten Astralkörper gehört?«
Rhonda nickte. Sie war keine gewöhnliche Reporterin. Das Magazin, für das sie arbeitete, »mystery news«, brachte ausschließlich Themen übersinnlicher Art und behandelte alle Facetten des Okkulten und verwandter Natur. Die Engländerin hatte ein umfassendes Wissen über all diese Dinge, und das Phänomen der Astralreise, bei der der vom Körper losgelöste Geist eines Menschen, manchmal auch Doppelkörper genannt, Reisen durch Zeit und Raum in andere Dimensionen unternahm, war ihr durchaus vertraut.
»Es ist ebenso wahr wie rätselhaft«, fuhr der Priester fort. »Wahrscheinlich wird die Wissenschaft dieses Geheimnis niemals lösen, aber es funktioniert. Es kann ein Weg in eine andere Welt sein.«
Er sagte es so überzeugt, dass Rhonda ihn überrascht ansah. Als habe er ihre unausgesprochene Frage gehört, nickte Turini.
»Ja, ich habe solche Reisen selbst schon unternommen«, sagte er. »Es ist im Grunde ganz leicht. Ruhe und Konzentration sind das Wichtigste dabei. Jeder kann es lernen, doch nur wenige wissen ihre inneren Kräfte zu nutzen.
Aber ich will nicht abschweifen. Der Spiegel in Karen Lundgrens Haus ist ein Tor in eine dieser unzähligen Welten. Es gehört viel Wissen und magisches Potenzial dazu, solch einen Spiegel zu erschaffen, und natürlich ist auch dämonische Hilfe dabei im Spiel.«
»My-Tharn-yarl?«, flüsterte Rhonda McFarlane.
Franco Turini nickte düster. »Seine Macht erstreckt sich auf viele Welten, auch auf unsere. Ich habe schon mehrfach mit seinen Anhängern zu tun gehabt und bin sicher, dass Karen Lundgren zu ihnen gehört.«
Schweigen gingen sie weiter. Necropolis rückte näher, schon konnten sie Einzelheiten ausmachen. Als Rhonda nach oben blickte, sah sie mehrere dunkle Schatten am Himmel. Sie kamen aus der Richtung der Stadt und flogen direkt auf die beiden Menschen zu.
»Du meine Güte, was ist das?«, fragte die Engländerin.
Die Augen des Italieners folgten ihrem Blick. »Alharms Totenvögel«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Alharm ist der Herrscher in diesem Reich, und sie sind seine Boten, die ihm jede neu angekommene Seele melden.«
Die Vögel flogen schneller. Rhonda betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu. Die seltsamen Gestalten erinnerten entfernt an Urzeittiere, mit ledernden Flügeln und geierartigen Köpfen. Völlig lautlos schwebten sie über den Menschen und starrten sie aus glühenden Augen an. Die Engländerin zählte sechs Totenvögel. Sie stießen ein unheimliches Krächzen aus und flogen dann nach Necropolis zurück.
»Erinnern Sie die Vögel an etwas?«, fragte Franco Turini.
Sie nickte. »Ja, an die nordische Mythologie.«
»Genau«, nickte er. »Odin, der Göttervater der Germanen, besaß zwei Raben, Hugin und Munin, die ihm alles berichteten, was auf der Welt geschah. Vielleicht sind alle diese Sagen und Legenden miteinander verbunden, denn auch im Mythos des Dämonengottes kennt man diese ›Spähervögel‹.«
Der Jesuit schritt schneller aus.
»Kommen Sie, Rhonda«, sagte er, »es wird nicht mehr lange dauern, bis wir unser Ziel erreicht haben.«
Unser Ziel, dachte die Engländerin, was wird uns dort erwarten? Der Tod?
Franco Turini hatte gesagt, dass es keinen Weg zurück geben würde. War ihrer beider Ende also unausweichlich?
Noch während Rhonda McFarlane darüber nachgrübelte, näherte sich eine Reiterschar. Als sie sich aus dem Grau vor ihnen herausgeschält hatte, sahen die beiden Menschen ein Szenario des Schreckens. Bleiche Totenschädel blickten ihnen entgegen, in den Skeletthänden hielten die Reiter Lederpeitschen, die sie durch die Luft schwangen, so dass ein vielfachen Knallen ertönte.
Die unheimlichen Gestalten saßen auf Pferden, die bis auf die Knochen abgemagert waren, und kreisten die beiden Menschen ein. Sie trieben Rhonda und Franco vorwärts, der Totenstadt entgegen.
*
Karen Lundgren stieg aus der Badewanne und trocknete sich ab. Stolz betrachtete sie ihren nackten Körper im Spiegel, bewunderte die samtweiche Haut, die hoch aufragenden Brüste, die so fest waren, dass sie keine Stütze durch einen BH benötigten, und die schlanken, langen Beine. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her, aber trotz der Vollkommenheit ihrer Figur zeichnete sich auf dem Gesicht der Schwedin ein unwilliger Ausdruck ab.
Karen war keineswegs zufrieden mit dem Gang der Ereignisse. Abgesehen davon, dass sie sich sicher gefühlt hatte, als Urheberin der Morde an sechs Menschen nicht entdeckt zu werden, war es eine böse Überraschung für sie gewesen, als Holm Anderson, dieser Italiener und die Engländerin bei ihr auftauchten. Natürlich hatte sie nicht einen Moment an den Vorwand geglaubt, den die drei benutzten, um hier herumzuschnüffeln, und als der Schwede nachts in ihr Haus eindrang, sah sie sich in ihrer Vermutung nur bestätigt.
Immerhin, den Journalisten hatte sie sich vom Halse geschafft. Genauso, wie sie es mit dem Italiener vorgehabt hatte. Nur mit der Frau war es schiefgegangen. Es war nicht geplant gewesen, dass sie ebenfalls durch den Spiegel ging; Karen hätte sie viel lieber dem Dämonengott als Opfer dargebracht. Doch das hatte der Mann vereitelt, indem er sich an die Frau geklammert und sie beide in den Spiegel gestürzt hatte. Zwar bedeuten die drei jetzt keine Gefahr mehr für sie, aber Karen brauchte dringend ein neues Opfer, um My-Tharn-yarl gnädig zu stimmen und sich erneut seiner Gunst zu versichern.
Eine Gunst, die ihr ein ewiges jugendliches Aussehen versprach und sie niemals sterben ließ.
Indes musste sie vorsichtig zu Werke gehen. Die Morde hatten für Aufsehen gesorgt, und wie sich herausstellte, hatte die Spur eines der Opfer Holm Andersen und die anderen beiden genau zu dem alten Klostergut geführt, das Carl Lundgren, Karens Mann, gekauft und als Feriensitz hergerichtet hatte.
Der Architekt selbst weilte selten hier. Das Anwesen, das malerisch an einem See lag, war ganz und gar das Refugium der Schwedin, in dem sie schalten und walten konnte, wie sie wollte.
Nachdem sie sich angezogen hatte, verließ Karen das Haus und schloss vorsorglich ab. Sie wollte nicht wieder eine unliebsame Überraschung erleben, wenn sie heimkam, und einen Eindringling vorfinden.
Sie öffnete das Garagentor und stieg in den schwarzen Volvo. Bis nach Ljungby waren es nur ein paar Kilometer. Vielleicht sollte sie ihren Radius ausweiten, überlegte die Schwedin, während sie in die Stadt fuhr. Jönköping wäre eine Möglichkeit. Es lag etwa achtzig Kilometer von dem Klostergut entfernt und war eine sehr viel größere Stadt als der Ort, zu dem sie jetzt fuhr.
Doch darüber würde sie später nachdenken. Jetzt war es erst einmal wichtig, ein neues Opfer zu finden, denn My-Tharn-yarl zu erzürnen, hieß sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Der große Dämonengott forderte sein Tribut unnachgiebig, und wer sich einmal mit ihm eingelassen hatte, konnte sich nicht wieder von ihm lossagen.
Es war ein unauflöslicher Pakt!
Karen parkte ihren Wagen vor einem Restaurant. Sie hatte schon öfter hier gegessen und dabei auch die Kontakte zu zweien ihrer späteren Opfern geknüpft. Der Kellner erkannte sie sofort wieder und begrüßte sie mit einem Lächeln. Sie ließ sich von ihm an einen Tisch führen und nahm mit einem Kopfnicken die Speisekarte entgegen.
Das Essen war schnell ausgesucht. Karen wählte gegrillten Lachs mit Orangenbutter und Dillkartoffeln. Dazu trank sie ein Glas Weißwein. Während sie auf das Essen wartete, ließ sie ihren Blick durch das Lokal schweifen. Von den achtzehn Tischen waren kaum mehr als die Hälfte besetzt. Meistens von Paaren oder kleinen Gesellschaften. An einem Tisch saß eine ältere Frau allein. Karen musterte sie ausgiebig, hatte sich aber schon für einen Mann entschieden, der vor ein paar Minuten hereingekommen war und sich in eine Ecke gesetzt hatte.
Er mochte Mitte dreißig sein, hatte blondes Haar und ein sympathisches, bartloses Gesicht. Die Schwedin hörte, wie er mit dem Kellner englisch sprach und eine kalte Platte bestellte. Während sie ihren Lachs verzehrte, schaute sie immer wieder zu ihm hinüber und bemerkte dabei, dass er sie ebenfalls ansah.
Es entwickelte sich die typische Szene eines Flirts. Zwei Menschen begegneten sich, spürten, dass da etwas war, das sie einander anzog, und vom ersten interessierten Blick bis zum ersten Lächeln vergingen nur wenige Minuten.
Karen verspürte wieder dieses Kribbeln im Bauch, das sich immer einstellte, wenn sie einen Mann sah, der sie sexuell anzog. Nicht immer schlief sie mit ihren männlichen Opfern, erst einmal war dies vorgekommen. Aber dieser Typ da drüben konnte durchaus die Nummer zwei werden ...
Jedenfalls schien er einem Abenteuer nicht abgeneigt. Er blickte sie offen an und stand schließlich auf. Karen Lundgren unterdrückte das Zittern in ihren Beinen, als er an ihren Tisch kam.
»Guten Abend«, sagte er auf Englisch. »Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«
Beinahe war sie enttäuscht über diese plumpe Anmache. Ein bisschen mehr Fantasie hätte sie ihm schon zugetraut. Doch sie sah darüber hinweg; schließlich ging es hier um mehr, als jemanden für eine Nacht aufzureißen.
»Tut mir leid«, erwiderte sie charmant lächelnd. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Äh ... Bruce Benson«, stellte sich der Mann vor. »Ich hätte schwören können ...«
»Warum setzen Sie sich nicht?«, unterbrach sie ihn und deutete auf den Stuhl, der ihr gegenüberstand. »Es gibt doch keinen Grund, dass wir uns nicht kennenlernen sollten, oder?« Sie lächelte und fuhr mit ihrer Zunge über die Unterlippe. Karen Lundgren ließ keinen Zweifel daran, was ihre Absicht war.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-605-1
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