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Ken Norton – Band 4
Lothar Gräner – Necropolis – Alptraumstadt im Jenseits
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de


Ken Norton Band 4
Das große Fantasy-Abenteuer

Necropolis – Alptraumstadt im Jenseits
von
Lothar Gräner


Der Morgen dämmerte, als die sechs Männer sich daran machten, das Vieh aus der Umzäunung zu treiben. Hartung, der Anführer der Sippe, bellte mit rauer Stimme seine Befehle, die anderen gehorchten wortlos. Drei von ihnen waren Brüder des bärtigen Mannes, die beiden anderen Söhne Hartungs, der sich hier in der Wildnis, auf halber Strecke zwischen Bel-achay und Lur, der alten Ruinenstadt, sein eigenes Reich geschaffen hatte.
›Hartungshof‹ nannte er stolz die kleine Ansiedlung, die auf einem Hügel lag und von der man einen weiten Blick bis hinüber zum Wald hatte, der dunkel und undurchdringlich in einiger Entfernung stand. Vor vielen Jahren führte dort eine Karawanenstraße hindurch, doch längst hatte der Wald alle Spuren gelöscht, waren Bäume und dichtes Buschwerk darübergewachsen.
Die Familie baute Korn an und die Rinder weideten auf den Wiesen. Es kamen kaum Besucher, und der einzige Kontakt zur Außenwelt kam zustande, wenn Hartung und seine Söhne mit dem Ochsengespann in die Stadt fuhren, um dort ihre Erzeugnisse – gegerbte Felle, Käse, der nicht für den eigenen Verzehr gebraucht wurde, und Körbe, die geschickte Frauenhände herstellten – zu verkaufen.
»Brik, Hern«, rief Hartung seine beiden ältesten Söhne zu sich, »ihr bleibt heute draußen und achtet auf die Tiere.«
Die Zwillinge waren über den Befehl erstaunt. Die Viehherde war immer ohne Aufsicht auf den Wiesen. Es bestand in dieser abgelegenen Gegend einfach keine Notwendigkeit dafür.
»Ich weiß nicht«, fuhr ihr Vater fort, als hätte er die Gedanken seiner Söhne geahnt, »aber irgendwas ist anders als sonst.«
Er ließ seinen Blick schweifen. Die Zwillinge sahen sich zweifelnd an. Schließlich zuckte Brik mit den Schultern, sein Bruder atmete tief durch. Es war nicht gut, Entscheidungen des Vaters infrage zu stellen, dennoch wagte er einen Einwand.
»Was soll denn passieren?«, fragte er. »Es ist wie sonst auch. Schau zum Himmel, die Sonne geht langsam auf, und ein Unwetter ist nicht in Sicht.«
»Ich fürchte auch kein Unwetter, sondern etwas Schlimmeres«, erwiderte der Sippenführer. »Etwas, das ich nicht in Worte fassen kann, das mir aber greifbar scheint. Eine dunkle Ahnung, und gebe Chrios, dass ich mich täusche.«
Hartung hätte wirklich nicht in Worte fassen können, was ihm durch den Kopf ging. Es war eine dunkle Ahnung, aber irgendwie auch Gewissheit, dass dieser Tag anders war als alle anderen zuvor.
Vielleicht liegt es an den Ereignissen in Bel-achay, überlegte er.
Die Ermordung Urdaks hatte Hartung, wie alle Untertanen des argoonischen Königreiches, erschüttert. Seither raunten Gerüchte über die Länder an der Straße der Legenden, das dunkle Zeitalter sei angebrochen, die Auferstehung Nhelis, der Göttin der Finsternis, stehe unmittelbar bevor.
Hartung war nicht der Mann, der sich von Gerüchten einlullen ließ. Er hatte im letzten Jahr seinen vierzigsten Sommer erlebt und stand mit beiden Beinen fest im Leben. Doch er musste zugeben, dass ihm etwas Angst machte, von dem er nicht wusste, was es war. Einem Gegner stand er furchtlos gegenüber, doch etwas Unsichtbarem fühlte er sich hilflos ausgeliefert.
Nachdem ihn die Kunde von dem ruchlosen Mord an König Urdak erreicht hatte, gab Hartung seinen Leuten Anweisung, besonders achtsam zu sein. Niemand durfte die Palisaden alleine verlassen, mindestens zwei Männer mussten zusammen gehen, die Frauen und Kinder hatten innerhalb der Umzäunung zu bleiben.
Der Sippenführer ließ noch einmal seinen Blick schweifen und bedeutete seinen Brüdern, mit ihm zum Hof zurückzugehen, als ein gellender Schrei ihn herumfahren ließ. Karn, der jüngste Bruder Hartungs, hatte ihn ausgestoßen.
»Dort!«
Seine ausgestreckte Rechte wies zum Wald hinüber, von wo aus eine Schar dunkel gekleideter Reiter auf Hartung und die anderen zukam.
»Was hat das zu bedeuten?«, rief Rake, der andere Bruder des Sippenoberhaupts.
»Keine Ahnung, aber auf jeden Fall nichts Gutes!«, rief er. »Geht hinein und sagt den Frauen Bescheid.«
»Und du?«, fragte sein jüngerer Bruder.
»Ich bleibe und frage, was die Reiter auf unserem Grund verloren haben«, erwiderte er und reckte stolz den Kopf.
Die anderen beeilten sich, hinter die Palisaden zu kommen, er selbst blieb auf dem Fleck stehen und wartete ab.
Die Reiterschar war nur noch wenige Meter entfernt. Hartung erkannte die schwarzen Rüstungen der Tempelwache und atmete erleichtert auf.
Zu früh, denn Sekunden später gefror ihm das Blut in den Adern!
Es waren keine Männer der Tempelgarde, die dort heranjagten, sondern Wesen, wie sie Hartung noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es ging alles so schnell, dass er kaum in der Lage war, sie zu bezeichnen. Sie sahen aus wie Tierkörper, die auf Pferden saßen, rattenförmige Gestalten, deren Schwanzenden im Takt ihres Galopps auf und nieder tanzten. Ihr Fell glitzerte seltsam silbergrau in der aufgehenden Sonne.
Sie schienen direkt der Unterwelt entsprungen!
Die rattenartigen Reiter hatte ihre Bögen gespannt, und im nächsten Augenblick jagte ein Pfeilhagel heran. Getroffen sackte der kräftige Mann zu Boden, Schmerz durchzuckte seinen Leib, und mehrere Pfeile spickten seinen Körper.
Die Leute hinter den Palisaden sahen ihren Anführer fallen. Sie schrieen wild durcheinander. Die Männer holten hastig ihre Waffen herbei, während die Frauen sich in den Hütten verkrochen. Der Ansturm fegte über Hartungshof hinweg. Die Angreifer schossen ihre Pfeile ab und brachten die Pferde vor dem geschlossenen Tor zum Stehen. Noch während drinnen gerätselt wurde, was dieser Überfall zu bedeuten hatte, schlugen die Rattenkrieger in den Rüstungen der Tempelgarde eine Bresche in das Tor und wüteten im Innern der Umzäunung.
Kainas hatte die ganze Zeit auf seinem Pferd gesessen und beobachtete das Geschehen mit unverhohlenem Grinsen. Nergal würde zufrieden sein.
»Geht«, hatte der Oberpriester befohlen, »geht und verbreitet Angst und Schrecken. Sie alle sollen spüren, wie es erst sein wird, wenn Nheli ihre Herrschaft angetreten haben wird.«
Dann hatte Nergal ein Ritual durchgeführt, dessen Ende Kainas mit Angst und Schrecken erfüllt hatte. Ein Trupp dieser Wesen, vor denen der Anführer der Tempelgarde sich gleichermaßen ekelte wie fürchtete, entstand wie aus dem Nichts. Doch Ekel und Furcht wichen, nachdem Kainas gelernt hatte, seine Gefühle zu kontrollieren, und der Angriff auf Hartungshof war das erste Unternehmen, das er mit diesem Trupp gestartet hatte – doch das würde erst der Anfang sein.
Die dämonenhaften Wesen hielten ein grausiges Mahl, nachdem der Widerstand gebrochen war. Die Angreifer machten sich über die Menschen her, töten sie und – fraßen sie auf.
Kainas ritt langsam durch die Umzäunung. Sechs Häuser standen hier, aus Holz gebaut und wie für die Ewigkeit geschaffen.
Nichts ist für die Ewigkeit, dachte der Tempelgardist und ritt weiter zu dem offenen Feuer, das abseits der Häuser brannte. Er riss ein Strohbündel auseinander und hielt es in die Flammen. Als Kainas und seine unheimliche Meute davonritten, brannte Hartungshof nieder. Nachdem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, zeugten nur noch die glimmenden Balken und der Rauch, der von ihnen aufstieg, von der einst so stolzen Ansiedlung.
Und der Geruch des Todes.

*

Die Rebellen hatten sich in ihrem Versteck eingerichtet. Das Lager wurde von allen Seiten bewacht, und in seinem Innern konnte man sich einigermaßen sicher fühlen. Jurak U’Shaine, der Waffenmeister des ermordeten Königs, führte hier das Kommando. Er unterstand lediglich dem Befehl Aylishas, König Urdaks Tochter und legitimer Nachfolgerin. Seit dem Anschlag und der Flucht aus der argoonischen Hauptstadt hatte sich das Heer der Aufständischen ständig vergrößert. Aus dem ganzen Land kamen die Männer herbei, und die Kunde, die sie mitbrachten, verhieß nichts Gutes.
Nergal, der Hohepriester des Lichttempels von Bel-achay, hatte die Macht an sich gerissen. Missliebige Gegner wurden ermordet und der Kronrat, oberste Instanz, war ganz in seiner Hand. Entweder durch Bestechung oder eingeschüchtert durch unverhohlene Drohungen.
Unter den Argooniern befanden sich auch Ken Norton und seine beiden Gefährten. Der Engländer war genauso wie John Buchannan, ein irischer Whiskyfabrikant, und Jean Picard, ein Franzose, auf ungewöhnlichem Weg in diese archaisch anmutende Welt gelangt.
Jetzt suchten sie nach einem Weg zurück in ihre eigene Welt, doch davor stand der Kampf gegen Nergal und seine dunklen Heerscharen, denn auf irgendeine Art und Weise, die die drei Menschen noch nicht ergründet hatten, war ihr eigenes Schicksal mit dem des Priesters verbunden.
Nachdem es ihnen gelungen war, einen Transport von Waffen und Lebensmitteln in das Versteck zu bringen, ruhten die Männer sich aus. Doch jede Stunde des Wartens zerrte an ihren Nerven. Allen war klar, dass etwas unternommen werden musste, um den Mächten der Finsternis zu begegnen – allein, es fehlte ihnen an Mitstreitern. Und dies war das Thema der Unterhaltung zwischen Jurak U’Shaine und Ken Norton.
Sie saßen an einem der Feuer. Jemand hatte Wild gebraten und von den Brotvorräten ausgeteilt. Nach dem Essen nahm der Waffenmeister einen Lederschlauch, der mit Wein gefüllt war, und trank einen kräftigen Schluck.
»Ich kann Eure Ungeduld verstehen, Ken«, sagte er, nachdem er sich den Mund abgewischt hatte. »Doch für einen Angriff sind wir nicht stark genug. Ich habe mit der Prinzessin darüber gesprochen. Aylisha ist wie ich der Meinung, dass wir uns Verbündete suchen müssen. Aber das ist ein großes Unternehmen, das zahlreicher Vorbereitungen bedarf.«
Der Anthropologe nickte verstehend. »Seid versichert, dass meine Gefährten und ich Euch und Euren Kampf unterstützen werden«, entgegnete er.
»Ich weiß, Freund«, erwiderte Jurak. »Ihr habt Eure Loyalität schon bewiesen, als Ihr mein Leben gerettet habt.«
Er reichte Ken den Weinschlauch.
»Unsere Überlegungen sind Folgende«, fuhr der Waffenmeister fort, »wir werden einige Männer zu den Bergvölkern schicken. Sie leben am weitesten von Argoon entfernt und wissen vielleicht noch nicht, welche Gefahr über allen Ländern an der Straße der Legenden schwebt. Die Prinzessin selbst wird die Reiche der Zwergen und Feen aufsuchen. Mit den Dunkelelben herrscht zwar ein ständiger Streit, doch der muss angesichts dieser Bedrohung begraben werden. Die Lichtelben stehen ohnehin auf Chrios’ Seite.«
»Und Ihr?«, fragte Ken. »Werdet Ihr hierbleiben?«
Jurak schüttelte den Kopf. »Meine Aufgabe ist es, den Herrscher der Nebelinsel zu finden«, antwortete er. »Es ist vielleicht das schwerste Unternehmen, und deshalb bitte ich Euch und Eure Gefährten, mich zu begleiten.«
»Herrscher der Nebelinsel?«, wunderte sich Ken.
Jurak U’Shaine nickte. »So wird er genannt, der geheimnisvolle Prinz, dessen Reich sich weit draußen im Meer befindet«, erzählte er. »Es heißt, dort herrschten ewiger Friede und Eintracht; den Menschen, die dort leben, fehle es an nichts, und Prinz Vangar sei ein weiser und gerechter Herrscher. Er ist der Held zahlloser Geschichten, die immer wieder erzählt werden. Seine Insel ist den Blicken Fremder verborgen, und nur einer, der mit ehrlichen Absichten kommt, wird sie jemals sehen können.«
»Seid Ihr sicher, dass es nicht nur eine Legende ist?«, forschte der Engländer nach.
Unwillkürlich war er bei der Schilderung an das biblische Paradies erinnert worden.
»Man könnte es beinahe denken«, stimmte der Waffenmeister ihm zu. »Doch Ihr könnt meinen Worten Glauben schenken, Ken Norton. Die Insel existiert, wir müssen sie nur finden. Werdet Ihr und Eure Gefährten mir dabei helfen?«
»Ich bin sicher, dass meine Freunde genauso dazu bereit sind wie ich«, erwiderte der Engländer ohne zu zögern. »Wann soll es losgehen?«
»Nicht sofort. Erst wenn Aylisha sicher unterwegs ist, brechen wir auf.«
Von irgendwoher ertönte ein Schrei. Die Köpfe der Männer fuhren herum; ihre Blicke richteten sich auf den dichten Wald. Ein Wächter kam herangelaufen; ihm folgte ein Mann, der ein abgehetztes Pferd am Zügel führte.
Jurak U’Shaine eilte zu ihnen. Ken, der ihm nachlief, winkte dem Iren und dem Franzosen, die beide ebenfalls aufmerksam geworden waren. Der Waffenmeister redete auf den Neuankömmling ein, dann drehte er sich um und sah die drei Gefährten an.
»Ich habe keine Ahnung, auf welchem Weg Ihr hergekommen seid«, sagte er. »Aber es scheint, dass es noch jemandem gelungen ist. Der Kundschafter hier berichtet von einem sonderbaren Mann, den die Wachen der Tempelgarde gefangen genommen haben. Er sei seltsam gekleidet und spreche eine unbekannte Sprache. Jetzt sitzt er im Kerker des Tempels.«
Ken und die beiden anderen sahen sich überrascht an.
»Weiß er noch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-604-4

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