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Ken Norton – Band 2
Lothar Gräner – Die Straße der Legenden
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de


Ken Norton Nr. 2
Das große Fantasy-Abenteuer


Die Straße der Legenden
von
Lothar Gräner


„Was du dort siehst, sind die Mauern von Bel-achay“, deutete Djuwar auf eine langgezogene Linie in der Ferne.
Sie flimmerte weiß in der Sonne, die seit Stunden erbarmungslos auf die Karawane niederbrannte. Ken erkannte Gebäude dahinter; Häuser mit flachen Dächern. Dann etwas, das wie ein Schloss aussah. Es stand auf einem Hügel; auf den Turmspitzen bewegten sich Fahnen schlaff im lauen Wind. Es war ein seltsamer Anblick. Mit dem Gedanken, nicht mehr in seiner eigenen Zeit zu sein, hatte sich der Anthropologe bereits abgefunden. Jetzt hatte er das Gefühl, im Mittelalter angekommen zu sein.
Jenseits der Stadtmauer sah er ein breites Band, das silbern in der Sonne glänzte.
„Die Straße der Legenden“, erklärte der Karawanenführer mit ausgestrecktem Arm. „Sie gibt uns ihr Wasser und damit das Leben.“
Ken Norton staunte. Noch nie hatte er einen so breiten Fluss gesehen. Um ein Vielfaches breiter als die Themse. Schiffe unterschiedlichster Bauarten fuhren darauf. Flache Lastenkähne, große, schwere Segler, eine Dreimastbark. Es herrschte ein unglaublicher Betrieb auf der „Straße der Legenden“.
Djuwar sah seinen Blick.
„Du wirst noch mehr staunen, wenn du den Hafen siehst“, meinte er. „Gerade jetzt wird dort viel los sein. Es sind die Tage des Lichts, und da ist ganz Argoon auf den Beinen.“
Er deutete auf ein Segelschiff, das den Fluss heraufgefahren kam.
„Ein shermischer Kauffahrer“, erklärte er. „Er bringt Waren aus Ysmar, der goldenen Stadt. Stoffe glänzend wie Gold, Gewürze und Wein. Alles für Chrios’ Fest.“
Ken Norton sah seinen Lebensretter fragend an.
„Ich höre zwar, was du sagst, aber ich verstehe nicht den Sinn deiner Worte.“
Djuwar musterte ihn mit einem Lächeln.
„Seit gestern habe ich über dich nachgedacht, Ken“, sagte er. „Und ich frage mich immer noch, was für eine Welt das sein mag, aus der du zu uns gekommen bist.“
„Ich fürchte, sie ist sehr, sehr weit von hier entfernt ...“
„Du siehst den Palast dort auf dem Hügel?“
Der Engländer nickte.
„Rechts davon steht der Lichttempel. Er ist Chrios geweiht, der Göttin des Lichts. In ihm wird ein goldenes Zepter bewahrt, das von Chrios selbst stammt. Sie schenkte es vor Urzeiten den Völkern an der Straße der Legenden, zum Zeichen des Bundes mit ihnen. Einmal im Jahr wird das Zepter dem Volk gezeigt und der Bund erneuert, und morgen ist der große Tag.“
Djuwar deutete hinter sich.
„Alle Waren, die wir mitführen, sind für dieses Fest bestimmt. In Bel-achay wohnt der Kaufmann, in dessen Auftrag ich die Karawane führe. Er wird noch reicher werden, als er ohnehin schon ist.“
„Was ist das für ein Zepter, von dem du erzählt hast?“
„Das ist eine lange Geschichte. Du musst wissen, dass es einmal eine Zeit gab, da lebten die Götter unter den Menschen. Sie waren sich viel näher als heute. Einer von ihnen ist der oberste Gott, von ihm stammen alle anderen ab. Er zeugte zwei Kinder, Chrios und Nheli, die so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht. Ihr Vater bestimmte Chrios zur Göttin des Lichts, während ihre dunkle Schwester zur Herrscherin der Finsternis wurde. Die beiden Göttinnen kämpften um die Herrschaft über diese Welt. Es war ein langer, opferreicher Kampf, der sich über viele Zeitalter hinzog. Am Ende gelang es Chrios, die dunklen Kräfte Nhelis zu bezwingen und in einen Kristall zu bannen. Gil-Em-lot, der Götterschmied, schuf ein goldenes Zepter, dessen Spitze von diesem Kristall geziert wird. Chrios schenkte es den Menschen zum Zeichen des Bundes mit ihnen. Seit jenen fernen Tagen wird das Zepter im Lichttempel zu Bel-achay bewahrt.“
„Und morgen wird der Bund erneuert.“
Djuwar nickte.
Während er den Worten des Karawanenführers lauschte, überlegte Ken Norton, ob es sich bei dem Zepter um jenes handeln konnte, das er im Hause Mustafa Terjoongs gesehen hatte.
Aber eigentlich war es nicht möglich. Dieses Zepter befand sich ja in seiner Welt ...
Oder gab es möglicherweise zwei davon?
Die Karawane war weiter vorangekommen. Die „Straße“, die kaum mehr als ein breiter Weg war, dessen Sand unter den Hufen der Pferde aufwirbelte, führte von der Anhöhe in eine Senke. Von allen Seiten strömten jetzt Menschen heran. Manche hatten Pferdegespanne und Ochsenkarren, andere schleppten ihre Waren auf dem Rücken. Sie alle strömten der Hauptstadt des argoonischen Königreichs zu, in froher Erwartung auf das Fest der Lichtgöttin. Dem Zug folgte eine Anzahl Wanderer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Bettler in Lumpen gehüllt, Gaukler in farbenfrohen Gewändern und Frauen, an deren offenherziger Kleidung man erkennen konnte, welchem Gewerbe sie nachgingen. Ken Norton grinste unwillkürlich.
Hier war es also auch nicht anders, als in seiner Welt – das Gewerbe war wirklich und überall das älteste ...
„Wie heißt euer oberster Gott?“, fragte er.
Djuwar sah sich um, als fürchte er, jemand könne seiner Antwort lauschen.
„Sein Name wird nur selten genannt“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Es ist kein gnädiger Gott, der über die Völker an der Straße der Legenden herrscht. My-Tharn-yarl ist der Herr der Finsternis, der Gott der Dämonen ...“
Der Engländer zuckte zusammen.
My-Tharn-yarl, das war der Name, der im Zusammenhang mit dem Kult genannt wurde, der in seiner Welt immer wieder von sich reden machte. Es gab ihn also wirklich, er war kein Hirngespinst.
Es wurde berichtet, dass dieser Kult aus einer anderen Welt stammen sollte, und so wie es aussah, befand er, Ken Norton, sich genau in ihr!
Der Anthropologe hatte eine Reihe haarsträubender Abenteuer erlebt und vor allem überlebt. Im tiefsten Dschungel von Brasilien hatte er eine Expedition angeführt, die auf der Suche nach einem bis dahin weitgehend unbekannten Volk in die Hände von skrupellosen Schatzsuchern geraten war. Es hatte einen Kampf auf Leben und Tod gegeben, und nur Ken Norton war es zu verdanken gewesen, dass die Teilnehmer des Unternehmens mit heiler Haut davongekommen waren.
Ein anderes Mal hatte er einem uralten Kult nachgespürt. Auf einer Karibikinsel war er von Mitgliedern einer Teufelssekte gefangenengenommen worden und hatte geopfert werden sollen. Auch hier war es ihm gelungen, im letzten Moment dem schon sicher geglaubten Tod zu entkommen. Ken war niemand, der sich fürchtete, doch die Tatsache, dass er sich in einer Welt befand, in der eine der grausamsten Gottheiten herrschte, von der er je gehört hatte, ließ ihn trotz der Hitze frösteln.
Der Karawanenführer sah ihn fragend an.
„Fühlst du dich nicht gut, mein Freund?“
Der Engländer schüttelte den Kopf.
„Alles in Ordnung“, erwiderte er und schaute nach vorne.
Ein Gruppe Musikanten spielte auf, als die Karawane vor dem Stadttor zum Halten kam. Flötenspieler und Trommler in bunten Kostümen, ein Mädchen schlug eine Trommel. Sie alle erhofften sich von diesen Tagen ein gutes Geschäft.
Der Engländer fiel in seiner Dschellaba kaum auf. Niemand sah ihn an und musterte ihn kritisch.
Was will ich eigentlich hier, fragte er sich, während er geduldig darauf wartete, dass die Karawane hineingelassen wurde.
Er wusste diese Frage nicht zu beantworten.
Vorerst zumindest nicht. Indes hatte er gar keine andere Wahl gehabt, als sich Djuwar und seinen Männern anzuschließen. Durch einen teuflischen Plan war er aus seiner eigenen Welt in eine andere geschleudert worden und musste nun zusehen, dass er sich zurechtfand – und einen Weg zurück.
Das war seine einzige Hoffnung. Wie auch immer er hergekommen war, es musste möglich sein, zurückzukehren!
„Haila wohnt im Viertel der Kaufleute“, erklärte Djuwar, als sie das Tor passiert hatten. „Es liegt am anderen Ende der Stadt.“
Er sah Ken fragend an.
„Wirst du dich hier zurechtfinden?“
Der Engländer zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass er auf sich allein gestellt war.
„Wenn du Hilfe brauchst, findest du mich bei Haila“, sagte der Karawanenführer und griff unter seinen Umhang. „Und bestimmt sehen wir uns morgen, vor dem Tempel.“
Er streckte die rechte Hand aus, in der ein Lederbeutel lag.
„Nimm! Ohne Geld bist du ein verlorener Mann.“
Ken nahm den Beutel und schüttelte ihm die Hand.
„Danke, mein Freund, für alles, was du für mich getan hast.“
„Chrios schütze dich!“, antwortete Djuwar und gab seinen Männern das Zeichen zum Weiterreiten.
Ken war von seinem Pferd gesprungen und reichte die Zügel einem der Männer. Dann stand er einen Moment still da und schaute der Karawane hinterher. Schließlich wandte er sich um und blickte auf den großen Platz, der nur so von Menschen wimmelte. Langsam schlenderte er weiter und sah mit neugierigen Augen auf das Gewimmel. Es war wirklich so, wie man sich das Leben im Mittelalter vorstellte, und er war mittendrin.
Nur – er war ein Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts!

*

Das Essen war noch schlechter, als sie befürchtet hatte. Angewidert schob Rhonda McFarlayn den halbvollen Teller beiseite und zündete sich eine Zigarette an.
Eigentlich hatte sie das Rauchen schon vor geraumer Zeit aufgegeben, aber die Nervosität, die sich ihrer bemächtigte, je näher der Zeitpunkt ihres Aufbruchs in das Dorf rückte, in dem das Grab eines Vampirs sein sollte, wollte beruhigt werden. Zu ihrem Erstaunen rauchte Bata Ilunesco englische Zigaretten. Als sie ihn daraufhin ansprach, grinste der Rumäne nur und erklärte, dass man hier inzwischen alles kaufen könne, sofern man das nötige Kleingeld besäße.
Er hatte sein Essen mit Behagen verschlungen. Es war eine graue Masse aus Gemüse, Kartoffeln und gekochten Eiern, die auf der Speisekarte des Hotels als Spezialität gepriesen wurde. Rhonda mochte sich gar nicht erst vorstellen, wie die anderen nicht so „speziellen“ Gerichte aussahen und schmeckten ...
„Wie weit ist es von hier aus bis ins Dorf?“, fragte sie und schnippte die Asche von der Zigarette.
Ilunesco sah auf die Uhr.
„Eine gute Stunde“, antwortete er und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht auch zwei. Je nachdem, wie der Wagen mitmacht.“
Er sah sie fragend an.
„Haben Sie alles dabei, was Sie brauchen?“
Rhonda nickte. Eine Digitalkamera steckte in ihrer rechten Jackentasche, ein Diktiergerät in der linken. Ob sie allerdings dazu kam, Letzteres zu benutzen, würde sich erst zeigen.
Der Rumäne deutete auf einen großen, dunklen Beutel, der auf dem Stuhl neben ihm lag.
„Ich habe auch vorgesorgt“, meinte er vieldeutig.
„Weihwasser, vermute ich?“
Ilunesco grinste.
„Keine Ahnung, ob an den alten Mythen etwas dran ist“, sagte er. „Aber immerhin heißt es ja, dass Vampire das Weihwasser genauso scheuen wie der Teufel. Ich war bei einem alten Freund; einem Priester. Er hat mir auch noch das hier mitgegeben.“
Bei diesen Worten zog er einen armdicken Holzpflock aus dem Beutel.
Rhonda spürte unwillkürlich eine Gänsehaut. Sie war gewiss nicht ängstlich, durfte es in ihrem Job auch gar nicht sein. Doch die Vorstellung, in dieser Nacht der Pfählung eines Vampirs beizuwohnen, ließ sie doch ein wenig schaudern.
„Er ist aus Eschenholz“, erklärte der Rumäne. „Manche sagen, dass Eiche besser wäre. Ich weiß es nicht. Pater Roman ist jedenfalls der Ansicht, dass nur das Holz der Esche einen Vampir töten kann.“
Plötzlich sah er sie mit seltsamem Blick an.
„Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten ...“
Rhonda hatte die ganze Zeit schon geahnt, dass es da noch etwas geben musste. Ilunesco machte einen schuldbewussten Eindruck.
„Ich habe Ihnen nicht alles gesagt, als ich Sie in London angerufen habe“, gestand er. „In dieser Nacht soll eine ‚Bluthochzeit’ stattfinden.“
„Eine was?“
„Eine Vermählung des Blutes einer Frau mit dem des Vampirs ...“
Die Engländerin war sicher, dass da noch viel mehr war, als sie bisher erfahren hatte.
„Erklären Sie das genauer“, forderte sie ihn auf.
„Auf dem Dorf liegt ein Fluch“, begann Bata Ilunesco. „Der Vampir fordert von den Bewohnern einen Tribut. Sie müssen ihm eine Frau opfern, damit er die anderen in Ruhe lässt. Dieses Ritual findet einmal im Jahr statt, und heute ist es wieder soweit.“
Rhonda griff erneut nach einer Zigarette und zündete sie mit fahrigen Bewegungen an.
„Eines verstehe ich nicht“, sagte sie. „Die Opfer, wenn sie ... ausgesaugt sind, werden sie doch auch zu Vampiren. Dann müsste ja ganz Rumänien seit Jahrhunderten von Vampiren bevölkert sein.“

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012
ISBN: 978-3-95500-602-0

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