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Vergangene Zukunft – Band 2
Edgar Wallace – Planet 127
1. eBook-Auflage – Juni 2011
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Allan Bruder
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de

Edgar Wallace

Planet 127


Kapitel 1

Chap West, der sich für anstrengende Arbeit noch nie hatte begeistern können, legte die lange Bootsstange ab, mit der er von Bisham aus in den Schutz einer Flussschleuse westlich von Murley Lock gestakt war, ließ sich auf die Polster am Boden des Kahns fallen und seufzte vor Erleichterung. Er war ein schmächtiger Junge, einigermaßen kurzsichtig, und die riesige Hornbrille, die sein rundes Gesicht schmückte, gab ihm einen Anstrich von Gelehrsamkeit, was sein Schulzeugnis aber kaum zu bestätigen vermochte.
Elsie West erwachte aus einem Nickerchen, warf einen Blick in die Umgebung und brachte sich in eine bequemere Lage.
„Mach Feuer und setz Teewasser auf“, murmelte sie.
„Für heute hab‘ ich genug“, brummte ihr Bruder. „Vor zehn Minuten ist bei mir der Hammer gefallen, und die Kocherei war nie mein Hobby.“
„Mach Feuer und setz Teewasser auf“, sagte sie matt.
Chap warf einen verärgerten Blick auf die vor sich hin dösende Gestalt, dann sah er über sie hinweg zu Tim Lensman, der mit einem Paddel den Kahn ans Ufer steuerte.
Tim war genauso alt wie sein Schulfreund, wirkte aber jünger. Er war ein gut aussehender junger Mann und Vorsteher des Internates gewesen, das die Ehre gehabt hatte, Chapston West zu beherbergen. In Mildram hatten sie beide das Amt des Präfekten bekleidet; sie waren am selben Tag eingeschult und am selben Tag aus der Schule entlassen worden.
Abschätzend musterte Tim Lensman das Gestrüpp aus Büschen und hohem Gras, das den bewaldeten Abhang zum Ufer hin säumte.
„‚Unbefugten ist das Betreten bei Strafe untersagt‘“, las er. „Das scheint fast eine Einladung zu sein ... Chap, kannst du das Haus sehen?“
Der schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich möchte wetten, es ist die schrecklichste Bruchbude, die du dir nur vorstellen kannst. Der alte Colson ist so etwas wie ein geborener Stubenhocker. Und dabei ist er doch Wissenschaftler, einer von den Typen, die über den Wert von frischer Luft Bescheid wissen müssten.“
Durch das Anschlagen des Kahns ans Ufer wurde Elsie endgültig wach, setzte sich auf und starrte auf den wenig verheißungsvollen Landeplatz.
„Warum fahrt ihr nicht noch ein Stück weiter?“, fragte sie. „Hier könnt ihr keinen Tee kochen, ohne ...“
„Hast du außer Essen noch was anderes im Kopf?“, erkundigte sich ihr Bruder herausfordernd. „Regt der Gedanke dich denn gar nicht auf, dass du am Heiligen Ufer des gelehrten Professor Colson geankert hast, beim Doktor der Wissenschaft, Käferexperten, Virtuosen auf der Isobare und anderen Musikinstrumenten ...?“
„Chap, du redest zu viel, und ich hätte furchtbar gern eine Tasse Tee.“
„Wir werden mit dem Professor Tee trinken“, sagte Chap streng. „Wenn wir uns durch die Sträucher da zu seinem verzauberten Schloss durchgeschlagen haben, werden wir aus Kristallbechern trinken und auf Lapislazulibetten ruhen.“
Stirnrunzelnd blickte sie hinauf zu dem dunklen und ein wenig unheimlichen Wald. Der Anblick erschien ihr wenig verlockend.
„Wohnt er wirklich hier?“, fragte sie Tim, und der nickte.
„Er wohnt wirklich hier“, sagte er, „zumindest glaube ich das. Seine Beschreibung der Fahrtroute war sehr präzise, und ich erinnere mich, dass er sagte, wir könnten einige Schwierigkeiten haben, das Haus zu finden ...“
„Er sagte: ‚Klettert, bis ihr ganz oben angekommen seid‘“, unterbrach Chap.
„Aber wie erreicht er sein Haus?“, fragte das Mädchen verwirrt.
„Mit dem Flugzeug“, sagte Chap, während er den Kahn an dem dicken Stamm eines Lorbeerbusches festmachte. „Oder vielleicht kommt er auf seinem Zauberteppich. Große Wissenschaftler haben ganze Stapel davon. Möglicherweise kommt er auch von einer ganz gewöhnlichen Straße zur Vordertür rein – sogar in Berkshire muss es Straßen geben.“
Tim lachte leise. „So eine Hütte würde sich der alte Colson bestimmt aussuchen“, sagte er. „Du solltest ihn kennenlernen, Elsie. Er ist der seltsamste Vogel, den ich kenne. Warum er überhaupt noch unterrichtet, weiß ich nicht, denn er besitzt Geld tonnenweise und hat wirklich etwas von einem Zauberer an sich. In Mildram war ich in der wissenschaftlichen Förderklasse, und da war das Erstaunlichste an ihm noch nicht einmal sein beachtliches Können als Mathematiker. Der Direktor hat mir erzählt, Colson sei der größte lebende Astronom. Die Geschichten, die sie sich erzählen über seine Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen ...“
„Das kann er auch?“
Chap machte Feuer in ihrem kleinen Campingofen, da er trotz seiner rosaroten Erwartungen auf Nummer Sicher gehen wollte und nach einem anstrengenden Nachmittag auf dem Boot eine Stärkung gebrauchen konnte.
„Er nannte der Schule den Tag, an dem der Krieg aufhören wird – auf die Minute genau! Und er hat die große Explosion in den Gaswerken von Helwick vorausgesagt. Beinahe wäre er von der Polizei eingelocht worden, weil er so viel darüber wusste. Letztes Jahr hab' ich ihn gefragt, ob er nicht wüsste, wer das Grand National gewinnen wird, da hätt' er mir beinahe den Kopf abgerissen. Timothy Titus hätt' er's gesagt, weil Tim sein Lieblingsschüler ist.“
Er half dem Mädchen beim Aussteigen und verschaffte sich einen ersten Überblick über die Beschaffenheit des Ufers. Der Platz war eine einzige Wildnis, und vergebens ließ er seine Blicke schweifen, um einen Pfad durch das Dickicht ausfindig zu machen. Eine alte Schrifttafel verkündete warnend, das Land sei Privatbesitz; doch an der Stelle, wo sie das Boot an Land gezogen hatten, war das Ufer in früherer Zeit abgestützt worden.
„Ich soll euch wirklich begleiten?“, fragte Elsie, die sich allem Anschein nach mit der Aussicht auf eine beschwerliche Kletterpartie nicht so recht anfreunden konnte.
„Würdest du lieber hierbleiben?“, wollte Chap wissen und blickte von dem Öfchen hoch.
Sie schickte einen Blick über den dunklen Fluss mit seinem verkrauteten Bett und den überhängenden Weiden. Eine Wasserratte tauchte auf, und das entschied die Sache.
„Nein, ich glaube, ich werde mit euch kommen“, sagte sie.

Chap schenkte den Tee aus, und das Mädchen wollte gerade einen Schluck trinken, als sie einen Mann sah, der sie von den Bäumen her beobachtete. Sie hatte Mühe, den Aufschrei, der ihr die Kehle hochstieg, zu unterdrücken.
„Was ist los?“
Tim hatte die Veränderung in ihrem Gesicht bemerkt, und indem er ihrem Blick folgte, sah er den Fremden ebenfalls.
Der Mann machte nicht im Geringsten einen finsteren Eindruck. Eigentlich war er die alltäglichste Erscheinung, die Tim je zu Gesicht bekommen hatte. Er war kurz und gedrungen, hatte ein rundes, rötliches Gesicht, das ein dichter, roter Schnauzbart schmückte. Er stand da, spielte an seiner Uhrkette und beobachtete die Gesellschaft.
„Hallo!“, sagte Tim und ging dabei auf den Fremden zu. „Wir haben die Erlaubnis, hier an Land zu gehen.“
Er dachte, der Mann sei eine Art Hausmeister oder Verwalter von „Helmwood“.
„Sie haben die Erlaubnis?“, wiederholte der Mann. „Natürlich haben Sie die. Wer von Ihnen ist Lensman?“
„Ich“, sagte Tim mit einem Lächeln, und der Mann nickte.
„Er erwartet Sie, außerdem West und Miss Elsie West.“
Tims Augen weiteten sich vor Staunen.
Gewiss hatte er dem Professor versprochen, irgendwann während der Ferien vorbeizukommen, aber er hatte nicht die Absicht gehabt, Chap oder dessen Schwester mitzubringen. Es war nur Zufall gewesen, dass er an diesem Morgen in Bisham seinen Schulfreund getroffen und Chap sich entschieden hatte, ihn zu begleiten.
Als habe der gedrungene Mann Tims Gedanken lesen können, fuhr er fort: „Er weiß eine ganze Menge. Wenn er nicht verrückt ist, dann ist er ein ganz ausgekochter Hund. Woher bezieht er alle seine Informationen? Vor fünfzehn Jahren besaß er keine fünfzig Pfund. Dieses Grundstück kostete ihn zehntausend, das Haus weitere zehntausend. Und seine Instrumente und Geräte kann er nicht unter noch mal zehntausend bekommen haben!“
Tim war zu sehr erstaunt, als dass er den Mann unterbrochen hätte. „Informationen? Ich verstehe nicht ganz ...?“
„Über Aktien und Waren ... Er hat dieses Jahr einhunderttausend mit Baumwolle verdient. Woher wusste ausgerechnet er, dass der Knollenwurm den Teufel im Süden spielen würde, he? Woher wusste er das? Aber als ich ihn vor Kurzem bat, mir für einen Freund etwas über den Getreidemarkt zu erzählen, hat er mich abblitzen lassen.“
Chap hatte mit offenem Mund zugehört. „Sind Sie ein Freund von Mr. Colson?“, fragte er.
„Sein Cousin“, war die Antwort. „Harry Dewes heiße ich. Der Sohn seiner Tante und sein einziger Verwandter.“ Plötzlich kam er einen Schritt näher, und seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an. „Die jungen Gentlemen werden alles über ihn wissen ... Er leidet unter Wahnvorstellungen, nicht wahr? Nehmen wir mal an, ich würde ein paar Doktoren holen, die ihn sich ansehen, dann ist es möglich, dass die Ihnen ein paar Fragen über ihn stellen möchten ...“
Tim war der Sohn eines bekannten Rechtsanwalts und wollte selbst Jura studieren, und er hörte sofort, worauf die Frage zielte, auch ohne den Schimmer von Habgier in den Augen des Mannes bemerkt zu haben.
„Sie wollen ihn wohl in eine Irrenanstalt stecken und über sein Vermögen verfügen, he?“, fragte er mit frostigem Lächeln. „Ich fürchte, auf unsere Hilfe werden Sie dabei nicht zählen können.“
Der Mann lief rot an. „Das ist nicht ganz richtig“, sagte er verlegen. „Und hör zu, du Grünschnabel ...“ Er hielt inne. „Wenn Sie Colson sehen, wär' ich Ihnen überaus verbunden, nicht zu erwähnen, dass Sie mir begegnet sind ... Ich gehe jetzt hinunter zur Schleuse ... Der Weg hoch verläuft dort zwischen den Pappeln ... Bis bald!“
Abrupt drehte er sich um, stolperte durch die Büsche und war im Nu verschwunden.

„Was für ein Kerl!“, sagte Chap bewundernd. „Und was für ein Plan! Und er weiht uns einfach ein, fast ohne jede Erklärung!“
„Woher wusste Mr. Colson, dass ich komme?“, fragte EIsie verwundert.
Tim hatte keine Antwort darauf.
Mit einigen Schwierigkeiten fanden sie den kaum begangenen Pfad, der zwischen den Bäumen hinaufführte, und nach einer Viertelstunde steilen Aufstiegs erreichten sie die Anhöhe und sahen das Haus.
Tim hatte erwartet, eine Residenz zu finden, die zu dem verwilderten Land passte. Doch der erste Anblick von „Helmwood“ verschlug ihm die Sprache. Es war ein solides und schönes Steinhaus hinter einem breiten Streifen kurz gemähten Rasens. Blumenbeete, leuchtend von den Blüten des Spätsommers, fassten den Rasen ein und erstreckten sich bis zur Hauswand. An der einen Seite, noch mit dem Haus verbunden, erhob sich ein mächtiger steinerner Turm, auf dessen Spitze eine gewölbeartige Konstruktion angebracht war, überzogen mit einem Gewirr von Drähten, die anscheinend planlos kreuz und quer liefen und in der Sonne glitzerten.
„Ein freiliegender Schaltkasten aus Silberdraht“, sagte Chap. „Wenn das keine neue Idee ist! Donnerwetter, Tim!

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2012
ISBN: 978-3-95500-539-9

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