Amazing SF – Band 4
Hermann Schladt (Hrsg.) – Parallelwelten
Anthologie zum gleichnamigen Storywettbewerb des vss-verlag
1. eBook-Auflage – Juni 2012
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de
Hermann Schladt (Hrsg.)
Parallelwelten
Inhaltsverzeichnis
Ernst Eberhard Manski Katzenfutter
Marc Freund Straße ins Nichts
Michael Rapp Ungeschehen
Inger Ellen Spurgat Das Blau
Kerstin Jauer Zerstörender Bücherkosmos
Mark Denis Leitner Morgen sieht die Welt schon anders aus
Arnold H. Bucher Trau keinem Fremden
Manuela P. Forst Götter des Krieges
Joan Weng Der Bericht des Sergeants Adrien Duval
Mike Groß Großstadtdschungel
Susanne Strnadl Gefallen
Bianca Plate Zwischenstation
Peter Nathschläger Der Pan
W. Berner „Humaner Strafvollzug“
Agnieszka Dorn Welten neben der unseren
Wilhelm R. Vogel Die Insel
W. Kimball Kinnison Wanda heiraten – oder nicht?
Ernst-Eberhard Manski Hier liegen die Schienen
Marie Haberland Großmutters Geheimnis
Anneke Schipper Ein wenig schwarze Farbe
Sigrid A. Urban Die Ratte im Spiegel
Lars Blumenroth Auf der anderen Seite
Carola Kickers Weg der Verdammten
Axel Kruse Erinnerungen
Holger Mossakowski Ein Besuch aus der Nachbarschaft
Eberhard Leucht Sonnenland
Axel Kruse Der kleine Unterschied
Ernst-Eberhard Manski
Katzenfutter
Nachdem der Zimmermann am Nachmittag seine Sachen gepackt und sich verabschiedet hatte, ging ich erst mal unter die Dusche, um mir Staub und Sägespäne vom Körper zu spülen. Zufrieden pfiff ich Cat Food, bis mir einfiel, dass vier unserer fünf Katzen schon seit einigen Tagen nicht mehr zur Fütterung erschienen waren. Dass Giles, die fünfte Katze, möglicherweise fast taub war und es nur deswegen nicht wagte, unseren Garten zu verlassen, konnte mich irgendwie nicht zuversichtlicher stimmen. Ich pfiff weiter, jetzt aber grimmiger.
Jemand klopfte an die Badezimmertür.
„Was’n los?“, brüllte ich. Eines meiner Hobbys war, beim Duschen gestört zu werden.
„Es hat geklingelt“, schrie meine Schwester durch die – laut Prospekt des Herstellers schalldichte – Tür, wobei dieses Merkmal wohl der Grund gewesen sein musste, dass ich die Klingel nicht gehört hatte.
„Wird der Zimmermann sein, der was vergessen hat“, vermutete ich lautstark.
„Nein.“
„Dann geh du doch aufmachen.“ Gereizt stellte ich die Dusche ab und griff zum Handtuch.
„Hab ich ja.“
„Und?“ Das raue Frottee zerkratzte mir den Rücken.
„Es ist die Polizei.“
„Und was will die?“ Hüpfend schlüpfte ich in Shorts und T-Shirt.
„Dich mitnehmen.“
„Wieso das denn?“ Eilig streifte ich Jeans und Hemd über.
„Das frage ich dich.“
Ich schloss die Tür auf. „Hat die Polizei denn nichts gesagt?“
„Nein“, schrie sie. „Und schrei mich gefälligst nicht so an.“
Neugierig ging ich zur Wohnungstür und begrüßte den Beamten. „Was kann ich für Sie tun?“
„Einfach nur mitkommen.“
„Und warum?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur den Auftrag, Sie abzuholen.“
„Jetzt gleich?“
„Nein, im Mai 2030. Nun nehmen Sie Ihre Jacke und Ihre Schlüssel, und dann können wir los.“
„Bist du zum Konzert wieder zurück?“, wollte meine Schwester wissen.
„Nein“, antwortete der Polizist an meiner Stelle.
„Sie wissen doch gar nicht, welches Konzert ich meine“, giftete meine Schwester und warf mir einen Turnschuh zu.
„Trotzdem nicht.“
„King Crimson kommen erst in drei Wochen.“ Ein zweiter Turnschuh war unterwegs.
Ich verglich die Schuhe und warf ihr einen wieder zurück. „Sind beide links.“
„Kommen Sie jetzt“, drängelte der Polizist.
„Ich will mir King Crimson aber nicht allein ansehen.“
Reaktionsschnell fing ich den nächsten Schuh ab, bevor er den Ordnungshüter traf. „Ich auch nicht.“
„Vergiss nicht, auf dem Rückweg Katzenfutter mitzubringen!“
Dass ich kein guter Beifahrer sei, wollte der Polizist nicht als triftigen Weigerungsgrund akzeptieren.
„Dafür fahre ich besser“, entgegnete er lakonisch.
Also musste ich wohl oder übel einsteigen. Verbissen schaute ich durch die Windschutzscheibe und pfiff Cat Food insgeheim im Kopf weiter.
Der Wagen bog in den sogenannten stillen Arm der Sternenwaldstraße ein. Listig verschwieg ich, dass diese Abzweigung eine Sackgasse war und freute mich schon auf das mit Flüchen begleitete Wendemanöver.
Aber der Polizist fuhr geradeaus weiter, über die Stelle hinaus, wo die Fahrbahn meiner Überzeugung nach zu Ende war und hinter einer Hecke aus gestutzten Buchen in einen verschlungenen Waldpfad hätte übergehen müssen. Staunend registrierte ich, dass die Straße einfach weiterführte, an beiden Seiten mit Häusern bebaut, die so aussahen, als ob sie schon immer dort gestanden hätten.
Verwundert schaute ich in einen der Vorgärten und sah dort eine Gruppe von Katzen abwartend voreinander hocken und sich gegenseitig anstarren. Eine von ihnen glaubte ich als Haskell zu erkennen, den gemütlichen Kater unserer Nachbarn, den alle Figaro nannten, weil er so gut singen konnte, und der aus lauter Höflichkeit keine Mahlzeit bei uns ausließ.
Nach etwa anderthalb Kilometern parkte der Polizist vor einem Ziegelgebäude mit der Aufschrift Politi. Beim Hineingehen in die Wache mussten wir darauf achten, nicht einer der zahlreich herumstreunenden Katzen auf die Pfoten zu treten. Der Polizist lieferte mich bei seinen Kollegen in Zimmer Z ab.
Nachdem ich dort eine Weile unbeachtet am Tresen gestanden und das lebensgroße Porträt eines mir unbekannten Präsidenten betrachtet hatte, wurden sich die Wachtmeister einig, dass ich eigentlich in Zimmer P erwartet wurde.
„Sie kommen zu spät zu Ihrem Verhör“, begrüßte mich dort ein hinter seiner Schreibmaschine kauernder Kommissar.
„Ich war erst in Zimmer Z“, erklärte ich und entzifferte seinen Namen an der Uniformjacke: Pfropf oder so ähnlich.
„Kein Grund, Zeit zu vertrödeln“, knurrte Pfropf. „Wo ist Ihr Portal?“
„Was für ein Portal?“
„Nun stellen Sie sich nicht so blöd an! Uns liegen gesicherte Erkenntnisse vor, dass Sie über ein Portal verfügen.“ Er hämmerte mit der flachen Hand auf eine vor sich liegende Mappe. „Also wo ist es? Seit wann haben Sie es? Wer hat es installiert?“
„Ich habe überhaupt kein Portal. Das Einzige, was ich mir habe installieren lassen, ist eine neue Küche.“
„Eine Küche? Passen Sie auf, mein Herr. Wenn Sie mich vergackeiern wollen, kriege ich Sie ran wegen Beamtenbeleidigung.“ Sein Telefon summte und er hob ab. „Poff? ... Was? ... Doppelgänger? ... Erschossen? ... Bis gleich.“ Er legte auf, griff zu der Mappe und erhob sich. „Wir unterhalten uns später. Inzwischen bringe ich Sie in Zimmer K.“
Dort knallte Poff der Beamtin die Mappe auf den Schreibtisch. „Kazkowski, können Sie mal mit diesem Zeugen weitermachen.“ Er deutete auf mich. „Ich muss weg.“ Er wies auf die Tür.
„Sie haben doch nicht etwa ein Portal gefunden?“, staunte die Angesprochene theatralisch.
„Wo denken Sie hin? Nein, nur wieder so ein beknackter Doppelgängerschusswechsel.“
Das Zimmer K machte einen weitaus gemütlicheren Eindruck als Zimmer P. Auf allen Fensterbänken, Regalbrettern und Ablagen hockten dösende Katzen.
„MacDonald, mach mal Platz“, forderte die Beamtin ein Wollknäuel auf, das sich auf dem Besucherstuhl eingeringelt hatte. Das Tier streckte sich, robbte träge zum Rand der Sitzfläche und ließ sich auf die Auslegware plumpsen. „Eine Ausländerin, ist uns über die Grenze aus Loon zugelaufen.“
„Scheint Sie aber trotzdem ganz gut zu verstehen.“
„Hm.“ Kazkowski entnahm der Mappe eine Graphik. „Hat er Sie schon etwas gefragt?“
„Wer? Poff?“
Sie grinste. „Wenn Sie meinen Kollegen Pfropf meinen, meinte ich den.“
„Er hat nur was von einem Portal gefaselt“, erklärte ich.
Kazkowski zeigte mir die Graphik: Eine Karte unseres Viertels, auf der verschiedene Ziffern eingezeichnet waren. „Die Leute von der P-Abteilung verfügen über ein Gerät, mit dem sie – so behaupten sie zumindest – Massenzu- oder -abgänge aufzeichnen können. Auf Ihrem Grundstück soll eine ganze Menge an neuen Massen nachgewiesen worden sein.“
„Ich habe keine Ahnung.“
Sie lehnte sich zurück und musterte mich.
Eine Kuckucksuhr begann zu rattern, schnaufen und krächzen, und sämtliche Katzen begannen sich zu strecken.
Kazkowski seufzte und stand auf. „Essenszeit. Da können Sie sich gleich mal nützlich machen.“
Verfolgt von einer Meute Katzen verließen wir das Gebäude durch einen Hinterausgang. Kazkowski schoss eine leere Dose über den Hof und schloss die Tür zu einem Lagerraum auf.
„War früher eine Fabrik für vegetarisches Katzenfutter.“ In Dutzenden Regalen waren Konservenbüchsen und Brekkies-Packungen gestapelt. „Nur merkwürdig, dass das Werk nicht im Katasteramt eingetragen ist.“ Kazkowski stieg auf eine Trittleiter. „Sämtliche Nachforschungen sind erfolglos geblieben.“ Flüsternd reichte sie mir einige Dosen herunter: „Ich habe sogar schon im Zimmer Z nachgefragt, ob sie in der letzten Zeit eine Zeitmaschine beschlagnahmt hätten, die ich für meine Ermittlungen benützen könnte.“
„Und haben sie?“
„Nein. Das ganze Ermittlerteam ist ohnehin nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für ehemalige Zöllner und Drogenfahnder.“ Mit sechs Dosen im Arm kam sie wieder herunter. „Und was die sich alles einfallen lassen! Zuletzt haben sie sogar eine Razzia im Panamarenko-Museum gemacht und wollten seine Tempomodelle und Paraltore konfiszieren.“
„Was, hat der Attrappenkönig jetzt auch schon Zeitmaschinen gebastelt?“
„Selbstredend.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wenn schon seine Flugzeuge nicht fliegen, wieso sollte man dann mit seiner Zeitmaschine durch die Zeit reisen können?“
„Meine Rede. Also, wenn Sie mich fragen: Es gibt keine Zeitmaschinen und auch keine Paraltore.“
„In das Museum wollte ich immer schon mal. Das ist doch in Antwerpen, oder?“
„Ja, das war eine provinzübergreifende Aktion. Aber kein Wort zu niemandem. Ist echt zu peinlich, das Ganze.“
Wir verließen das Lager und ich warf einen Blick auf eines der Etiketten. „Vegskatz. Von der Marke habe ich noch nie was gehört. Was für Pflanzen fressen die Katzen denn?“
„Alles Mögliche.“ Kazkowski schloss ab und bahnte sich einen Weg durch die nervösen Tiere. „Ein paar fleischfressende Gewächse sind auch darunter.“
„Echt?“
„Ja, und der Witz ist, dass ich über die Herkunft und die Anbaugebiete auch noch nichts in Erfahrung bringen konnte.“
Mehrere Dutzend Katzen rannten aufgeregt zwischen uns und den am Waldrand aufgereihten Näpfen hin und her und schlugen sich in der Hektik gegenseitig mit ihren Tatzen auf die Nasen.
Beim Füllen entdeckte ich auch einige unserer Tiere: Den aufmerksamen Fripp, den robusten Lake, die treue Collins mit ihrem halblangen Fell und die possierliche Tippett mit ihrem Schildkrötenmuster. Lediglich die phlegmatische Giles fehlte. Dafür hatte sich auch der gemütliche Haskell eingefunden und wartete geduldig auf einen freien Napf.
„Es sind schon wieder mehr geworden.“ Kazkowski betrachtete die emsig schmatzenden Katzen. „Mich würde schon interessieren, wo die alle plötzlich herkommen und uns die konfiszierte Ware wegfressen. Manchmal glaube ich sogar, an der Theorie mit den Portalen ist was dran.“
Fripp und Tippett waren nach der Mahlzeit als Erste mit dem Putzen fertig und bauten sich vor mir auf.
„Brauchen Sie mich noch?“, erkundigte ich mich.
Die Beamtin schüttelte müde den Kopf. „Gehen Sie nur. Ich weiß genug.“
Dankbar wandte ich mich um. Fripp stapfte los und hielt auf die Bäume zu, die den Hof umrahmten.
„Führt dort ein Weg zum Sternenwald?“ Ich zeigte in Fripps Richtung.
Kazkowski verschwand nickend im Gebäude.
Auf dem sumpfigen Boden kam ich mühsam voran. Die breiten Reifen schwerer Traktoren hatten knietiefe Furchen in die Sandpfade gefräst. Immer wieder musste ich rechts oder links auf glitschige Gras- und Lehmstreifen ausweichen. Tippett sprang auf meinen Arm, kletterte auf meine Schulter und schmiegte sich an meine Wange, als ob sie mich dirigieren wollte. Die Katzen bewahrten mich mehrmals vor einem unfreiwilligen Bad in einer unerwartet vor mir auftauchenden Pfütze. In den letzten Tagen schien es heftig gestürmt zu haben. Baumstämme waren abgeknickt, und die Topographie des Waldstückes hatte sich seit meinem letzten Spaziergang vor wenigen Wochen stark verändert.
Zu Hause ging ich schnurstracks in die Küche und setzte Wasser für Spaghetti auf. Zerstreut betätigte ich die Dampfabzugshaube und wurde prompt mit einer Schicht kaffeebraunen Staubs übersät. Eigentlich hätte der Zimmermann beim Einbau der Küche diese Fehlfunktion beheben sollen. Ich griff zum nagelneuen Fernbedienungsschlüssel der Tür zum Garten und drückte die Öffnungstaste, damit die feuchte Luft entweichen konnte. Fripp und Lake rangen darum, wer als Erster die Schwelle überqueren durfte, um auf den Fliesen des Küchenbodens herumzuschnüffeln, ob dort nicht noch Krümel vom Frühstück überdauert hatten.
„He, das ist ja eine Überraschung!“ Meine Schwester stürmte herein. „Du wolltest doch erst morgen wiederkommen.“
Bevor ich überlegen konnte, woher sie wusste, dass ich offenbar die Nacht im Revier verbringen sollte, plapperte sie weiter: „Und wie war’s in Kopenhagen? Binnen fünf Jahren unter die CO2-Emissionen von 1970, haben sie im Radio gesagt. Und alle Staaten haben unterschrieben. Sogar der komplette angloamerikanische Commonwealth, die afrikanische Union, China und das Zarenreich. Das ist mehr als erwartet ...“
Bevor ich überlegen konnte, wieso ausgerechnet ich – ein Teleworker, der nicht einmal zum Arbeiten das Haus verließ – zum Klimagipfel delegiert wurde, rief sie aus: „He, was machen denn die Viecher hier?“
Fripp und Lake hatten sich erstaunt zur Türschwelle zurückgezogen und starrten meine Schwester mit angsterfüllten Augen an. Ich stutzte. Normalerweise hätten sich die Tiere gurrend auf meine Schwester gestürzt und sich gehörig unter einem Schwall von Koseworten von den Ohren bis zum Schwanzende durchknuddeln lassen. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Fripp und Lake und wusste, dass hier etwas nicht stimmte: Diese Frau war nicht meine Schwester.
Es klingelte an der Haustür, und die Frau verließ die Küche.
Neugierig stellte ich die Gasflamme leiser, um zu lauschen, wer etwas von uns wollte. Ich selbst konnte es ja nicht sein, denn ich war in Dänemark. Vielleicht der Küchenmann, der die Abzugshaube reparieren wollte ...
„Könnten wir bitte Ihren Mann sprechen?“, hörte ich eine mir bekannte Stimme.
„Das geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ich ledig bin.“
„Äh ... ich meinte auch Ihren Bruder“, berichtigte der Fahrer des Streifenwagens.
„Der ist in Kopenhagen“, log die Frau, die nicht meine Schwester war.
„Das ist merkwürdig.“
„Worum geht’s denn?“
„Das müssten wir mit ihm persönlich auf dem Revier besprechen.“
Alarmiert schnappte ich den Fernschlüssel, flüchtete mit Fripp in den Sternenwald, der hinter unserem Garten begann, setzte mich auf einen Baumstumpf und überlegte. Wenn das nicht meine Schwester war, dann war das wahrscheinlich auch nicht meine Wohnung. Das Problem war nur: Wo war mein Zuhause, und wie war ich hierhergekommen?
Giles trottete herbei und legte sein Köpfchen auf mein Knie. Wenn aber die Katzen mich erkannten, konnte ich eigentlich nicht weit weg sein. Ich schaute gen Himmel und sah einen Zeppelin in der Abenddämmerung vorbeischweben. Ich musste mir allmählich Gedanken machen, wo ich die Nacht verbringen würde. Zurück in die Wohnung konnte ich nicht, weil man mich früher oder später den Behörden ausliefern würde. Eine private Alternative in der Gegend hatte ich nicht. Den Preis eines Hotelzimmers war es mir nicht wert. Außerdem lungerte hier die Polizei herum, die sich offensichtlich nicht mit Kazkowskis Protokoll meines Verhörs zufriedengeben wollte.
Aber warum nutzte ich die Zeit nicht anderweitig, etwa mit dem Besuch des Panamarenko-Museums?
Da ich davon ausging, dass kein Nachtzug nach Antwerpen verkehrte, schlich ich mich in den Fahrradschuppen, kontrollierte Reifen und Rücklicht, streifte meinen dicksten Anorak über und radelte los: Auf dem Treidelpfad am Albertkanal entlang, bis ich mich am nächsten Morgen in einem Vorort verirrte und vom Berufsverkehr auf einer radweglosen Zufahrtsstraße in das Stadtzentrum spülen ließ. Pünktlich zur Öffnungszeit stand ich vor dem Museumseingang.
Panamarenkos Flugmaschinen standen wie festgenagelt auf dem Boden, mit Ausnahme derer, die an der Decke aufgehängt waren. Während ich mit dem Kopf im Nacken die Aeromodelle bewunderte, wurde ich angerempelt. Die völlig zerstreute Dame entpuppte sich als eine entfernte Freundin meiner Schwester und gleichzeitig als die Kuratorin des Museums.
Gerne ließ ich mir die Zeitmaschinen zeigen und wagte es sogar, als Versuchskaninchen einzusteigen. Allerdings führte die einzige funktionierende Reiserichtung nur in die Zukunft, und zwar im Verhältnis 1:1 zur Realzeit. Das hieß, wenn ich mich zwanzig Sekunden in der Zeitmaschine aufhielt, vergingen in der Außenwelt ebenfalls zwanzig Sekunden. Dieser Panamarenko ist schon genial!
In der nächsten Halle war das Paraltor untergebracht. Wie bei Panamarenko üblich, wimmelte es von Schautafeln und Vitrinen mit den wirrsten Zeichnungen und Formeln. Der Künstler hatte, wie es seine Art ist, den Bau des Paraltors bis in die winzigsten Einzelheiten dokumentiert.
„Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass keine seiner Maschinen funktioniert“, kommentierte ich.
„Wieso sollten sie?“ Die Kuratorin war sichtlich erstaunt. „Auf diese Idee wäre ich nie und nimmer gekommen. Stellen Sie sich vor“, sie zeigte auf eines der schmetterlingsartigen Modelle, die auch in dieser Halle an der Decke baumelten, „solch ein prachtvolles Kunstwerk könnte ohne Weiteres auf- und davonfliegen. Auf Nimmerwiedersehen!“ Entgeistert schlug sie die Hände vors Gesicht. „Nicht auszudenken!“
Das Paraltor war schlicht konstruiert, aber beeindruckend groß. Zwei fünf Meter hohe Holzpfosten waren in der H-Form eines Rugby-Males mit einer Querstange verbunden. Mehrere Streben stützten den mit zahlreichen eingeschnitzten Skizzen versehenen Rahmen. Ich betrat die kleine dreistufige Treppe, die zur Schwelle hinaufführte, schreckte aber zurück. Wie sollte ich wieder nach Hause zurückgelangen, wenn ich auf der anderen Seite des Tores mein Fahrrad nicht wiederfand?
„Was ist los?“ In der Stimme der Kuratorin klang leichter Spott. „Kalte Füße?“
„Nö. Ich überlege nur, was passieren würde, wenn ich mit dem Fahrrad durchfahre.“
Die Kuratorin sah sich verstohlen in der menschenleeren Halle um und winkte mich zu einer Tür, die ins Freie führte: „Holen Sie’s. Aber beeilen Sie sich, solange niemand zuschaut.“
Auf dem Hof musste ich einem Sattelschlepper der Firma Paralholz ausweichen, der mehrere Stämme für die mit dem Museum verbundene Panama-Kunsthochschule ablud. Vermutlich sollten die Studenten in der Kunst des Baus weiterer Tore unterrichtet werden.
Im 14. Gang raste ich zurück in die Halle und positionierte mich einige Meter vor dem Tor. Die Kuratorin hatte inzwischen zwei Latten organisiert und legte die eine auf die Stufen diesseits des Tores, schritt hindurch, platzierte das zweite Brett auf der anderen Seite und winkte mir dann von dort aus zu. Ich trat in die Pedale, beschleunigte und radelte mit einer bahnbrechenden Geschwindigkeit von 15 Stundenkilometern über die Schwelle.
„Zufrieden?“, erkundigte sich die Kuratorin, als ich neben ihr bremste.
„Scheint nichts passiert zu sein.“
„Hatten Sie etwas anderes erwartet?“ Rasch sammelte sie die beiden Latten wieder ein und scheuchte mich zur Tür. „So, nun machen Sie bitte, dass Sie wegkommen! Wenn Ihr Experiment Schule macht, wimmelt es im Museum bald nur noch von Skatern und Rollschuhfahrern.“ Energisch stemmte sie die Tür auf. „Was ist denn hier los?“
Verblüfft starrten wir hinaus. Der Platz, auf dem soeben noch der Sattelschlepper rangiert hatte, war jetzt leer und vollkommen zugeschneit.
Das konnte nur eines bedeuten. Irgendwie brachte ich es jedoch nicht übers Herz, der Kuratorin mitzuteilen, dass eine von Panamarenkos Erfindungen tatsächlich funktionieren könnte.
Nachdem ich das immer wieder zur Seite wegrutschende Rad einige Dutzende Meter durch den kniehohen Schnee geschoben hatte, brauchte ich eine Pause. Ich kettete mein Fahrrad an und bestellte mir in der nächsten Cafeteria einen Espresso.
Mehr aus einem Reflex heraus griff ich zu dem weißblauen Faltblatt, das neben dem Zuckerstreuer auslag und für eine Museumseröffnung warb. Offensichtlich war ich im Foyer des Schneemuseums gelandet. Mit zunehmendem Interesse vertiefte ich mich in den Text.
Durch eine konzertierte Aktion der Schnee- und Schuhschützer war es verboten worden, Schnee zu schippen und Wege zu streuen. Der Grund war das aggressive Streusalz, das Schuhleder angriff. Es hatte sich als gefahrloser erwiesen, den Schnee einfach liegen zu lassen und festzutreten. Dadurch erkannte man, wo die Trampelpfade entstanden, und der liegen bleibende Schnee sorgte für eine schalldämpfende, gemütliche Stimmung in den Innenstädten. Die Menschen hatten plötzlich gute Laune und verzichteten gerne auf ihr Auto. Das Ganze stand unter der Schirmherrschaft von König Karmesin und seiner Gattin Schneewittchen ...
Hahaha, wie lustig. Aber das Faltblatt war wirklich professionell aufgemacht, beinahe wäre ich drauf reingefallen.
An eine Rückfahrt am Kanal entlang war bei diesem Wetter nicht zu denken. Also beschloss ich, mit dem Zug nach Hause zu fahren. Nach einer Weile hatte ich den Dreh raus, wie man mit dem Fahrrad auf der verschneiten, glatten Fahrbahn vorwärtskam, und schon nach weniger als einer Stunde war ich am Zentralbahnhof angelangt.
Die Flachländischen Eisenbahnen hatten sich reibungslos auf das barsche Winterwetter eingestellt. Alle zehn Minuten gab es eine Verbindung in meine Provinz, und die Motoren und Lichtmaschinen der Triebköpfe waren auf jede Art von Schnee eingestellt, sogar auf „sehr trockenen Pulverschnee“, wie der Fahrkartenverkäufer ausdrücklich betonte. Ich wartete zwanzig Minuten auf eine Linie, die nicht in Aarschot hielt, um die zehn Minuten einzusparen, die dort für das Wenden des Zuges benötigt wurden. Nachdem ich mein Fahrrad im geräumigen Gepäckabteil angeschlossen hatte, setzte ich mich in den angenehm klimatisierten Großraumwagen, ließ die winterliche Landschaft an mir vorüberziehen und lauschte den Diskussionen der Arbeiter, die zur Nachmittagsschicht in die Katzenfutterfabrik fuhren.
„... seitdem Seine Majestät Prinz Rupert persönlich die Geschäftsleitung von Vegskatz übernommen hat, läuft der Absatz schon viel, viel besser.“
„Das liegt bestimmt an der neuen Geschmacksrichtung.“
„Eidechse?“
„Ja, und die andere da: Lärche in Aspik.“
„Lerche, du Holzkopf. Das sind Lerchenzungen, die der da in die Gelatine getunkt hat.“
„Grässlich, was die armen Tiere so verzehren müssen.“
„Denen schmeckt’s. Täglich tummeln sich mehr an den Näpfen.“
„Unglaublich. Wo kommen die bloß alle her?“
„Man munkelt, so ’ne Katze kennt neun Welten. Apropos unglaublich: Glaubt ihr, dass das klappt mit den neuen Plantagen für fleischfressende Pflanzen rund um Sint-Truiden?“
Allmählich döste ich weg und träumte von einer Welt nahe der unseren, in der Katzen und Menschen friedlich koexistierten und zu King Crimsons Liveaufführung von Cat Food tanzten.
Bewaffnet mit 18 Dosen Vegskatz unter dem Arm betrat ich die Küche vom Garten aus. Fripp, Giles, Lake und Tippett umringten mich wie eingesperrte Haushunde, die ihr Herrchen von 9 bis 17 Uhr nicht gesehen haben. Ich machte mir aber nichts vor: Die Freude unserer Sportsfreunde galt ausschließlich ihrem Futter.
Während ich die Konservendeckel mit einem Büchsenöffner aufhebelte, weil der dazu bestimmte Ring unter dem Druck meines Daumennagels abgebrochen war, betrat meine Schwester die Küche. „Wo kommst du denn jetzt her?“
„Na, woher schon?“ Der Ring auf der zweiten Dose riss ebenfalls ab und schlitterte blechern über die Fliesen. „Aus Kopenhagen.“
„Was hast du denn in Kopenhagen gemacht?“
„Klimagipfel.“
„Ach, hör auf zu schwindeln.“ Meine Schwester hob den Ring auf und schnippte ihn in den Mülleimer. „Der Klimagipfel ist ausgefallen. Man hat im Vorfeld entschieden, dass man sowieso keine Einigung erzielen würde. Die Industriestaaten haben sich durchgesetzt, und jetzt überlässt man es dem Planeten, mit dem Klimawandel fertig zu werden. Eiszeiten habe es immer schon gegeben, heißt es. Das Ozonloch sei wieder am Zuwachsen, heißt es. Und draußen schneit es. Von wegen Erderwärmung, heißt es. Aber das weißt du ja alles selbst. Also: wo bist du gewesen? Hat es etwas mit der Polizei zu tun, die dich gestern abholen wollte?“
„Nun lass mich erst mal die Gartentiger füttern. Und dann können wir uns in Ruhe hinsetzen und plaudern.“
Während ich durch den Schnee zu den Näpfen stapfte, hörte ich hinter mir die Tür zufallen. Kein Problem, ich hatte ja den Fernschlüssel dabei.
Als ich in die Küche zurückkehrte und den Schnee abklopfte, hatte sich meine Schwester bereits beruhigt.
„Hast du eigentlich schon die Karten für King Crimson besorgt?“, erkundigte ich mich beiläufig.
„King Crimson?“
„Ja, die treten doch am Samstag im Muziekodroom auf.“
Meine Schwester schaute mich prüfend an. „Nein, du irrst dich. Dort findet das Vegskatz-Festival statt. Da spielen Centipede, Foreigner, Emerson Lake & Palmer, Working Week und die 21st Century Schizoid Band.“ Zwinkernd zog sie ein Faltblatt aus dem Kochbuchregal hervor. „Von King Crimson keine Spur.“
„Schade, ich hatte mich schon auf Cat Food gefreut.“ Neugierig überflog ich das Programm. „Klar, das macht Sinn“, bestätigte ich nach einer Weile. „Fripp spielt bei Centipede, MacDonald bei Foreigner, Tippett bei Working Week und Giles bei der Schizoid Band. Fehlt nur noch Lake ... Wo könnte der denn bloß ...“
„Du bist ein Witzbold“, kicherte meine Schwester, während sie das halblange Fell von Collins kraulte, die irgendwo eingenickt war und nun gewahr wurde, dass sie im Begriff war, ihre Mahlzeit zu verpassen.
„... und Collins wird bei irgendeiner Band mitflöten. Was haben die Karten gekostet?“
„14 Taler.“
„Das ist preiswert.“ Ich hatte keine Ahnung, wie viel ein Taler wert war.
„Finde ich auch. Vegskatz und Paral subventionieren in der letzten Zeit alle möglichen Kulturveranstaltungen in der Region. Katzenfutter und Sternwaldholz verkaufen sich so gut, dass die Firmen ihren Gewinn vor Steuern drücken müssen.“ Sie holte zwei Briefe. „Übrigens haben wir von beiden Firmen ein Angebot für unser Grundstück bekommen. Vegskatz will seine Felder ausweiten und Paral seinen Forst.“
Während ich mich auf die beiden Schreiben konzentrierte, erzählte sie von einer Doppelgängermörderplage, welche die Gegend unsicher machte.
Das Telefon klingelte. Meine Schwester ging ran und ich hörte, wie sie dem Anrufer erklärte, dass er nicht ihr Bruder sein könne, da sich dieser gerade in ihrer Küche befinde.
Ich zog es vor, das Ende dieses Gespräches nicht abzuwarten, und machte mich aus dem Staub. Umringt von unseren Katzen wanderte ich durch den Wald und dachte nach. Es bestand Handlungsbedarf. Einerseits musste unbedingt diese Expansion beendet werden, sonst erkannte ich meine Gegend bald nicht mehr wieder. Und zweitens: Wo war diese meine Gegend überhaupt?
Überrascht stellte ich fest, dass sich der Horizont zwischen den Baumstämmen änderte, während ich den Wald durchschritt. Mal sah ich statt Unterholz weite Felder mit fleischfressenden Pflanzen. Mal schneite es, mal war es zu warm für Dezember. Einmal stieß ich auf einen Kanal, dann wieder auf Straßenbahnschienen, die quer durch den Forst führten, und als ich zum Himmel aufschaute, tummelten sich dort unzählige Ballonfahrer.
An der Stelle der Polizeiwache oder der Vegskatz-Fabrik wurde gerodet, um ein Grundstück baufertig zu machen. Mir tat es weh, mit ansehen zu müssen, wie ein prachtvoller Baum nach dem anderen zu Boden stürzte, und ich beobachtete die Sattelschlepper der Firma Paralholz, welche die Stämme abtransportierten.
Moment, das war doch die gleiche Firma, die ich auch am Panamarenko-Museum gesehen hatte. Wahrscheinlich hatten Pfropfs Massendetektoren hier die Abweichungswerte gemessen und sie dann fälschlicherweise dem Grundstück zugeordnet, auf dem ich wohnte.
Ich musste mehrmals aus der Küche zurück in den Wald gehen, bis ich im Telefonbuch eine Frau Kazkowski ermittelt hatte, die keine Pflastersteine verkaufte und nicht in einem Tierasyl arbeitete, sondern brav an ihrem Schreibtisch im Zimmer K der alten Vegskatz-Fabrik saß.
„Das ist ja nett, dass Sie anrufen. Hat man Sie doch noch entlassen?“
„Wieso?“
„Nun, vor einer halben Stunde habe ich Sie noch unten in der Zelle gesehen.“
„Das wird wohl ein Doppelgänger von mir gewesen sein. Weswegen ich anrufe ...“
Ausführlich berichtete ich von meiner Vermutung, dass das Sternwaldholz Parallelweltübergänge ermöglichte und von Paral illegal vertrieben wurde, und sie versprach, sich sofort bei der Firma umzusehen.
Anschließend vergewisserte ich mich, dass ich unser Haus für mich allein hatte. Im Briefkasten lag eine Ansichtskarte meiner Schwester aus Kopenhagen, die dort in der Klimabehörde arbeitete und ankündigte, mich erst kurz vor Weihnachten wieder zu besuchen.
Nachdem die fünf hungrigen Mäuler gefüttert waren und ich unter der Dusche den Geruch von Thunfisch, Kabeljau und Lachs von der Haut geschruppt hatte, wollte ich mich zu ein paar Takten King Crimson in den Lehnstuhl setzen. Behutsam legte ich die B-Seite von In the Wake of Poseidon auf und senkte die Nadel in die Rille vor dem ersten Track. Da klingelte es an der Haustür.
In der Hoffnung, dass es nicht ich oder die Polizei sei, sprang ich auf, eilte in den Flur und öffnete.
Es war der Zimmermann. Mit hängendem Kopf erklärte er, dass mit unserer Küche etwas nicht in Ordnung sei. „Ich fürchte, dass ich Ihnen die falsche Tür eingebaut habe. Mein Zargenlieferant meinte, bei der Zustellung sei einiges schiefgegangen. Es tut mir leid, aber ich werde sie morgen wieder ausbauen müssen und durch die richtige ersetzen.“
„Um welche Tür handelt sich es denn?“
„Die zum Garten.“
„Und was genau soll daran nicht in Ordnung sein?“
„Sie haben offenbar eine P-Tür, also eine Paraltür, statt einer normalen N-Tür bekommen.“
„Und worin besteht der Unterschied?“
„Praktisch nur ein paar Funktionen im Fernbedienungsschlüssel.“
Nachdenklich bat ich ihn herein und begleitete ihn in die Küche. Fachmännisch inspizierte er die Tür und zuckte die Achseln.
Ich drückte auf die Auf-Taste des Schlüssels. Die Tür öffnete sich, und Collins trabte heran und stellte neugierig ihre Vorderpfoten auf die Schwelle. Im Hintergrund schwebte ein Zeppelin. Überrascht wechselte ich einen kurzen Blick mit Collins, die zu zwinkern schien, und betätigte die Zu-Taste. Mit knapper Not rettete sich die Katze in die Küche.
„Also, ich glaube“, räusperte sich der Zimmermann, „mit dieser Tür ist alles in Ordnung.“
„Prima. Ich würde sie auch gerne behalten.“
„Na, dann ist ja alles bestens. Wissen Sie, in der letzten Zeit habe ich einiges um die Ohren. In zwei Häusern, wo ich eine Küche samt Tür eingebaut habe, haben die Bewohner ihren Doppelgänger erschossen, der in ihr Haus eingedrungen ist. Das P-Kommissariat hat mir schon die Bude eingerannt. Dagegen ist so eine Lappalie wie Ihre Zarge reine Erholung.“ Erleichtert überreichte er mir eine Visitenkarte. „Wenn trotzdem etwas sein sollte, können Sie sich an den Hersteller wenden.“
Rasch überflog ich das Kärtchen. Paraltor-AG. Ihr Weg ins Paraldies ... Kazkowski hatte diesen Legasthenikern offensichtlich schnell die Hölle heiß gemacht.
Ich nickte dankbar. Die Küchentür also, das vereinfachte die Suche. Jetzt brauchte ich nur so lange in den Garten und zurück zu gehen, bis ich meine eigene Wohnung wiedergefunden hatte ... am besten, bevor mich mein Doppelgänger abknallte.
Marc Freund
Straße ins Nichts
Von einem Tag auf den anderen war das Haus mit der Nummer 17 aus der Markerey Lane verschwunden. Nicht etwa, dass man es eingerissen hätte, nein, es war einfach nicht mehr da.
Als Elaine Fintrop durch die Gartenpforte ihrer Nachbarn trat, stellte sie fest, dass ihr Weg in eine freie Fläche mündete, auf der das Unkraut wucherte.
Sie blieb auf der letzten Gehwegplatte stehen, zählte in Gedanken bis drei und wandte sich ab. Ohne sich noch einmal umzublicken steuerte sie das Haus des Bürgermeisters an.
Mr. Cobb, ein großer übergewichtiger Mann, sah von seinem Frühstück auf, als Mrs. Fintrop ihren Bericht beendet hatte. Er stand unsicher auf und löste die Serviette von seinem Hemdkragen.
„Verschwunden, sagen Sie? Und wo sind die McGowens?“
Mrs. Fintrop zuckte mit den Schultern.
Cobb nahm Mantel und Hut von der Garderobe und trat hinter ihr auf die windige Markerey Lane hinaus. Das erste Herbstlaub wirbelte um ihre Füße und folgte ihnen ein Stück weit die Straße hinauf.
Cobb öffnete die Gartenpforte zum Grundstück der McGowens und blieb stehen. Mrs. Fintrop beobachtete, wie er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, als befürchte er, beim nächsten Schritt im Boden zu versinken.
„Es ist überhaupt nicht zu erkennen, dass hier jemals ein Haus gestanden hat“, stellte er fest.
Mrs. Fintrop nickte ihm zu. „Was werden Sie jetzt anfangen?“
Der Bürgermeister beeilte sich, zu ihr zurückzukehren. „Ich will verflucht sein, wenn ich das weiß. Ich denke, zunächst sollten wir die McGowens als vermisst melden.“
Nur wenige Stunden später war der Ort zum Leben erwacht und das verschollene Haus war das Gesprächsthema schlechthin. Schaulustige kamen zusammengelaufen, um ein Fleckchen Erde zu begaffen, an dem es nichts zu sehen gab.
Es stellte sich heraus, dass das Ehepaar McGowen verschollen war.
So ging der Abend in die Nacht über. Bürgermeister Cobb fand keinen Schlaf und verfiel erst in den Morgenstunden in einen unruhigen Dämmerzustand. Um kurz nach halb sechs hämmerte jemand an seine Haustür. Cobb öffnete und starrte in das Gesicht von Constabler Jenkins. Der Polizist rang nach Atem und deutete gleichzeitig auf die noch dunkle Straße hinaus. „Das Haus von Mrs. Fintrop ist verschwunden!“
Cobb schüttelte den Kopf. Alles in ihm sträubte sich, diese Aussage für bare Münze zu nehmen.
Fünf Minuten später standen sie an der Stelle, wo Markerey Lane Nummer 15 gewesen war, und versuchten, mit ihren Taschenlampen der Dunkelheit Spuren zu entreißen.
„Jenkins, was geht hier vor?“, flüsterte Cobb.
„Ich bin nicht sicher, ob ich das wissen möchte. Das ist Teufelswerk.“
Cobb kaute an seiner Unterlippe. „Wir brauchen Hilfe von außerhalb, und zwar schnell.“
Jenkins sah den Bürgermeister verwundert an. „Was denken Sie denn, wer für so eine Sache zuständig ist?“
„Polizei, Militär, was weiß denn ich? Stellen Sie sich vor, was hier los sein wird, wenn herauskommt, dass das nächste Haus verschwunden ist.“
Der Constabler schluckte schwer. „Ich werde sofort Chefinspektor Mortle verständigen.“
Der Wirbel ließ nicht lange auf sich warten. Der kleine Ort wurde das erste Mal landesweit in den Medien erwähnt. Laufende Fernsehprogramme wurden unterbrochen und schon bald fanden sich die ersten Reporter ein. Die Markerey Lane wurde abgesperrt. An der Einmündung der Straße funkelten Blaulichter. Chefinspektor Mortle leitete die Untersuchungen, nur um festzustellen, dass es keinerlei Spuren gab.
Die gesamte Einsatzleitung wurde schließlich dem Militär übergeben. Major Keyston traf um 11 Uhr 20 ein. In seinem Gefolge eine Spezialeinheit von 50 Soldaten in voller Kampfausrüstung.
Gegen Mittag trat der kurzfristig gebildete Krisenstab im Saal des Gemeindehauses zusammen. Der Major, ein drahtiger Mann mit grauen Schläfen, hatte sich in voller Größe aufgebaut. Er richtete das Wort an den Bürgermeister: „Mr. Cobb, ich darf Ihnen zunächst mein Mitgefühl für die tragischen Ereignisse aussprechen. Wir setzen alles daran, die Tatsachen so schnell wie möglich aufzudecken.“
„Was werden Sie tun, um diese Ereignisse aufzuhalten?“, meldete sich plötzlich ein schmächtiger Mann mit schwarzen Haaren zu Wort. Sein Name war Harold Sparks, und als Starreporter der BBC genoss er den Status einer Diva.
Keyston bedachte ihn mit einem feindseligen Blick. „Das Militär ist schon mit ganz anderen Dingen fertiggeworden. Ich darf Ihnen einen Mann vorstellen, der uns von der Regierung als Berater zur Seite gestellt wurde: Mr. Anderson ist eine anerkannte Kapazität auf dem Feld der Parapsychologie. Er wird heute, nachdem die Evakuierung der Markerey Lane abgeschlossen ist, die Hausnummer 13 beziehen. Ebenfalls werden Vertreter dieses Stabes dabei sein. Das Weitere wird Ihnen jetzt Mr. Anderson erklären.“
Die Augen richteten sich auf einen gut aussehenden Mann von etwa 45 Jahren, der sich in diesem Augenblick erhob.
„Es ist eine schwere Stunde, in der wir uns hier eingefunden haben“, begann er ruhig. „Die jüngsten Ereignisse sind bizarr und mit dem heutigen Wissensstand der Forschung nicht zu erklären. Am ehesten ließe sich das Geschehene als ein Fall von Makropsychokinese beschreiben.“
„Mit anderen Worten: Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel“, warf Sparks ein.
Anderson sah den Reporter an. „Die Welt ist voller Rätsel, Mr. Saprks. Mit meinem Team werde ich in der Lage sein, Untersuchungen vorzunehmen, um das Vorhandensein von natürlichen Kräften oder ungewöhnlichen Vorgängen in der Markerey Lane entweder zu bestätigen oder zu negieren.“
„Was sind das für Untersuchungen und wie wollen Sie das Verschwinden eines Hauses aufklären?“
Anderson schüttelte den Kopf. „Die Erklärungen würden an dieser Stelle zu weit führen. Mein Team ist zur Stunde bereits im Haus Nummer 13 vor Ort und installiert die Anlagen, die wir einsetzen werden.“
„Warum ausgerechnet Hausnummer 13?“, fragte Cobb dazwischen.
„Ganz einfach weil es das nächste Haus auf der linken Straßenseite ist“, erklärte Anderson. „Aus irgendeinem Grund scheinen die Häuser auf der rechten Seite nicht betroffen zu sein. Es ist am wahrscheinlichsten, dass, sollten sich die Ereignisse fortsetzen, als Nächstes die Nummer 13 heimgesucht wird. Das ist leider auch schon alles, was ich Ihnen in diesem Augenblick sagen kann. Alles Weitere werden die nächsten Stunden ergeben. Wenn Sie gestatten, werde ich jetzt hinübergehen, um letzte Vorbereitungen zu treffen.“
Anderson ging hinaus und ließ eine ratlose Runde zurück. Einige von ihnen würden sich ebenfalls in Kürze im Haus mit der Nummer 13 einfinden. Neben Bürgermeister Cobb hatte auch Pfarrer Hennessey, ein grimmiger Mann mit weißem Haar, seine Zusage gegeben. Außerdem nahm Sparks seine Chance wahr, direkt aus der Markerey Lane zu berichten. Chefinspektor Mortle und Major Keyston komplettierten die Gruppe.
Cobb betrat das windschief wirkende Haus als Letzter. Das Wohnzimmer war zu einem Besprechungsraum umfunktioniert worden, während die drei Mitarbeiter Andersons mit ihren Geräten in den oberen Zimmern Station bezogen hatten.
„Guten Abend, Mr. Cobb“, begrüßte ihn ein angespannt wirkender Anderson und drückte ihm ein Klemmbrett mit einem Fragebogen in die Hand. Auf den verwunderten Blick des Bürgermeisters hin schob er rasch hinterher: „Ich bitte Sie, sofern Ihnen irgendetwas seltsam vorkommt, dies sofort zu notieren.“
„Was erwarten Sie für diese Nacht, Mr. Anderson?“, fragte Cobb geradeheraus.
Der Wissenschaftler machte eine ausweichende Geste. „Es kann alles passieren oder gar nichts. Wenn allerdings wieder ein Haus spurlos verschwinden sollte, dann gehe ich jede Wette ein, dass es dieses sein wird.“
Cobb schluckte und wandte sich dem Pfarrer zu. „Was halten Sie von dieser Sache, Mr. Hennessey? Glauben Sie, dass es das Werk des Teufels ist?“
Der Pfarrer zog unter seinem Talar eine Kette hervor, an der ein silbernes Kruzifix hing. „Die Macht des Kreuzes wird Satan in seine Schranken verweisen, Mr. Cobb. Ich vertraue auf diese Kraft mehr als auf die moderne Technologie oder auf Vertreter des Militärs.“ Hennessey blickte verächtlich zu Keyston hinüber.
Das laute Hämmern des Türklopfers brach plötzlich in die Stille.
Keyston wirbelte auf dem Absatz herum und begab sich im Stechschritt zur Haustür. Draußen befanden sich zwei Soldaten. In ihre Mitte hatten sie einen jungen Mann mit Nickelbrille genommen.
„Was gibt es?“, rief Keyston laut.
„Entschuldigen Sie, Sir. Aber dieser Mann hier ist der Sohn von Mrs. Fintrop.“
„Na und?“, zischte der Major und sah seinen Untergebenen unwirsch an. „Es gilt der strikte Befehl, dass sich niemand diesem Haus nähern darf.“
Der Soldat zog den Kopf ein. „Ich weiß, Sir. Aber dieser Mann besteht darauf, in Bezug auf das Verschwinden von Mrs. Fintrop eine Aussage zu machen.“
Noch ehe der Major protestieren konnte, erteilte Anderson die Genehmigung, den Mann einzulassen.
„Sie sind also der Sohn von Mrs. Fintrop? Willkommen in unserer Mitte. Bitte berichten Sie doch, was Sie zu uns führt.“
„Ich wohne in London“, erklärte Fintrop. „Ich telefonierte gestern Abend noch mit meiner Mutter. Sie berichtete, was geschehen ist. Da sie sehr spiritistisch veranlagt ist, hat sie sich die Karten gelegt. Und im Haus des Glücks wurde ihr mitgeteilt, dass ihr eine weite Reise bevorstehe.“ Er legte eine Pause ein.
„Sind Sie hierher gekommen, um uns diesen Quatsch zu erzählen?“ Major Keyston war rot angelaufen.
Anderson machte eine beschwichtigende Geste. „Ich würde es nicht so bezeichnen. Es ist sogar sehr interessant. Erzählen Sie weiter, Mr. Fintrop.“
Der junge Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich fragte sie im Scherz, ob sie eine Kreuzfahrt unternehmen wolle. Aber sie sagte, sie ahne, wohin die McGowens gegangen seien, und sie sei bereit, ihnen zu folgen.“
„Und hat sie Ihnen gesagt, wohin?“, hakte Anderson nach.
„Nein“, gab Fintrop zurück. „Sie bemerkte nur, dass diese Reise bereits seit geraumer Zeit in ihren Karten auftauchte, doch noch nie sei sie so nahe erschienen wie gestern.“
Fintrop ging zu seinem Mantel und förderte eine kleine Schachtel zutage.
„Ich besitze einen ebensolchen Satz Karten, wie ihn meine Mutter verwendet hat. Hier ist er.“ Fintrop ließ die Karten aus der Schachtel gleiten und übergab sie Anderson, der sie mit dem Interesse eines neugierigen Kindes betrachtete.
„Wenn möglich, würde ich gerne die Nacht über hierbleiben“, fügte Fintrop hinzu.
Anderson nickte. „Sehr gern. Vielleicht können Sie uns noch von Nutzen sein. Dann sind wir also, abgesehen von meinen Mitarbeitern, sieben Männer, die sich in dem Haus mit der Nummer 13 versammelt haben. Wenn das keine Vorzeichen sind!“ Er steckte die Karten ein und schloss in fröhlichem Plauderton: „Nun heißt es warten, meine Herren.“
Seine Gemütsverfassung vermochten die Männer nicht zu teilen. Insbesondere Bürgermeister Cobb war es, der die Unruhe unter ihnen noch schürte. Im Abstand von wenigen Minuten erhob er sich, trat an das Fenster und schob die Gardine beiseite. Die Straße war durch Scheinwerfer in ein Lichtermeer getaucht. Vor dem Haus patrouillierten Soldaten und auf den Dächern der umliegenden Gebäude lauerten Scharfschützen.
„Mir gefällt das alles nicht“, murrte Cobb. „Ich frage mich ernsthaft, ob wir es überhaupt bemerken würden, wenn wir mitsamt dem Haus verschwänden.“
„Eine interessante Überlegung“, warf Sparks ein. „Sie können sicher sein, dass ich währenddessen meine Erlebnisse ins Diktiergerät spreche, für die Nachwelt.“
Inspektor Mortle lachte auf. „Welche Nachwelt? Wem wollen Sie Ihr Gerät übergeben, wenn wir uns alle in Luft auflösen? Wollen Sie es vielleicht aus dem Fenster werfen?“
Anderson kam dem Reporter zuvor. „Ich sehe, dass Sie sich alle mit dem Phänomen beschäftigen. Es bestätigt, dass wir unsere Gruppe richtig zusammengestellt haben. Was mag mit den Verschwundenen geschehen sein? Vielleicht werden wir es bald erfahren.“
Pfarrer Hennessey schlug ein Kreuz über den Anwesenden.
Vor den Fenstern tauchten hin und wieder die Konturen der Soldaten auf, die ihren Wachdienst verrichteten.
Vor welcher Gefahr wollen sie uns schützen?, überlegte Fintrop. Auf wen würden sie ihre Gewehre richten, wenn das Haus verschwand?
Fintrop war der Erste, der es bemerkte. Während der Pfarrer und der Chefinspektor in ihren Sesseln eingenickt waren, hatte er auf die gegenüberliegende Wand geblickt. Dort, wo die Mauer in die Decke überging, begannen die Linien zu verschwimmen. Nichts schien mehr gleichmäßig zu sein.
Fintrop sprang auf. Er musste nichts sagen, denn Anderson und Cobb hatten die Veränderungen ebenfalls wahrgenommen. Die wellenförmigen Bewegungen griffen wie ein Lauffeuer um sich und breiteten sich über die Decke und die Wände aus. Die Fenster zerflossen vor ihren Augen. Draußen wurden Rufe laut, und es war tatsächlich ein einzelner Gewehrschuss zu hören.
„Es geht los!“, rief Anderson.
Die Ereignisse überschlugen sich. Eine junge Frau aus Andersons Team kam die Treppe heruntergestürmt. Gleichzeitig hämmerte jemand mit aller Kraft von außen gegen die Tür. Die Schläge klangen dumpf durch das Haus. Irgendetwas stimmte mit den Geräuschen nicht. Sie hallten dunkel nach, viel länger als normal. Draußen rief jemand etwas, doch waren keine Worte mehr zu erkennen. Die Stimme war bis zur Unkenntlichkeit verlangsamt, so dass sie nur noch als undefinierbarer Brei durch die Tür drang.
Die Rufe im Innern blieben real. Cobb stieß einen verzweifelten Schrei aus, als er sah, was mit dem Haus passierte. Sie zogen sich unwillkürlich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die hintere Wand stießen.
Die Wellen krochen nun über den Fußboden und bewegten sich auf die Gruppe zu.
Cobb atmete hektisch. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.
„Nur ruhig“, mahnte Anderson. Vielleicht war es seine Stimme oder aber die Erkenntnis, dass sie keine Möglichkeit mehr zur Flucht hatten; die Männer warteten auf das, was geschehen würde.
Die Wellen waren jetzt bis auf einen Meter heran.
Pfarrer Hennessey trat einen Schritt vor. Er hielt das Kruzifix in der rechten Hand und stellte sich der Erscheinung.
Die Männer sahen mit an, wie auch er von den wabernden Bewegungen eingehüllt wurde. Hennessey verformte sein Gesicht zu einer Grimasse. Sein Schrei wurde erstickt. Eine Sekunde später war vom Pfarrer nichts mehr zu sehen.
Fintrop spürte, wie die Wellen seine Füße erreichten und ihn gefangen nahmen. Er erwartete Schmerz, vielleicht sogar den Tod. Stattdessen stellte sich ein Taubheitsgefühl ein. Jegliche Geräusche verstummten. Keine Stimmen mehr, kein aufgeregtes Atmen, keine Schritte. Fintrop fühlte sich wie in einer Blase gefangen. Es war ein Zustand der Schwerelosigkeit. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange er andauerte. Auch die Zeit hatte sich anderen Gesetzten unterworfen. Das Haus und auch die Männer um ihn herum waren einer milchigen, undurchsichtigen Umgebung gewichen.
Plötzlich gab es einen Ruck, der Fintrop von den Beinen riss. Er schlug hart auf dem Boden auf, was ihm zugleich zwei Dinge verdeutlichte: Er war frei und auch das Haus hatte sich nicht aufgelöst.
Er blinzelte irritiert und setzte sich auf. Neben ihm erkannte er Anderson, der sich am Treppengeländer festklammerte. Rechts lag der Pfarrer. Er ächzte. Fintrop robbte zu ihm hinüber und half dem Mann auf die Beine. Nach und nach rappelten sich auch die anderen auf. Niemand war verletzt.
Major Keyston lief an das Fenster, um nach seinen Männern zu sehen. Er prallte mit einem Keuchen zurück, als er bemerkte, dass sie verschwunden waren. Ebenso wie die gesamte Markerey Lane.
Die anderen Männer drängten nach. Unter ihnen auch Fintrop.
Er wusste nicht, was er erwartete; jedenfalls nicht das, was sich seinen Augen bot, als er die Gardine beiseite fegte. Er blickte auf einen blühenden Obstbaum, der inmitten einer grünen Wiese stand.
„Wo sind wir gelandet?“, rief Cobb.
Die Blicke der Anwesenden suchten Anderson, doch der war verschwunden. Erst jetzt bemerkten sie, dass er längst die Haustür geöffnet hatte und nach draußen getreten war.
Sie starrten gebannt auf die Türöffnung, vor der ein Schatten auftauchte. Der Wissenschaftler stand in der Tür und lächelte. „Sie brauchen nichts zu befürchten. Ich bin draußen gewesen. Und wo immer wir uns auch im Moment befinden; wir haben Luft zum Atmen und können uns ungehindert bewegen. Nur die Umgebung hat sich verändert.“
Cobb drängte sich nach vorne, schob Anderson beiseite und trat hinaus. Auf einem Sandweg vor dem Haus blieb er stehen. „Nur?“, wiederholte er aufgebracht. Er blickte sich dabei nach allen Seiten um. „Der ganze Ort ist verschwunden und Sie reden so, als sei es das Normalste auf der Welt.“
Anderson lächelte. „Bitte beruhigen Sie sich, Mr. Cobb, und erfreuen Sie sich an der Tatsache, dass wir noch am Leben sind. Im Übrigen ist nicht der Ort verschwunden, sondern wir.“
Inzwischen waren alle ins Freie getreten.
„Sie behaupten, das Haus habe sich aufgelöst und an anderer Stelle wieder zusammengesetzt, ja?“, krächzte Keyston.
Der Wissenschaftler nickte. „Darauf läuft es hinaus. Nur dass ich den Begriff manifestieren verwendet hätte.“
„Ist mir egal, wie Sie das hier nennen. Für mich geht es über das, was der menschliche Verstand verarbeiten kann, weit hinaus.“
Chefinspektor Mortle trat hinzu. „Ich denke, was uns alle interessiert ist die Frage, wo wir uns hier befinden. Glauben Sie, dass wir noch auf der Erde sind?“
Anderson ließ sich mit einer Antwort Zeit. „Selbst wenn ich wollte, könnte ich es Ihnen nicht genau sagen. Wenn wir die Umgebung um uns herum betrachten, bin ich geneigt zu sagen ja. Ich denke nicht, dass es uns auf einen anderen Planeten verschlagen hat, sondern dass dies hier noch immer die Erde ist, nur nicht so, wie wir sie kennen.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, unterbrach Keyston.
„Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns in einer Art Parallelwelt befinden.“
„Eine Parallelwelt?“, wiederholte Sparks misstrauisch.
„Ja. Eine Welt, die neben der unseren existiert. Die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Und offenbar verhält es sich so, dass die Grenzen zwischen den Welten nicht starr sind, sondern sich von Zeit zu Zeit bewegen. Es gibt Zonen, die von den Grenzen überlappt werden. Etwas, das wir in der Mathematik als Schnittmenge bezeichnen.“
Cobb drehte sich zu dem Wissenschaftler um. „Und die Markerey Lane ist so eine Schnittmenge, denken Sie?“
Anderson machte eine vieldeutige Geste.
„Alles, was recht ist“, rief Keyston aufgebracht, „aber so einen Unfug habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört!“
„Und was fangen wir jetzt mir unseren Erkenntnissen und Vermutungen an?“, wollte Mortle wissen. „Wir können nicht sagen, wo wir sind, wenn wir die Gegend nicht untersuchen. Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?“
Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen, denn Sparks hatte etwas entdeckt, auf das sich nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit lenkte: Auf dem Sandweg stand eine schmale Gestalt in einem langen Gewand. Der Saum wehte im Wind.
„Wer ist das?“, flüsterte Hennessey. Alle hielten den Blick auf die Frau gerichtet, die sich ihnen mit langsamen Bewegungen näherte.
„Mutter“, rief Fintrop plötzlich. Keyston konnte den Mann nicht davon abhalten loszurennen.
Anderson legte seine Hand auf den Arm des Majors. Sie beobachteten, was sich vor ihren Augen abspielte. Die Männer erkannten, wie Fintrop die ältere Frau erreichte und sie umarmte. Zusammen kamen sie näher.
„Ich will verdammt sein, aber er hat recht“, presste Cobb hervor. „Es ist Mrs. Fintrop.“
Die Erkenntnis sorgte für Unruhe unter den Anwesenden.
Cobb trat einen Schritt vor, um Mutter und Sohn in Empfang zu nehmen. „Mrs. Fintrop, wie schön, Sie wiederzusehen. Geht es Ihnen gut?“
Die Frau nickte. „Natürlich geht es mir gut, Mr. Cobb. Ich bin endlich zu Hause angekommen, und es tut so gut, Sie alle ebenfalls hier zu sehen.“
„Wo sind wir hier, verdammt?“, fuhr Keyston sie an.
Mrs. Fintrop lächelte. „Sie sind in der realen Welt angekommen“, sagte sie. „Dort, wo alles so ist, wie es in der anderen Welt hätte sein sollen und doch nie war. Wir alle lebten im Exil. Doch wir wurden von höchster Stelle begnadigt. ER hat uns heimgeholt.“
„Wen meinen Sie damit?“, meldete sich Sparks zu Wort.
„Na, hören Sie“, wandte Hennessey ein. „Können Sie sich das nicht denken?“ Der Pfarrer wandte sich an Mrs. Fintrop. „Wir sind im Paradies, nicht wahr?“
Mrs. Fintrop breitete in einer Geste der Zustimmung die Arme aus und deutete auf einen grünen Hügel, der sich zu ihrer linken Seite erstreckte.
„Ja“, sagte sie schließlich mit glückseligem Ausdruck in den Augen. „Hier können alle Menschen auf ewig friedlich leben.“
„Moment mal“, keuchte der Major. „Soll das etwa heißen, dass wir alle tot sind?“
Mrs. Fintrop trat einen Schritt näher und sah ihm ernst in die Augen. „Wir haben das Glück, in der einzig wahren Welt weiterleben zu dürfen.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2012
ISBN: 978-3-95500-528-3
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