Cover


Amazing SF – Band 3
Tom Cohel – Skarab
1. eBook-Auflage – Juni 2012
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Mark Berndroth - http://www.berndroth.com/
Lektorat: Werner Schubert
www.vss-verlag.de

1.

Das Wesen machte einen Buckel, während es den schrottüberlagerten Boden abtastete. Das Schnüffeln des langgezogenen Riechorgans klang, wie wenn Luft durch ein verstopftes Rohr zog. Plötzlich verharrte die Nase mitten in einem Berg aus öligen Zahnrädern. Die vorquellenden Glubschaugen schienen vollends herausfallen zu wollen.
Der Jiggie hatte etwas gefunden.
Ein Piepsen war zu hören, als die kabelartige Zunge in den schmierigen Boden schoss und sich um das Objekt der Begierde spannte. Das Tier setzte seine beiden scharnierartigen Beine ein, um sich gegen den Boden zu stemmen und so seinen Fang heraufzuziehen. Der im Vergleich zu den Beinen mickrige Kugelkörper wurde nach oben gedrückt. Vor Anstrengung riss die Dreckkruste aus zotteligem Fell, Öl und Schrottsud auf und fiel in Klumpen zu Boden. Darunter war eine Haut zu sehen, die nicht viel anders erschien als der Belag auf ihr. Geschwüre verunstalteten den bräunlichen Kloß und knorpelige Auswüchse unterstrichen den Eindruck von Ekel. Als drittes Standbein benutzte das Tier einen felllosen Schwanz, der auch dazu diente, die Balance zu halten. Der spitzzulaufende Kopf zitterte vor Anstrengung und die schwarze Zunge überdehnte sich, als der Jiggie noch stärker zog.
Einst hätte Skarab eher sein Innerstes ausgewürgt, als auch nur daran zu denken, einen Jiggie zu fressen. Hunger war jedoch eine starke Waffe, und er gewann mehr und mehr an Macht, je länger man ihn missachtete. Der Valkide beobachtete das Treiben des einzigen anderen Bewohners von Devrex 144 mit träger Wachsamkeit. Zu oft hatte er der Nahrungsaufnahme eines Jiggies in den letzten zweihundert Zyklen beigewohnt, um noch irgendetwas anderes dabei zu empfinden als alltägliches Übel.
Nach seiner Landung auf der Schrotteinöde wäre Skarab damals fast gestorben, bis er herausfand, dass Jiggies am besten zu töten waren, nachdem sie gerade gefressen hatten. Die Fellknäuel auf den Stelzenbeinen waren in der Lage, beinahe die Hälfte ihres eigenen Körpervolumens zu verschlingen – was natürlich erheblich auf die Beweglichkeit schlug. Genau das, worauf Skarab abzielte.
Der Valkide hatte niemals herausfinden können, wie diese absurden Viecher je auf die Devrex-Monde gekommen waren. Ein Pygronaut, einer der fliegenden Händler vom Obram-System, hatte Skarab einmal seine Theorie zum Besten gegeben. Die Menschen sollten die Schuldigen sein.
„Wenn du den Fleischsäcken keine Probleme gibst, machen sie sich selbst welche“, hatte der Pygronaut gesagt. Durch das Visier des Helms hatte Skarab ein grüngiftiges Echsengesicht grinsen gesehen. „Zu Beginn der künstlichen Devrex-Monde, damals, als die Fabriken noch wirklich Robots am Fließband produzierten, haben die Wissenschaftler auf einem Devrex ´rumexperimentiert. Kein Wunder, ihnen war langweilig. Robots machten Robots und alle andere Arbeit. Also dachten sich die Terraner, wie toll es doch wäre, die DNA von ein paar Tieren ihres Heimatplaneten miteinander zu kreuzen, und zu sehen, was dabei herauskam. Ich weiß noch, das eine Tier hieß ‚Ratte’, dass andere ‚Käng...uhuh’ oder so. Jedenfalls schlüpften aus diesem Cocktail aus Erbzellen die springenden Felldinger, die jetzt jeder Jiggie nennt; wieso auch immer. Bestimmt wird dieser Unfall auch mal wieder aussterben.“
Das Gespräch mit dem Reptilienmann war beinahe ein halbes Leben her. Doch der Pygronaut hatte sich getäuscht. Durch Mitnahme in Raumgleitern hatten sich die Jiggies über die Devrex ausgebreitet wie eine Seuche. Sie hatten sich der Umgebung aus rostigen Metall, Abfall und Schutt angepasst und dahingehend entwickelt, sich von den Essensresten der Menschen und den Schimmelkulturen aus Wasserrückständen zu ernähren. Der Pygronaut und andere mochten sie als Plage abtun, für Skarab bedeuteten Jiggies die einzige Nahrung, die er auf Devrex 144 bekommen konnte.
Der Valkide spannte seine zwei Scherenhände und machte sich bereit zuzuschlagen. Jede einzelne Bewegung konnte über leeren oder vollen Magen entscheiden. Er riskierte einen weiteren Schritt um die Ecke und spähte nach vorn. In dem vom Schrott unwegsamen Tunnelgang saß seine Beute und kämpfte immer noch um ihre Beute. Der Jiggie hatte Skarab noch nicht bemerkt.
Vor wenigen Stunden hatten seine Fühler ihm eine schwache Regung bei einer Fabrikruine signalisiert. Die Chancen hatten schlecht gestanden. Jiggies waren nicht wählerisch, was ihre Jagdgebiete betraf, doch große Räume wurden meistens von ihnen gemieden. Skarab vertraute jedoch auf seine Erfahrung und bahnte sich einen Weg hinein in die verschüttete Fabrik. Mitten unter mehreren verrosteten Robot-Fertigungsmaschinen, die wie Mahnmale einer vergangenen Epoche im Zentrum einer Halle standen, vibrierten seine Antennen erneut. Skarab schaute zwischen seine Stachelbeine zu Boden. Seine Sinne hatten ihn nicht getäuscht. Ein Kanaleinstieg in das Tunnellabyrinth der einstigen Fabrik hatte ihn schließlich zu seinem jetzigen Standort geführt.
Skarab wollte seine Ausgangslage ändern, um einen besseren Start für die Jagd zu erlangen. Er schob sich an der Wand vor, spähte um die Ecke – Knacks! – und unterdrückte den Zischlaut, der ihm auf seinem Mundrüssel lag. Wieder einmal war sein Chitinpanzer in dem engen Durchgang hängen geblieben. Diesmal trug ein abstehendes Metallfragment Schuld daran, dass sich sein zerschundener Thorax eine weitere Kerbe einhandelte. Er hasste jene engen Nadelöhrgänge für einstige Botenrobots, die selbst für Menschen bedenklich schmal gewesen sein mussten.
Skarab zirkulierte seine Blutbahnen und senkte seine Temperatur. Seine zweitausend Einzelaugen fixierten jede Bewegung des Jiggies vor ihm. Zwar stand Skarab im Schatten, doch wusste er um das sensible Gespür der springenden Fellkugeln. Jiggies waren nahezu blind. Auch die Schlauchnase war für wenig mehr als zum Erschnüffeln von Schimmel zu gebrauchen. Ihre Stärke lag im Hören.
Stille kehrte ein. Der Jiggie hatte aufgehört zu fiepen. Das angeblich missglückte Experiment der Menschen zuckte mit einem fleischigen Auge hinauf und stierte durch den Tunnel. Rasch schob der Valkide sich wieder um die Ecke zurück und hoffte, dass er nicht zu spät reagiert hatte. Skarab hielt den Atem an. Wenn der Jiggie nicht genügend fraß, hatte er keine Chance, den Drei-Meter-Springer einzufangen; dies wusste er aus leidvoller Erfahrung.
Skarabs Glück machte Überstunden. Die Aussicht auf einen Fang ließ den Jiggie seine natürliche Scheu vergessen. Das näselnde Fiepen bewies Skarab, dass das Tier sich wieder beruhigt hatte. Nach einigen Augenblicken wagte er sich wieder vor. Die Glubschaugen des Jiggies konzentrierten sich auf den schmutzigbraunen Boden. Skarab wollte erleichtert Luft durch seine Tracheenröhren pressen, doch zwang er sich innezuhalten. Jetzt galt es, keinen Fehler mehr zu machen.
Er schaute zu, wie die überdehnte Zunge des Jiggies sich in sein Maul zurückzog. Das Mischwesen zog etwas aus dem Schutt hervor. Skarab konnte eine Kiste erkennen. Schimmelflechten überwucherten die aufgebrochene Vorratskiste mit Synthego. Der Inhalt war gänzlich verdorben.
Ein Devrex-Mond war ein gigantisches Kugelkonstrukt aus Metall, auf dem keine genießbaren Pflanzen herangezüchtet werden konnten. Um nicht auf Nahrungslieferungen angewiesen zu sein, hatten die Menschen Maschinen entwickelt, die ihnen synthetische Nahrung produzierten.
„Friss keinen Menschen mit Synthego – das gibt Blähungen!“ Der Valkidenwitz war alt, dennoch rieben sich Skarabs Mandibeln belustigt gegeneinander.
Mithilfe eines Scharnierbeins stopfte sich der Jiggie die gelbe Paste aus der Kiste in sein Maul. Er zerrieb das Synthego mit seinen Zähnchen und schlürfte geräuschvoll den Inhalt in sein Mageninneres. Alsbald umfing Skarab der Geruch von Verwesung. Wenn der Genießer das verfaulte Zeug aus der Kiste gänzlich hinuntergeschlungen hatte, würde das Gewicht reichen, um Skarab die ersehnte Chance zu geben. Er wartete auf den entscheidenden Moment.
Dröhnen und Rauschen setzten so abrupt ein, dass Skarab alles um sich herum vergaß. Nach zweihundert Zyklen der erdrückenden Stille, die nur gelegentlich vom Knacken und Brechen des Schrotts unterbrochen worden war, war es ihm wie ein Zerreißen seiner Nervenstränge. Der Boden unter seinen Füßen erzitterte. Skarab beschlich eine seltsame Vertrautheit. Ein entferntes Bild nahm in seinem Kopf Konturen an. Ein ...
Mit einem Knall wie von berstendem Metall verklang das wummernde Geräusch. Der Tunnel bebte. Flocken von Rost lösten sich von der Decke und purzelten auf Skarabs flachen Schädel. Er schüttelte sich und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
„Was zum ...?“ Skarab unterbrach sich selbst und horchte in die trügerische Ruhe hinein, die wieder eingekehrt war. Lediglich ein aufgeregtes Fiepen war zu hören – es entfernte sich rasch.
„Bei Schar´Nazuls dickem Hinterteil!“, stieß Skarab hervor und ignorierte, wie seine Magensäfte aus seinem Maul spritzten.
Der Valkide schoss in den Gang hinein. Der Jiggie war längst auf den Sprung. Gelbe Synthego-Klumpen zogen eine Spur durch den Tunnel, in die Richtung, wohin seine Beute entflohen war. Skarab hastete hinterher; seine Stachelfüße zertrümmerten verrosteten Metallschutt unter ihm. Seine grünen Facettenaugen nahmen in tausendfacher Weise das springende Etwas wahr, das sich mittels seiner zwei Klappbeine in wahnwitziger Geschwindigkeit entfernte. Der Jiggie wurde kleiner und kleiner. Skarab blieb nach kurzem Lauf stehen und beendete die Verfolgung.
Er schritt in die entgegengesetzte Richtung los. Skarab hatte keinesfalls aufgegeben. Routine, Jagderfahrung und vor allem der knurrende Magen hatten ihn gelehrt, dass man stets einen Plan B im Hinterkopf behalten sollte. Der Tunnelabschnitt, in dem er sich aufhielt, war von einem ringförmigen Rundgang umschlossen. Nach seiner Berechnung bräuchte er nur den Tunnelgang zu seiner Rechten zu nehmen, um dem Jiggie den Weg abzuschneiden. Das Vieh musste zwangsläufig den größeren Umweg machen, um diesen Tunnelbereich zu verlassen. Doch würde es diesen niemals erreichen.
„Heute nicht“, sprach Skarab zu sich selbst und nahm den Tunnel.
Bei dem Gedanken an das bevorstehende Mahl kringelte sich der Rüssel in seinem Maul. Skarab sah sich bereits die Dreckkruste und das Fell vom Körper des Jiggies abschaben, die zwei Beine ausreißen und den Fleischkloß über einem Feuer brutzeln. Der bestialische Gestank von gebratenem Jiggie würde ihm wie ein himmlischer Duft in die Nase steigen.
Der Valkide fluchte, da er inzwischen mehrere Male gegen die gekrümmte Tunnelwand geschrammt war. Es wurde zunehmend enger. Ohne Rücksicht auf seinen eigenen Körper quetschte Skarab sich weiter vor. Wer außer ihm interessierte sich schon dafür, wie er auf diesen im All schwebenden Schrotthaufen aussah? Doch Skarab belog sich selbst: Jeder Kratzer war ihm wie ein Stich durch seine Herzröhre.
Heute nicht ...
Skarab schob alle Gedanken beiseite und spannte seine Fühler an. Er hatte ein rhythmisches Pochen geortet, rasch näher kommend. Er hatte das Fellknäuel wirklich überlistet, der Jiggie war auf dem Weg! Der Valkide ließ probehalber seinen rechten Arm schwingen, dessen Ellbogen valkidentypisch in einer scharfen Kante auslief. Sofort bereute es Skarab, da sein Arm gegen die nahe Wand stieß. Der Weg war noch ein gutes Stück schmaler geworden.
„Heute nicht!“
Skarab ließ seine Scherenhand auf- und zuschnappen. Einmal durch den Hals des Jiggies, und es wäre getan. Er spürte, wie ihm die Luft ausging. Sein Tracheensystem pumpte den künstlichen Sauerstoff von Devrex 144 in Höchstgeschwindigkeit durch den Körper. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Seine Rasse war nicht für solche Spurts geschaffen.
Nach einer Biegung schob sich das Tunnelende vor sein Sichtfeld. Skarabs gehetzte Anspannung machte Erleichterung Platz. Er konnte den querverlaufenden Rundgang an der Kreuzung erkennen. Seine Antennen schwenkten nach rechts, wo sie den nahenden Jiggie verfolgten. Geifer lief aus seinem Maul und troff von den Maxillen zu Boden. Diesen Jiggie würde er nicht mehr braten – er würde ihn sogleich verspeisen, mit allem Drum und Dran.
Wenn seine sensorischen Fühler ihn nicht betrogen, dann musste der Jiggie gleich nach ihm an der Kreuzung ankommen. Skarab zischte. Die Beute würde in seine schnappenden Scheren laufen. Er erreichte den Rundgang, holte Schwung und hechtete vor.
„RARR!“ Der schnatternde Angriffsruf der Valkiden hallte durch die Tunnels. „RA-urgs!“
Skarabs Stimme erstickte, als sein Kopf nach vorne geschleudert wurde, während sein Körper zurückblieb. Aufgeregt presste der Valkide sich weiter vor; das folgende Quietschen brannte sich in seine Trommelfelle an den Unterbeinen. Sein Exoskelett schien sich zusammenziehen zu wollen. Alle Chitinplatten drückten gegen sein weiches Inneres. Den Durchgang vor Augen schaffte Skarab es nicht mehr, sich von der Stelle zu bewegen. Weder vor und zurück.
Er steckte fest.
Sein Gebrüll zeugte nicht mehr von Angriffslust, es war nackte Verzweiflung. Als wäre die Demütigung noch zu gering, sprang in diesem Moment der Jiggie an Skarab vorbei, glotzte ihn mit seinen dümmlichen Augen an und setzte seinen Weg fort.
„Bleib hier ...“ Seine kräftige Valkidenstimme hatte sich in die einer jungen Larve verwandelt.
Erneut versuchte Skarab sich vorzuschieben, so lange, bis sein Körper durch Reibung ganz heiß geworden war. Schließlich gab er auf und ließ den Kopf hängen. Das ermöglichte ihm zu sehen, was der Grund für sein Scheitern war: Zwei unscheinbare Pfosten flankierten den Tunneleingang. Sie hatten ihn gleich einer Zange eingeklemmt. Auf den beiden Säulen stand je eine Schale, an der ein kleines Schild angebracht war. Auch nach intensiver Betrachtung konnte Skarab nicht sagen, was das Bild darstellen sollte: Ein weißer Stift mit orangefarbenem Ende war darauf zu sehen. An der Spitze glühte es und eine Rauchwolke zog sich nach oben. Das Ganze war von einem roten Querstrich durchzogen.
„Diese wabbligen Fleischklöpse!“
Skarab fluchte über Menschen, ihre sinnfreie Kunst und ihre Bauwerke. Er verwünschte ihren Devrex-Mond und schrie ihrem missglückten Jiggie hinterher. Seine Anspannung flaute ab, doch musste Skarab weiterhin nach Luft schnappen. Seine Tracheenröhren würde einige Zeit brauchen, um sich von der Anstrengung zu erholen.
Der Valkide ließ sich nach hinten fallen, um eine bequemere Position zu erlangen. Zunächst knirschte es, dann rutschte Skarab ein Stück abwärts; schließlich gaben die zwei Pfosten seinen Hinterleib frei. Skarab landete auf seinem Abdomen und blieb darauf liegen. Die Arme und Beine in die Höhe gestreckt sah er aus wie tot, während er auf der runden Rückenschale hin- und herschaukelte. Er wünschte, er wäre es.

*

Irgendwann hatte der Hunger die Oberhand gewonnen und Skarab dazu getrieben, sich aufzusetzen und das Tunnellabyrinth wieder zu verlassen.
Der Jiggie war längst über alle Schrottberge, dennoch hatte Skarab sein Glück versuchen wollen, indem er einen umfassenden Blick riskierte. Die Wahrscheinlichkeit, eine kleine Fellkugel inmitten einer Landschaft aus Relikten vergangener Zeit zu erspähen, ging gegen null – Skarab hatte jedoch nichts Besseres vor.
Bei seiner Ankunft in der Robot-Fabrikstätte vor wenigen Stunden hatte er einen Turm auf deren Dach ausmachen können. Er würde eine gute Aussichtsposition darstellen. Skarab

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Bildmaterialien: Mark Berndroth
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2012
ISBN: 978-3-95500-527-6

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /