„Bei allen Teufeln von Urgina, wen schleppt ihr mir denn da an?“ Halb zornig, halb neugierig blickte Rumah, Fürst des kleinen Bergstaates Valamir, den beiden Gardisten entgegen, die gerade den Thronsaal betreten und sein Grübeln unterbrochen hatten. In ihrer Mitte führten sie einen Jungen, der krampfhaft ein Banner in seinen Händen hielt und sich unter den harten Griffen seiner Wächter wand.
„Hoher Lord, diesen Jungen nahmen wir gefangen, als wir unten am Radaro-Fluss eine kleine Abteilung der Caruanischen Armee überraschten. Einige Caruaner konnten fliehen, die meisten sind tot. Diesen hier konnten wir einfangen. Und es ist ein guter Fang, den wir da gemacht haben, denn er ist der Bannerträger von Fürst Ekat. Das Banner wollte er um keinen Preis hergeben, er kämpfte darum wie eine Tigerin um ihre Jungen. Schließlich haben wir es ihm gelassen, denn sonst hätten wir ihn töten müssen.“
Nachdenklich schaute Fürst Rumah auf den Jungen. „Wolltest dein Banner also nicht hergeben“, brummte er. „Nun gut, dann werde ich dich eben morgen nach der Schlacht zusammen mit dem Banner als Siegeszeichen vorzeigen.“ Der Fürst beugte sich in seinem Thron vor und fixierte den Jungen. Die Gesichtszüge dieses Knaben erinnerten ihn an einen Mann, den er gut kannte. „Dein Gesicht kommt mir bekannt vor, mein kleiner Freund. Auch dein schwarzes Haar verrät dich. Gib zu, du bist ein Bastardsohn von Ekat.“ Ein Lachen schüttelte seinen massigen Körper, als er sah, wie der Junge zusammenzuckte. „Ha, es ist doch überall bekannt, dass Fürst Ekat gern zu seinen Mägden ins Bett steigt. Und jetzt hat er einen seiner Bastarde zu seinem Bannerträger gemacht. Wahrlich ein wertvoller Fang, den ihr da gemacht habt.“ Er lehnte sich wieder zurück. Ein weicher Zug erschien in seinem sonst so harten Gesicht. „Keine Angst, kleiner Bastard, ich werde dir nichts antun. Dein Vater und ich sind Vettern, und Fürst Rumah vergreift sich nicht an Verwandten, auch wenn du nur ein kleiner Bastard bist. Nur Ekat selbst, Ekat muss sterben. Dieser Hund, der mir die Krone des Tieflandes raubte. Mir allein steht Caruna zu, ich bin der wahre Thronerbe unseres Onkels Damir. Ich bin älter als Ekat, auch wenn sein Vater der ältere Bruder war.“ Finstere Schatten nahmen den versöhnlichen Zug aus seinem Gesicht wieder hinweg.
Trotzig schaute der Junge auf. Er hatte bisher kein Wort gesprochen und schwieg auch weiter. Er mochte kaum älter als vierzehn Jahre sein, war klein und zart gebaut. Seine ehemals prachtvollen Kleider waren vom Kampf zerfetzt und schmutzig. Der tiefe Ernst in seinem Gesicht ließ ihn älter erscheinen, doch die Spuren, die einige Tränen in den Schmutz auf seinen Wangen gezeichnet hatten, zeigten, dass er noch weit vom Mannesalter entfernt war. Immer wenn er auf das Banner in seinen Händen blickte, blitzte Stolz in seinen Augen auf.
Es war ein prachtvolles Banner. Der hölzerne Stab war mit wundervollen Schnitzereien verziert. Dämonenfratzen mit gebleckten Raubtierzähnen blickten grimmig in die Welt. Geschuppte Drachen wanden sich um den Schaft. Wenn man genau hinsah, konnte man bemerken, dass diese kunstvoll in das Holz geschnittenen Bilder eine Geschichte erzählten, eine Heldensage aus der fernen Vergangenheit Carunas, seiner Ritter und seiner Fürsten. Viele wertvolle, blitzende Edelsteine waren in die Vertiefungen eingelassen. Rote Gnatsteine bildeten die Augen der Ungeheuer. Blitzende Lichtreflexe ließen sie lebendig erscheinen. In allen Farben glitzernde Juwelen verzierten Rüstungen, Schilder und Schwerter der kämpfenden Recken. Vom Alter war das Holz fast schwarz geworden. Schon viele Bannerträger mussten dieses Kunstwerk getragen und voller Stolz zu ihm aufgeblickt haben. Das rote Banner selbst zeigte in Gold, Schwarz und Grün das uralte Familienwappen der Fürsten des Caruanischen Tieflandes. Locker fiel es am Stab herab und bedeckte Hand und Arm des Jungen.
„Nun gut“, grollte Rumah nach einer längeren Pause, „wenn du nichts sagen willst, dann lass es sein. Vor Jahren war ich selbst Bannerträger meines Vaters, deshalb weiß ich, was du fühlst. Ich kann dich gut verstehen, du dummer, törichter Knabe. Sieh es als besondere Gunst von mir an, wenn ich dir das Banner lasse. Morgen aber wirst du mit ihm an meiner Seite sein. Und alle Männer meines Vetters, der dein Vater ist, sollen daran sehen, wer der Sieger dieser letzten Schlacht sein wird. Noch bevor morgen die Sonne untergehen wird, soll sein Land mir gehören. Dann werde ich Herrscher über Valamir und Caruna sein, wie es mir von Rechts wegen vorbestimmt ist.“ Dann schaute er auf und befahl den Gardisten, welche die ganze Zeit stumm in strammer Haltung verharrt hatten: „Bringt ihn fort und sperrt ihn sicher ein. Aber verletzt ihn nicht.“
Die Wächter nahmen den Jungen wieder in ihre Mitte und führten ihn aus dem Saal. „Halt!“, tönte da Rumahs Kommando, als sie gerade das Portal des Thronsaales erreicht hatten. Überrascht drehten sich die Wächter um, und auch der Junge warf einen ängstlichen Blick über die Schulter zurück. „Junge“, sprach der Fürst ihn an, „wenn du schon nicht mit mir reden willst, so verrate mir doch wenigstens deinen Namen, wenn du überhaupt einen hast.“
Stolz blickte der Junge auf. „Silvaro“, sagte er, und als ihn einer der Wächter derb in die Seite stieß: „Silvaro, hoher Lord!“
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Es war eine klare Nacht. Die Sterne funkelten, und ein großer silberner Mond zog seine Bahn über den Himmel. Es war aber nur ein trügerischer Friede in dieser Nacht vor der Schlacht. Und zwei Menschen in der Burg, die hoch oben auf dem Felssporn lag, konnten keinen Schlaf finden. Fürst Rumah grübelte über seinem Plan für die bevorstehende Schlacht. Weiter unten im Verließ lag der Knabe Silvaro auf seiner harten Pritsche und starrte unverwandt auf die tanzenden Schatten, die eine Fackel auf die Decke zeichnete.
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Als der Morgen dämmerte, rief Fürst Rumah seine Truppenführer zu einer letzten Lagebesprechung zusammen. Er erläuterte ihnen seinen Plan, die gegnerische Armee am Grenzfluss Radaro zu stellen und sie dort vernichtend zu schlagen. Zum Schluss ermahnte er seine Offiziere: „Ihr wisst, angeblich soll Ekat einen Geistkrieger zu Hilfe gerufen haben. Ich glaube nicht daran, aber wenn es stimmt, muss dieser sterben. Wir sind den Tiefländern weit überlegen. Aber mit einem Geistkrieger an seiner Seite kann Ekat uns besiegen. Die geheimnisvollen Kräfte eines solchen Magiers könnten uns gefährlich werden. Sucht also nach einem Mann oder einer Frau, weißhaarig, wahrscheinlich in einen roten Mantel gehüllt, in sich versunken und mit einer Traumschlange um das Handgelenk gewunden. Nach einem Geistkrieger eben. Tötet ihn und erschlagt auch die Traumschlange. Tötet lieber zehn Falsche, als dass ihr den Richtigen leben lasst. Schade, dass wir nicht selbst einen Geistkrieger an unserer Seite haben, dann könnte es über den Ausgang der Schlacht keinen Zweifel mehr geben.“ Rumah schaute nochmals über die kleine Schar seiner Offiziere hin. „Geht jetzt, die Götter werden mit uns sein. Ich werde die Schlacht vom Hügel aus leiten. Aber schickt mir vorher Ekats Bannerträger.“
Als die Sonne aufging, stiegen die beiden gegnerischen Heere die Hänge hinab. Rumahs Armee hatte sich seit Tagen auf den Hochebenen Valamirs gesammelt, die hohen Pässe des Garakhargebirges überschritten und von Norden her das breite Tal des Radaro erreicht. Von Süden her, aus den weiten Ebenen Carunas, kamen die Truppen des Tieflandfürsten Ekat über die Hügel des Vorgebirges gezogen und begannen den Abstieg in das Flusstal.
Auf dem Boden des Tales gingen die beiden Heere aufeinander zu und versuchten, möglichst günstige Ausgangsstellungen für die Schlacht einzunehmen. Es kam zu ersten unbedeutenden Vorgeplänkeln. Bogenschützen stießen vor und gaben vereinzelte Pfeilschüsse auf die gegnerische Armee ab. Sie stifteten damit zwar etwas Verwirrung, richteten aber sonst kaum Schaden an. Einmal wurde ein solcher Trupp Caruanischer Bogenschützen von einer berittenen Einheit Rumahs von seinem Heer abgeschnitten und gefangengenommen. Den anderen Gruppen gelang es aber immer wieder, sich rechtzeitig zurückzuziehen. Bald lag nur noch der Grenzfluss zwischen den Armeen. Rumahs Truppen schwenkten, als sie den Radaro erreichten, flussabwärts. Ekats Armee zog ihnen am anderen Ufer flussauf entgegen. Die vielen Bäche, die aus den Seitentälern dem Fluss entgegen strömten, behinderten den Vormarsch nicht.
Rumah stand mit seinem Generalstab auf einem kleinen Hügel und sah dem Aufmarsch der Armeen zu. Er wandte sich dem jungen Bannerträger an seiner Seite zu. Silvaro stand stolz neben dem Fürsten und dessen eigenem Bannerträger. Seine Gesichtszüge wirkten undurchdringlich, und seine Augen blickten starr an dem Banner vorbei auf das Schlachtfeld.
„Bald wird dein Vater mein Gefangener sein. Dann wird das Banner, das du da so stolz hältst, mein eigenes sein.“
Der Junge schwieg und würdigte den Fürst keines Blickes.
Unten im Tal hatten die beiden Heere jetzt ihre Ausgangsstellungen erreicht. Knisternde Spannung lag in der Luft. Wer würde den ersten Angriff wagen, Ekat oder Rumah? Sehr viel vom Ausgang dieser Schlacht hing davon ab, wer den ersten erfolgreichen Schlag würde führen können. Rumah gab seinem Bannerträger ein Zeichen. Der senkte sein Banner und hob es ruckartig wieder an – das Zeichen zum Angriff. Im Tal drunten begann Rumahs Armee ihren Vormarsch. Gedeckt von den Bogenschützen, die mit einem Pfeilhagel den Gegner in Deckung zwangen, wollten die Truppen den Grenzfluss überschreiten.
Da erhob sich auf der nördlichen Seite des Flusses ein fürchterlicher Sturm. Staub wurde aufgewirbelt und nahm Rumahs Kämpfern die Sicht. Entwurzelte Bäume und abgebrochene Äste wirbelten durch die Luft und drohten die Männer zu erschlagen. Chaos brach aus.
Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Flusses blieb alles ruhig. Rumah war bleich geworden. „Der Geistkrieger“, murmelte er, „das ist der Geistkrieger, der mit seinen Zauberkräften für Ekat kämpft. Götter, steht uns bei!“
Und er ließ nochmals signalisieren: „Findet den Geistkrieger, tötet ihn!“
Doch es nutzte nichts. Alle Naturgewalten schienen sich gegen Rumahs Armee verschworen zu haben. Jetzt schwollen auch noch alle Bäche an, die dem Radaro von Norden her zuflossen, und auch der Fluss selbst trat, allen Naturgesetzen zum Hohn, auf dieser Seite über das Ufer. Schon nach kurzer Zeit standen die valamirischen Soldaten in knietiefem Wasser und Schlamm.
Auf dem gegenüberliegenden Ufer aber blieb die Natur friedlich und die Caruaner hatten trockenen Boden unter den Füßen. Plötzlich begannen Ekats Truppen ihren Gegenangriff. Ein Pfeilhagel überschüttete die hilflos in den entfesselten Naturgewalten umherirrenden Soldaten Rumahs. Viele von ihnen starben, und eine große Zahl derer, die von den Pfeilen nur verwundet wurden, ertrank in den schlammigen Fluten.
Dann überschritten Ekats berittene Truppen den Grenzfluss. Um sie herum beruhigten sich die Naturgewalten sofort, und so blieben sie unbehelligt von Sturm und Hochwasserfluten. Die Männer aus dem Bergland hatten keine Chance. Schon nach kurzer Zeit wurde ihre Armee auseinandergerissen und in mehrere Teile zersprengt. Bald stand Rumahs Niederlage fest.
Oben auf dem Hügel tobte Rumah in einem Wutanfall. „Das war dieser verfluchte Geistkrieger. Er allein hat mich besiegt. Hätte ich ihn nur hier zwischen meinen Fäusten. In Stücke würde ich ihn reißen, diesen Hund.“
Und er verfluchte alle seine Spitzel und Spione, die nicht herausbekommen hatten, wer der geheimnisvolle Geistkrieger war und wo er sich aufhielt. Die Anführer seiner Truppen, ja zuletzt auch alle seine Soldaten nannte er feige Hunde, die nicht mit ein bisschen Wind und Wasser fertig werden könnten. Alle Welt beschuldigte er, ihn im Stich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: vss-verlag Hermann Schladt
Lektorat: Werner Schubert
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2012
ISBN: 978-3-86479-707-1
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