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Kapitel 1 Der alte Dunbar

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Der scharfe Knall riss mich buchstäblich vom Stuhl. Seine Lautstärke signalisierte bedrohliche Nähe, und ich vergaß vor Schreck für einen Augenblick das Luftholen. Die weiße Leinwand, an der ich arbeitete, fiel achtlos zwischen Farn und Heidekraut, dem vorherrschenden Bewuchs auf dem Hügelplateau, auf dem ich mich zurzeit aufhielt, während das Echo des unweit abgegebenen Schusses zwischen den nahen Kliffwänden schnell verhallte. Dann war es wieder so still und friedlich, als hätte er nie stattgefunden.

Neugierig suchte ich nach dem Verursacher. Zunächst wanderte mein Blick den baumbewachsenen Hang hinunter, dann entlang der schmalen, feinsandigen Bucht, soweit sie von meinem Standort wegen der Baumwipfel einsehbar war.  

Jäger hier und um diese Uhrzeit? 

Die schottischen Hügel waren zwar sehr beliebt bei Hubertus-Anhängern, allerdings waren mir bei meinen Exkursionen bislang noch nie welche über den Weg gelaufen. Und schon gar nicht an einem Vormittag im Juni.

War jetzt überhaupt Jagdsaison? Klang jedenfalls eindeutig nach Flinte.

Es waren vielleicht zwei Stunden vergangen, seit ich mich beladen wie ein Maulesel den Hang bis auf die achtundachtzig Meter hohe Kuppe des Beinn an Achaidh Mhoir hinaufgeschleppt hatte.

Fragen Sie mich bloß nicht, wie man das korrekt ausspricht!

Der Zweck dieser Übung war, die beiden Klippenzungen und die zwischen ihnen befindliche trichterförmige Bucht zusammen mit den schroff und unheimlich vor der Küste aufragenden Hebriden-Inseln Rum und Eigg auf Leinwand zu bannen. Erst vor ein paar Tagen war ich zufällig auf diesen Platz gestoßen und sofort von dem atemberaubend schönen Ausblick hingerissen gewesen. Leider hatte sich bislang die Vorzeichnung hinzukriegen jedoch als überaus knifflig herausgestellt. Die Perspektiven wollten einfach nicht passen.

Wäre ja auch zu schön gewesen!

Ich suchte mir oft so verzwackte Bildausschnitte aus für meine Malereien. Wahrscheinlich fand ich sie einfach spannender.

Oder ich quälte mich gerne!  

Daher war es wohl nicht das letzte Mal, dass ich mir daran fast die Zähne ausbiss. Jedenfalls war ich dadurch völlig versunken gewesen, das Problem in den Griff zu bekommen, und nahm meine nähere Umgebung lange Zeit kaum wahr.

Bis zu diesem unüberhörbaren Geräusch, das mich völlig rausbrachte.

Mein suchender Blick entdeckte einen rotweiß karierten Fleck mitten in der kleinen Salzwiese, die das hintere Ende des Sandstrandes bildete und in einen bewaldeten Hohlweg zwischen den zwei Klippen mündete. Irgendwie wirkte er dort fehl am Platz. Da mir die Sonne grell ins Gesicht schien, schirmte ich automatisch die Hand über die Augen und kniff die Lider zusammen.

Tatsächlich, dort im Gras lag etwas.

Nein, nicht etwas. Jemand.

Ein Mann, wie mir schien. Und zwar bäuchlings. Eine etwas ungewöhnliche Stellung für ein Schläfchen auf einer Wiese, meiner Meinung nach. Aber auf keinen Fall war dort der Verursacher des Schusses zu finden.

Schon wollte ich mich abwenden, bückte mich bereits halb nach meiner Zeichnung, als ich doch noch einmal genauer hinschaute.

Natürlich! Das war der alte Dunbar.

Deutlich konnte ich die drei Schafe erkennen, die völlig unaufgeregt in seiner Nähe vor sich hin grasten.

Wieso hatte ich sie nicht direkt bemerkt?

Robert Dunbar war in dieser Gegend rund um das Dörfchen Morar und der nahen Hafenstadt Mallaig bekannt wie ein bunter Hund, wie man so schön sagte, obwohl seine typische Bekleidung, in der er zumeist steckte, im Gegensatz zu jener farbenfrohen Charakterisierung vorwiegend aus derben braunen Hosen, einer ähnlich farbenen Wetterjoppe und einem schwarzen Glengarry, einer Kappe aus Lammwolle, an der ein silberner Anstecker des Dunbar-Clans befestigt war, bestand. Daran war er immer sofort zu identifizieren. Und auch unten auf der Wiese gewahrte ich neben der liegenden Person vage ein Häufchen bräunlichen Stoffes.

Bestimmt seine Jacke. Eine ungewohnte Wärme heute aber auch!

Ich war dem Fünfundsiebzigjährigen schon oft während meiner Erkundungen nach brauchbaren Motiven in den hiesigen Hügeln begegnet. Mindestens dreimal die Woche schaffte er seine Muttertiere auf einem Viehanhänger von Mallaigs Randbezirk aus, wo er am Ende der Annies Brae ein altes Cottage bewohnte, die vier Meilen bis zur Mündung des Lochs, um seine Schafe von der B 8008 über den sanft abfallenden Hohlweg hinunter zu dieser kleinen Salzwiese zu führen. Er war nämlich davon überzeugt, dass seine Tierchen nur hier die besten Kräuter finden konnten, um für gesunde Lämmer zu sorgen.

Das läge am Wasser des Lochs, das unmittelbar bei Morar in die irische See abfloss, hatte er mir mal raunend erklärt, als ob er mir damit ein Geheimnis anvertraute, und hinzugefügt, die Mineralien darin wären ganz speziell.

Der Alte auf der Wiese rührte sich allem Anschein nach keinen einzigen Millimeter. Selbst wenn er in der Mittagssonne eingeschlafen war, hätte ihn der Schuss doch genauso wie mich hochfahren lassen müssen, dachte ich leicht irritiert.

Sonderbar! Zumal der Knall im Talkessel bestimmt noch lauter zu hören gewesen war als hier oben auf meinem Hochsitz.

Je länger ich auf den rotkarierten Hemdenstoff starrte, richtete sich der Fokus meiner Augen auf einen mehr zu erahnenden, als sichtbaren dunkleren Farbfleck mitten auf Mr. Dunbars Rücken, der nicht dem übrigen Karomuster entsprach.

Sollte der Schuss etwa ihn…, fuhr mir der Gedanke wie ein Feuermelder durch den Kopf, während sich meine Beine bereits in Bewegung setzten.

Es gab nur einen direkten Weg von hier oben in die Bucht, nicht breiter als ein gelegentlich genutzter Wildwechsel und entsprechend uneben, steil und holprig. Nur wenige Einheimische und Touristen verirrten sich hier hinunter. Er war einfach zu unbequem, zumal der Hohlweg zwischen den beiden Klippen eine wesentlich angenehmere Alternative bot, die kleine Bucht zu erreichen.  Für mich kam dieser Komfortweg jedoch nicht in Frage, denn dazu hätte ich den Hügel zur meerabgewandten Seite erst hinuntersteigen müssen. Ein Riesenumweg, wenn der alte Mann Hilfe benötigte.

So hastete ich auf teilweise kaum wahrnehmbaren Spuren von einem Pfad den Hang hinunter, so schnell das Gelände es irgendwie zuließ.

Das hätte mir noch gefehlt, dass ich mir hier die Haxen breche! Und dann ohne Telefon.

Ich trotzte zu gerne der permanenten Erreichbarkeit.

Die erst vor wenigen Jahren angepflanzten Lärchen verwehrten mir jetzt leider den Blick in die Bucht, so dass ich mich nicht mehr vergewissern konnte, ob der strapaziöse Hindernislauf möglicherweise völlig unnötig war, weil sich Mr. Dunbar doch noch erhoben hatte. Doch eigentlich glaubte ich nicht recht daran. Ich hatte es schon immer im Gefühl gehabt, wenn etwas nicht stimmte.

Also beeil dich!

Doch auf einmal stach mir der durchdringend unangenehme Geruch von Benzindämpfen in die Nase. Gleichzeitig gewahrte ich Flammen an meinen Hosenbeinen, die höllische Schmerzen an den Schienbeinen verursachten.

Entsetzt blieb ich stehen und sog scharf die Luft ein. Meine Hände begannen derart heftig zu zittern, dass sich der ganze Oberkörper mit schüttelte. Gleichzeitig revoltierte mein Magen, und ich musste mich krampfartig übergeben.   

Was tat ich denn hier gerade? Verdammt! Diese Symptome kannte ich doch. Und zwar nur zu gut. Erst gestern war ich mal wieder voller Panik aufgewacht. Diese verfluchten Bilder im Kopf!  Dabei hoffte ich doch, es allmählich überwunden zu haben. Die Albträume kamen schließlich immer seltener.

Bewusst tief ein- und ausatmend versuchte ich, wieder Herr meiner selbst zu werden.

Wie ging noch diese Entspannungstechnik, die die real wirkenden Bilder als pure Einbildung entlarvten? Augen schließen, die Hände fest zu Fäusten ballen, Spannung halten, dabei ruhig weiteratmen und bis zehn zählen.

Dann schaute ich wieder an mir herab. Natürlich gab es kein Feuer auf der Hose, auch wenn ich meinte, der vermeintliche Geruch nach verbranntem Stoff und versengtem Fleisch hinge noch immer in der Luft. Aber die schreienden Schmerzen an den Beinen ließen wenigstens nach. Die mahnende Stimme, die mich in meinem Kopf anschrie, ließ sich jedoch nicht so leicht abstellen.  

Sind wir schon wieder dabei, uns Hals über Kopf einzumischen? Du rennst hier planlos herum, dabei könnte sich der Schütze noch irgendwo verbergen. Hast du nichts dazugelernt?

Absolut richtig. Ich hatte keine Vorstellung von der mich erwartenden Situation und rannte unbedarft und ohne jede Verteidigungsmöglichkeit durch die Gegend.

»Du bist jetzt vierundvierzig, Ellen. Und eigentlich willst du auch noch fünfundvierzig werden«, sagte ich laut zu mir selbst, als müsste ich mich vergewissern, dass ich doch eigentlich am Leben hing. War ich vielleicht von allen guten Geistern verlassen? Ich hatte doch meine Lektion gelernt…

»Oder nicht?«

Wieso tat ich dann so etwas Unvernünftiges trotz aller Therapien und Schmerzbehandlungen? Vor allem die Psychiater-Stunden hatten einzig dem Zweck gedient, unbedachtes Verhalten für alle Zukunft zu vermeiden, weil mein Nervenkostüm nun einmal nicht mehr mitspielte.

Allmählich bekam ich meinen Atem wieder unter Kontrolle, während ich gleichzeitig versuchte, zwischen den Bäumen irgendeine Bewegung auszumachen.

Soll sich doch die hiesige Polizei um den Alten kümmern, dachte ich plötzlich wie zum Trotz. Ich war dienstuntauglich.

Das hatte ich schriftlich.

Ich musste das nicht mehr tun. Es reichte doch, den Vorfall zu melden.

Schon machte ich kehrt, um den Rückweg bergauf anzutreten, als ich abermals innehielt. Etwas in mir blockierte jeden weiteren Schritt weg vom Geschehen und verhinderte, den alten Dunbar seinem Schicksal zu überlassen.

Ich schaute auf meine Armbanduhr und schätzte die Zeit, die seit dem Schuss vergangen sein musste. Mindestens fünf Minuten, vermutete ich. Wahrscheinlich länger. Eigentlich genügend Zeit für den Schützen, zu verschwinden. Er würde sich schließlich nicht für alle Ewigkeit in den Büschen verbergen.

Wenn es überhaupt einen Schützen gab, der Mr. Dunbar erschossen hat, wies mein Verstand meinen Instinkt zurecht. Vielleicht hatte der Alte ein ganz anderes Problem! Er war schließlich nicht mehr der Jüngste.

Doch ich zog in meinem Herzen eine andere Möglichkeit nicht wirklich in Betracht.

Halt einfach die Augen offen, anstatt hier blind herumzustolpern, versuchte ich mich selbst davon zu überzeugen, dass mein Risiko kalkulierbar war. Außerdem fand ich es auf einmal durchaus überlegenswert, nicht mehr im Vorhinein jedem Wagnis aus dem Weg zu gehen. Das Vermeiden ängstigender Situationen war schließlich nicht besonders erfolgreich gewesen trotz der Jahre, die vergangen waren. Meine Alpträume und Panikattacken bewiesen es. Vielleicht war es somit zur Abwechslung an der Zeit, mal genau das Gegenteil auszuprobieren. Denn sonst, war ich überzeugt, würde irgendwann der Tag kommen, an dem ich überhaupt nicht mehr das Haus zu verlassen wagte.

Also setzte ich mich wieder in Bewegung, wenn auch bedächtiger und dabei unruhig das Buschwerk zu beiden Seiten des Pfades taxierend. Dabei musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass es wohl nicht so simpel war, seine alte Haut abzustreifen.

Einmal Polizistin, immer Polizistin!

Auch wenn mir das Herz dabei aus dem Hals sprang.

Daher dauerte es fast weitere zehn Minuten, bis ich endlich den Fuß des Hügels erreichte und sich die feinsandige Bucht vor mir ausbreitete.

Hektisch überflog mein Blick die Fußbereiche der Klippen. Doch Baumbewuchs, um einen Schützen zu verbergen, gab es nur auf meiner Hangseite. Sie erstreckte sich bis zu dem aus der Bucht hinausführenden Hohlweg. Der Fels der gegenüberliegenden Klippe war so gut wie kahl. Aber so sehr ich auch äugte, der alte Herr inmitten der Salzwiese blieb das einzige menschliche Wesen an diesem Strand, was mich trotzdem nicht beruhigte.

Die rund hundert Meter über das offene Gelände auf ihn zu rannte ich in der Hoffnung, dass ein sich schnell bewegendes Ziel schwerer zu treffen war. Die grasenden Schafe in Mr. Dunbars Nähe, die bei meinem Heranstürmen ihre Köpfe erhoben und mich argwöhnisch anstierten, nahmen sicherheitshalber einige Beinlängen mehr Abstand.

Als ich den Alten endlich mit angehaltenem Atem erreichte und noch immer nicht auf mich geschossen worden war, ließ ich mich etwas aufatmend neben ihm auf die Knie nieder.

 

2

Das erste, das mir durch den Kopf ging, als mein Blick jetzt die ganze Person erfasste, war: Blattschuss.

Mr. Dunbars Kopf ruhte seitlich auf dem rechten Ohr, so dass ich seine blicklosen Augen wahrnahm, die unbewegt die Grashalme neben seinem Gesicht fixierten, als wollten sie bis zum Schluss noch deren Qualität überprüfen. Das Loch mitten zwischen seinen Schulterblättern, welches die Kugel in das Baumwollhemd gerissen hatte, wirkte klein und unschuldig ganz im Gegensatz zu dem ausgetretenen Blut, das an der Eintrittswunde den Stoff durchnässte. Ich vermutete sofort, dass hier eine präparierte Patrone im Spiel gewesen war, die im Körperinneren des Toten für maximale Verwüstung gesorgt hatte.

Höchstwahrscheinlich Teilmantelgeschoss.

Den toten Körper auf den Rücken zu drehen, schenkte ich mir. Die Menge an Blut, die unter seinem Körper hervorgequollen war und den sandigen Boden einfärbte, sprach Bände. Dafür war eine Menge Flüssigkeit nötig gewesen. Den grausamen Anblick des klaffenden Kraters in seiner Brust konnte ich mir auch so lebhaft vorstellen. Ich kannte solche Wunden aus meiner Dienstzeit. Robert Dunbar war nicht mehr zu helfen. Und das versetzte mir einen Stich ins Herz.

Ich erinnerte mich dunkel daran, dass man mir während meiner Zeit als Oberkommissarin bei der Kölner Kripo nachsagte, ich sei hartgesotten, wenn es einen Leichenfund gab. Tote und ihre Auffindesituation zu betrachten, erweckte in mir den Sportsgeist.  

Die Opfer hatten es ja schließlich hinter sich! Sie litten nicht mehr. In Mitleid zu zerfließen, war wenig hilfreich. Hinderte nur an der objektiven Beurteilung. 

Aber den alten Dunbar hatte ich im Gegensatz zu meinen dienstlichen Opfern persönlich gekannt. Dazu kam, dass ich ihn und seine etwas schrullige Art gemocht habe. Sein Leben mal eben so abzukürzen, fand ich, hatte er einfach nicht verdient. 

»Du hast deinen Tod sicher nicht kommen sehen«, sagte ich leise, als müsste ich Robert Dunbar eine Erklärung für seinen Zustand liefern. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke, schoss mir durch den Kopf. Dabei blickte ich gewohnheitsmäßig entgegengesetzt zur Fallrichtung seines Körpers auf die Stelle, von wo der Schuss wahrscheinlich abgegeben worden war. An dem dichten Unterholz am Saum des Hügels, von dem ich soeben heruntergestiegen war, blieben meine Augen hängen. Von dort bis zum Toten betrug die Entfernung bestimmt einhundertfünfzig Meter, schätzte ich. Damit war ein Flintenschuss am naheliegendsten.

AlsoJagdunfall oder geplanter Mord?

Automatisch wechselte ich von Betroffenheit in den Spurensuche-Modus. Ich beschloss, das Buschwerk in diesem Bereich näher unter die Lupe zu nehmen, mit der gebotenen Vorsicht selbstverständlich. Denn ich durfte schließlich keine Hinweise verfälschen, die die Polizei später zu unrichtigen Schlüssen veranlasste.

Gelernt ist gelernt, nicht wahr, ätzte ich in Gedanken über mich selbst.  Doch für den alten Dunbar konnte ich ohnehin nichts weiter tun und mein Mobiltelefon befand sich, wie üblich, zu Hause. Da kam es auf die fünf Minuten, die er länger im Gras liegen würde, auch nicht mehr an.

Umgehend erhob ich mich und überquerte rasch in leicht gebückter Haltung die Grasfläche, weil ich mich in aufrechter Position einfach noch unbehaglicher gefühlt hätte. Natürlich war dieses Gefühl unlogisch. Als ob es einen Unterschied für einen potentiellen Angreifer machte

Aber sag das mal deinem Gehirn! Mein Magen begann sich trotzdem wieder zusammenzuziehen. Dieser Gedanke -Wie auf dem Präsentierteller- ließ nicht locker und meine Augen versuchten hektisch, alles zwischen Hügelsaum und Strand im Blick zu behalten.

Verdammt, komm endlich runter! Wenn es jemand auf dich abgesehen hätte, wärst du schon längst erledigt.

Der Druck im Magen minderte sich etwas, doch beruhigter durchzuatmen gelang mir nicht. Ein vages ungutes Gefühl blieb.

Als ob mich jemand beobachtete.

Allerdings hinderte mich dieses Unbehagen nicht an meinem Tun. Instinktiv ahnte ich, dass der Täter nach seinem Schuss das Kap des Beinn umrundet hatte, was bei Ebbe trockenen Fußes möglich war. Denn auf der abgewandten Seite des Hügels existierte noch ein weiterer Pfad, auf dem man die Anhöhe wieder emporsteigen und zurück zur Landstraße 8008 gelangen konnte. Auf die Art wäre es dem Täter durchaus möglich gewesen, den Tatort zu verlassen, ohne mit dem Tod von Mr. Dunbar in Verbindung gebracht zu werden. Ganz anders, als wenn er es über den Hohlweg versucht hätte. Falls er dort jemandem begegnet wäre, hätte ihn das zwangsläufig verdächtig gemacht.  

Die karge Felsklippe auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht dagegen konnte ich als möglichen Fluchtweg getrost außen vor lassen. Sie kragte nämlich so weit ins Meer hinaus, dass sich ihr Kap ständig im Wasser befand und ihre Flanken lediglich von einem Freeclimber bezwungen werden konnten.

Abrupt blieb ich kurz vor dem Unterholz stehen und riss den Kopf herum in Richtung Meer. Ich hatte im Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen und spürte sogleich, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.

Hinter den Felsabbrüchen, die irgendwann mal von der Klippennase auf den Strand gestürzt waren, am Ende des Buschwerks...da war was. Mir schien so, als ob jemand blitzschnell seinen Kopf eingezogen hätte.

In Deckung hinter die Felsen.

Hatte ich richtig gesehen oder spielte mir mein Gehirn mal wieder einen Streich? Vielleicht hatte ich mich doch nicht zu Unrecht beobachtet gefühlt.

Minutenlang starrte ich auf die Felsbrocken und wartete darauf, dass sich die Bewegung wiederholte. Als das jedoch nicht geschah, schüttelte ich diesen Gedanken unwillig ab.

Vielleicht eine Möwe.

Nichts Ungewöhnliches also. Es mussten schließlich seit dem Schuss mindestens fünfzehn Minuten vergangen sein. Der Täter war längst über alle Berge, versuchte ich meine Anspannung weiter herunterzufahren, wandte mich jedoch wie unter Zwang vom Unterholz weg in Richtung Meer, immer am Fuß des Hügels entlang. Mein Argwohn behielt trotzdem die Oberhand und meine Blicke hielten permanent nach irgendeiner Bewegung in der Bucht Ausschau.

Nach vielleicht einhundert Metern veränderte sich der Boden unter meinen Füßen, ging von Gras mehr und mehr in fast weißen, äußerst feinkörnigen Sand über, den ich so sehr liebte und der diesen Küstenabschnitt um Morar so einzigartig in Schottland machte.

Leicht erschrocken registrierte ich, dass die Wellen bereits die ersten Ausläufer der Felsabbrüche erreichten, die bei Niedrigwasser weit auf dem Trocknen lagen. Die Flut hatte eingesetzt und war schon fast auf dem Höchststand. Der Strandabschnitt, den ich mir angucken wollte, würde sehr bald überspült sein.

Aber dann entdeckte ich, was mein Instinkt bereits gewusst hatte, und triumphierte im Stillen. Fußabdrücke, frisch hinterlassen und deutlich eingegraben im durchfeuchteten Sand.   

Könnte also vorhin durchaus ein Kopf gewesen sein.

Doch nun erschreckte mich dieser Gedanke nicht mehr, denn jetzt hatte sich das Gefühl des Beobachtetwerdens verloren. Wer auch immer da gewesen war, er war weg. Trotzdem hieß es, sich wegen des aufziehenden Wassers zu beeilen, wenn mir die Spuren noch zu irgendwas nützlich sein sollten. Nur, wie sicherte man sie ohne Kamera und Papier? Jetzt war schnelles Improvisieren angesagt.

Vorsichtig schob ich meinen rechten Fuß auf die Höhe eines rechten Schuhabdrucks auf dem Strand. Dann belastete ich das Bein mit meinem gesamten Körpergewicht. Dasselbe wiederholte ich einen Schritt weiter mit dem linken Fuß. Dann hüpfte ich ein Stück neben die Fährte, damit kein Sand hineinrieseln und den Abdruck undeutlicher machen konnte, und begann die verschiedenen Tritte miteinander zu vergleichen.

Als erstes fiel mir auf, dass sich die Schuhe des Täters fast doppelt so tief in den Sand hineingebohrt hatten wie meine. Die Person, die hier vor wenigen Minuten hergelaufen war, musste also ein wesentlich höheres Körpergewicht als ich haben. Die Abdrücke waren auch länger. Nun, meine Schuhgröße kannte ich. Aber wie viele Nummern war der Schuh des Schützen größer? Ich schätzte etwa anderthalb Fingerglieder meines rechten Zeigefingers.

Zu ungenau. Bei Größenschätzungen kann man sich verdammt vertun.

Ich begann, meine Hosentaschen zu durchwühlen. Ich benötigte ein Taschentuch, einen Zettel, irgendetwas für den Größenvergleich. Da ertasteten die Finger den Graphitstift in der Gesäßtasche meiner Jeans und ich zog ihn verdutzt heraus. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich ihn im Eifer des Gefechts da reingesteckt hatte. Wie ich ihn nun für einen Moment sinnend betrachtete, bemerkte ich auch nebenbei die unübersehbaren Spuren von silbrigem Staub in meinen vom Zeichnen verschmierten Handflächen.

Dann machte ich mich daran, den Stift so zu positionieren, dass er den Längenunterschied markierte, ausgehend vom vorderen Rand meines Sohlenabdruckes bis zur Spitze des Abdrucks vom Täter. Nun machte ich noch eine Markierung an die entsprechende Stelle des Stiftes, was mit dem Fingernagel mühelos zu bewerkstelligen war, und hatte somit ein Utensil geschaffen, mit dem ich zu Hause die Schuhgröße des Abdrucks ganz exakt ermitteln konnte. Ich brauchte lediglich die markierten Zentimeter des Stifts zu meiner Schuhgröße hinzuaddieren.

Nachdem ich nun das Wichtigste erledigt hatte und mein Messinstrument wieder in der Jeanstasche geborgen war, vergewisserte ich mich rasch, dass die auflaufende Flut mir noch ein paar Minuten Zeit ließ, mich den weiteren Abdrücken des Schützen zu widmen. Denn mir war aufgefallen, dass dessen Sohlenflächen nicht gleichmäßig in den Sand gedrückt wirkten. Die Innenkanten waren merklich tiefer eingesunken als die Außenseiten. Ebenso war das Rippenmuster der Sohle, typisch für Sneaker, in diesem Bereich deutlich abgeflacht und weniger klar gezeichnet. Ich begutachtete wegen dieser Eigenart noch weitere Abdrücke, die sich um das steile Klippenende des Beinn herum fortsetzten. Und auch dort wiederholten sich diese Besonderheiten.

Nachdenklich blieb ich stehen und fasste gedanklich zusammen, was ich innerhalb weniger Minuten in Erfahrung gebracht hatte.

Schon interessant, was Schuhabdrücke zu erzählen haben, wenn man nur genau hinschaut.

Dabei betrachtete ich sinnend die abgebrochenen Felsstücke am Strand und die zwischen ihnen aufgespülten Sandbänke.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sich jetzt vollkommen verloren. Ich war sicher, momentan die einzige lebende Seele in dieser Bucht zu sein. Vielleicht hatte ich mir die Bedrohung vorhin wirklich nur eingebildet. Meinem Kopf war schließlich nicht mehr hundertprozentig zu trauen. Doch fühlte sich mein Verstand nun wieder völlig in der Lage, die Oberhand zu übernehmen.

Hier waren eindeutig die vor wenigen Minuten hinterlassenen Spuren einer einzelnen Person zu sehen. Wenn diese Person etwas mit dem Tod von Robert Dunbar zu tun hatte, und es sprach vieles dafür, war sie wegen der Länge ihrer Füße groß, sehr wahrscheinlich männlich, mindestens achtzig Kilo schwer und ihre Schuhgröße bald kein Geheimnis mehr.  Außerdem war sie stark x–beinig, trug Sneaker und besaß eine Flinte.

Jedoch sah ich keine Veranlassung, ihr um das Kap herum zu folgen, geschweige denn an der Landstraße nach so einer Person Ausschau zu halten. Denn ich war keine Ermittlerin mehr und das aus gutem Grund. Allerdings konnten die Fakten, die ich gesammelt hatte, bevor die Flut alles verwischte, für die hiesige Polizei durchaus hilfreich sein. Ich beschloss, dass es Zeit wurde, sie zu informieren.

Daher drehte ich nun um und schritt zügig quer durch die Bucht auf den Hohlweg zu. 

Zu diesem Zeitpunkt vermutete ich noch in keinster Weise, dass dieser selten schöne Junitag noch mehr Aufregung bringen sollte.

Kapitel 2 Ein Chief Superintendent

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Der wohlige Sonnenschein, der sich den ganzen Tag ohne den Hauch einer Wolke über Schottland ergossen hatte, zerfiel mittlerweile in fast waagerechte Strahlen, die die sattgrünen Hänge der Highlands unwirklich aufleuchten ließen, während ich mich leicht schwankend die letzten Schritte bis zu meinem Cottage schleppte. Ich war völlig erledigt. Meine Malutensilien hatte ich im Wagen, der gewöhnlich am Ende der Zufahrt parkte, liegen gelassen.

Endlich zu Hause.

Dieser Gedanke schoss mir immer durch den Kopf, wenn ich das weiß getünchte Cottage, dessen Mauern aus grobem Stein geschichtet waren, betrachtete. Schon als ich es das erste Mal erblickt hatte. Mein Zuhause. Ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich jemals ein anderes Haus besessen hatte. Damals, in der Nähe von Köln. Diese dichtest besiedelte, laute Gegend mit viel zu viel Verkehr und schlechter Luft. Wie hatte ich das nur so lange dort aushalten können?

Das war in einem anderen Leben, schob ich diesen Aspekt schnell weg. Und zu Hause hatte ich mich dort auch nie gefühlt. Jetzt reichte mir ein Leben in Morar mit seinen rund achtzig Bewohnern. Der Ausblick von meinen Fenstern auf die gleichnamige Bucht mit ihren weißen Strandsäumen rundherum war mir Spannung genug. Daran konnte ich mich einfach nicht sattsehen.

Aber jetzt benötigte ich dringend eine Wanne mit heißem Wasser. Meine Knochen taten mir weh. Und dann nichts wie ab auf die Couch und sich vom Fernseher bedudeln lassen, nahm ich mir vor. Für heute reichte es. Ich hatte das Gefühl, mein Rückgrat würde gleich durchbrechen.

Wie oft war ich an diesem Tag wohl die Hänge rauf- und runtergestiegen?

Nach meiner Inspektion der Salzwiese und des Beinn-Kaps war ich zum Häuschen von Moira Galbraith gelaufen, resümierte ich, direkt an dem kleinen Parkplatz neben der schmalen Landstraße 8008 gelegen, auf dem der uralte dreirädrige Reliant Regal Supervan von Mr. Dunbar als einziges Auto stand und vergebens auf seinen Besitzer wartete.

Wie konnte er dieses Vehikel nur so lange vor der Verschrottung bewahren?

Von Moira aus verständigte ich die nächste Polizeistation im benachbarten Mallaig, denn Morar, obwohl fünf Meilen entfernt, gehörte als Ortsteil in deren Zuständigkeitsbereich, während mir die alte Dame eine Tasse Tee kochte. Kaffee wäre mir zwar lieber gewesen, aber…besser als nichts.

Dass mir Mrs. Galbraith überhaupt die Tür geöffnet hatte, war in dieser Gegend eigentlich nicht selbstverständlich. Man war zwar freundlich und hilfsbereit zu den wenigen Touristen, die die Gegend entdeckten, jedoch äußerst zurückhaltend, wenn sich ein Fremder in ihrer Gegend anzusiedeln gedachte. Ich erklärte mir dies durch die dünne Bevölkerungsdichte hier. Man musste vorsichtig sein und baute daher besser auf den bekannten Nachbarn.  Wahrscheinlich hatte ich es nur meiner Verwandtschaft mit Andrew McPherson, dem Mann meiner Cousine, zu verdanken, dass ich in Morar nicht nur geduldet, sondern auch akzeptiert wurde. Denn diese Tatsache hatte sich schnell herumgesprochen.

Dann war ich mit den eintreffenden Beamten zurück zur Salzwiese gelaufen und während die Constables den Tatort sicherten, zusammen mit dem Police Chief Superintendent abermals die schwierigen achtundachtzig Meter des Beinn an Achaidh bis zu meinem Aussichtspunkt hochgestiegen, von wo aus ich den alten Dunbar entdeckt hatte.

Das heißt, zunächst hatte ich mich mit Chief Inspector Flynn Lockwood unterhalten, war jedoch mit meinen Schilderungen noch nicht weit gekommen, als ein Chief Superintendent die Bühne, sprich den Strand, betrat. Er trug die schwarze Uniform korrekt zugeknöpft, darunter ein strahlendweißes Hemd samt Krawatte sowie die dazugehörige Schirmmütze auf dem Kopf trotz der herrschenden warmen Temperaturen. Von Kopf bis Fuß wirkte der vielleicht Anfang Fünfzigjährige wie eine Respektsperson mit der Ausstrahlung von Fitness und Stärke eines naturgegebenen Anführers und war sich dessen auch voll bewusst. Sein dunkles Haar wies erste dekorative graue Stiche unter dem Mützenrand auf. Dadurch gewann sein Gesicht an Attraktivität. Ganz anders als bei einer Frau, die dadurch immer den Touch einer Oma erhielt. Und seine Augen sprühten nur so vor Energie.

Ich konnte die Verwirrung erkennen, die sein Erscheinen auf die übrigen Beamten auslöste. Anscheinend war es nicht gängige Praxis, dass der Chef der Polizeibehörde von Mallaig persönlich am Tatort erschien. Jedenfalls unterbrach der Chief Superintendent meine Befragung, indem er den Chief Inspector barsch aufforderte:

»Lockwood, kümmern Sie sich um die Schafe. Die könnten Spuren vernichten.«

Der Angesprochene, mit einem durch die Sonne rötlich angehauchtem, weichem Gesicht, zivile Kleidung tragend und mindestens einen Kopf kleiner als sein Chef, guckte komisch, widersprach jedoch nicht und wendete sich ab.

»Nun zu Ihnen«, sprach er mich an und ließ seinen Blick etwas zu lange an meinem bis über die Oberschenkel reichenden und in Hippie-Farben bedruckten Hemd hängen, einem uralten Teil, das ich wegen der zu erwartenden Flecken stets beim Malen trug. »Mein Name ist Chief Superintendent Ian Haggarty und Sie sind…?«

»Ellen Reuter«, antwortete ich.

»Sie zeigen mir jetzt mal, von wo Sie auf den Vorfall aufmerksam geworden sind!«

Nun, ich wusste nicht, was für britische Beamte wichtig war bei der Untersuchung eines Tatortes, dass man mit so einer Nebensächlichkeit begann. Mir verschlug seine Aufforderung kurz die Sprache. Die schottischen Polizisten hatten nicht einmal Kriminaltechniker mitgebracht. Alle Beamten standen mehr oder weniger dumm herum und bewachten den Toten. Vielleicht war ich aber aus Deutschland auch nur an ein effektiveres Arbeitstempo gewöhnt. Im Weggehen hörte ich zumindest die Anweisung von Flynn Lockwood, dass jemand Mr. Dunbars Schafe einfangen und für eine Unterbringung sorgen sollte. War doch ein Anfang.

Schweigend waren Ian Haggarty und ich den Hügel hochgestiegen, bis mein einsam verlassener Klappstuhl vor uns auftauchte. Von dort schaute der Superintendent eine ganze Weile versonnen den Hang hinunter auf seine Beamten, die Hände in den Hosentaschen vergraben und auf den Fußballen vor- und zurückwippend. Ich dachte schon, er wäre derart von dem Ausblick verzückt, dass er mich völlig vergessen hatte, was ich durchaus nachvollziehen konnte, wenn man das Panorama das erste Mal genoss.  Dann drehte er sich plötzlich um, bedachte meine vergessen wirkende Leinwand zwischen der Botanik mit einem schrägen Blick und fragte:

»Sie kommen aus den Niederlanden und machen hier Urlaub?«

»Nein, ich bin Deutsche. Und nein, ich lebe hier,« antwortete ich irritiert und fragte mich gleichzeitig, ob es für die schottischen Ermittler relevant war, woher man kam: Zumal als Zeuge. Galt etwa für Mitglieder bestimmter Berufsgruppen oder Nationalitäten, dass sie grundsätzlich unglaubwürdig daherkamen oder zumindest ein dickes Fragezeichen aufleuchten ließen? Etwa, weil man aus praktischen Gründen Hippie-Klamotten trug?

Zumindest klang seine Frage so in meinen Ohren. Vielleicht war ich momentan aber auch nur etwas überempfindlich in Bezug auf zwischenmenschliche Töne. Doch irgendwie erweckte der Chief Superintendent ein merkwürdiges Gefühl in mir, das ich bei anderen Berufskollegen bisher noch nie wahrgenommen hatte. Möglicherweise war der leicht spöttische Ausdruck in seinen Augen daran schuld.

Aber Mr. Haggarty ließ mir keine Zeit, weiter darüber nachzudenken: »Sie sprechen Englisch wie eine Holländerin,« stellte er fest. Dabei klang er, als sei er absolut von seiner Annahme überzeugt, ganz egal, was ich behauptete. »Können Sie sich ausweisen?«

»Momentan nicht. Sie sehen ja, ich war hier oben zum arbeiten«, sagte ich leicht ungehalten und wies auf die Malutensilien.

»Und wo wohnen Sie?«

»Auf der anderen Seite der Morar-Bucht nahe der A 830, neben Andrew McPherson, dem Klempner«, antwortete ich.

»Nun, bringen Sie unbedingt für das Zeugenprotokoll morgen Ihren Identitätsausweis mit. Und außer dem Schuss haben Sie keine weiteren Beobachtungen gemacht?«, fragte er in Erwartung meines Kopfschüttelns und bereit, sich umgehend zu verabschieden, sobald seine vorgefasste Meinung bestätigt würde.

Doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht, sondern schilderte stattdessen, wie ich die Schuhabdrücke um das Kap des Beinn entdeckte, weil ich mich beobachtet gefühlt hatte. Woraufhin der Leiter der Polizeistation sich windend dazu herabließ, die für ihn unwahrscheinliche Fluchtroute eines potentiellen Täters in Augenschein nehmen zu wollen. Seine Skepsis mir gegenüber war mit Händen greifbar. Auch wenn er sich nicht entsprechend äußerte, spürte ich direkt, dass ihn nichts von meiner Theorie überzeugen würde. Und trotzdem tat ich es mir an, ihn auf der vermuteten Rückzugsfährte des Schützen zum Meer hinunter zu begleiten. Allerdings mussten wir anschließend auf demselben Weg wieder hinauf, da die Umrundung des Kaps und damit der schnellere Zugang zur Salzwiese nun durch den Höchststand der Flut unpassierbar war.

Die ganze Anstrengung wurde leider nur von wenig Erfolg gekrönt. Es gab lediglich einen halben Trittabdruck zu entdecken, den ich jedoch sofort als den des Schützen einordnen konnte, denn er besaß dieselben Sohlenlinien wie die von mir am Strand entdeckten.

Mr. Haggarty schien diesem Umstand jedoch keinerlei Bedeutung beizumessen, was mich nicht überraschte. Auch machte er nicht den Eindruck, enttäuscht zu sein Vielleicht hatte er sogar damit gerechnet, nichts Bedeutendes vorzufinden, weil er meinen Erzählungen ohnehin nicht glaubte. Jedenfalls hielt er es für zu irrelevant, einen Gipsabdruck von dieser Teilsohle ausgießen zu lassen.

Wie wollte er denn so den Täterkreis einengen, fragte ich mich zunehmend durch den Superintendenten verstört, hielt jedoch mit meiner Meinung über die offensichtlich andersartigen Gepflogenheiten der Polizeiarbeit zurück. Aber gut…das war auch nicht mehr meine Aufgabe.

Als wir beide mühsam atmend wieder oben auf dem Hügel angelangt waren, wiederholte Mr. Haggarty zum Abschied seine Aufforderung, am nächsten Tag meine Beobachtungen bei dem Chief Inspector zu Protokoll zu geben, nicht ohne mich noch eines leicht hämischen Seitenblicks zu bedenken. Keine Ahnung, ob ich den Eindruck erweckte, ich könnte meine Zeugenaussage bis dahin vergessen haben, oder was ihn dazu veranlasste. Jedenfalls entledigte er sich sodann seiner tadellosen schwarzen Uniformjacke, warf sie lässig über die linke Schulter und lockerte den Knoten des Binders, bevor er zu seinen Männern hinunter in die kleine Bucht trottete, um sie noch ein wenig durch die Gegend zu scheuchen, wie ich vermutete. 

Irritiert mit dem Kopf schüttelnd sah ich ihm hinterher. Dann klaubte ich meine Zeichenutensilien sowie das Klappstühlchen zusammen und machte mich meinerseits auf den Heimweg. Das hieß, den Beinn hinunter, dann durch das Viehgatter, das den Wanderweg von der Landstraße abgrenzte, und dort in mein geparktes Auto.

Doch ich war noch viel zu aufgekratzt, um direkt nach Hause zu rollen. Ein zügiges Tempo ließ die enge, unübersichtliche B 8008, die sich um den Beinn bis zur Morar-Bucht schlängelte, ohnehin nicht zu. Dazu saß ich für Großbritannien auf der verkehrten Fahrerseite. Mein zehn Jahre alter Ford hatte mir jedoch schon in Köln zuverlässige Dienste geleistet. Deshalb hatte ich ihn bei meinem Umzug mit hierhergebracht. Nichts gegen englische Autos. Mit dem Linksverkehr hatte ich mich auch mittlerweile arrangiert, aber für eine Gangschaltung mit der linken Hand brauchte ich noch immer volle Konzentration. Ab und zu übte ich den Umgang mit Babsis Wagen. Oder dem von Derek. Aber mit der Zeit musste es mir erst noch in Fleisch und Blut übergehen, mit einem britischen Fahrzeug wie selbstverständlich zu fahren.

 

2

Bei Babsi, meiner Cousine, machte ich daher halt. Ihr Haus befand sich nur etwa zweihundert Meter von meinem eigenen kleinen Cottage entfernt, war jedoch um einiges größer als meines und mit drei kleinen Nebengebäuden erweitert. Aber unsere beiden Wohnstätten befanden sich an derselben fünfhundert Meter langen Zufahrt, die unmittelbar hinter der Morar-Bucht von der Landstraße nach Mallaig abzweigte. Wir waren also direkte und einzige Nachbarn.

Bärbel McPherson, genannt Babsi, hatte vor etwa zwanzig Jahren Andrew, einen schottischen Klempner mit eigener Werkstatt, geheiratet und war ihm in den hohen Norden Großbritanniens gefolgt. Ich hatte meine nur ein halbes Jahr jüngere Cousine einige Male besucht, als ich noch in Köln lebte, und war sofort von dieser Gegend an der Westküste Schottlands hingerissen gewesen. Auch mit Andy verstand ich mich auf Anhieb. Durch seinen Beruf, der ihn in die verschiedensten Haushalte führte, war er stets auf dem Laufenden, wenn irgendwo was los war. Und er konnte mit völlig ernsthafter Miene die komischsten Geschichten von seinen Erlebnissen berichten.

Als ich dann plötzlich Witwe wurde und darüber nachdachte, das für mich viel zu große Haus in Deutschland zu verkaufen, war es Andy, der mir vorschlug, in die Highlands umzuziehen, und nach einer Wohnung für mich Ausschau hielt. Doch letztendlich vollzog ich diesen Schritt in ein völlig neues Leben erst, nachdem ich bei der Kölner Kripo gekündigt hatte.

Nach der Geschichte.

Anstelle des nicht mehr zu leistenden Polizeidienstes hatte man mir nämlich vorgeschlagen, irgendeinen Job in der Verwaltung anzutreten. Geht gar nicht! Nur noch Innendienst und mir am Schreibtisch den Hintern plattsitzen, musste nicht sein. Dann wollte ich es lieber zur Abwechslung als professionelle Kunstmalerin versuchen, obwohl ich das Bildermalen bis dahin nur als Hobby betrieben hatte. Durch die Witwenrente, die ich nach dem tödlichen Unfall meines Mannes bezog, war mein Lebensunterhalt ohnehin sichergestellt. Ich riskierte also nichts.

Als ich nun Babsis Wohnküche betrat, war Andy noch nicht von seiner Tour zurück. Ich hockte mich auf die Eckbank so vor das Fenster, dass mich die Sonne nicht blenden konnte, für diesen Tag hatte ich genug UV-Licht abgekriegt, und legte die Beine hoch. Babsi kochte Kaffee, den guten deutschen, den sie von ihrem letzten Besuch bei den Eltern aus unserer Heimat mitgebracht hatte, platzierte ein Tellerchen mit Shortbread auf den Tisch, und setzte sich zu mir. Die Riesenschnauzerhündin Molly hatte es sich schon längst an meiner Seite gemütlich gemacht, den Kopf auf den Vorderpfoten abgelegt, jedoch mit herumwanderndem Blick, als ahnte sie, dass es gleich spannend wurde. Dann erzählte ich von dem Vorfall am Beinn an Achaidh.

Natürlich unterhielten wir uns in unserer Muttersprache, wenn wir unter uns waren, meine Cousine und ich. Wir empfanden es beide als angenehm, gelegentlich so reden zu können, wie uns der Schnabel gewachsen war, und die gemeinsame Sprache verstärkte die Vertrautheit, die zwischen uns ohnehin schon seit frühester Kindheit bestand. Ihr Vater war der Bruder meiner Mutter, auch wenn sich die Familienähnlichkeiten sehr in Grenzen hielten, was uns Cousinen spaßeshalber zu der Spekulation veranlasst hatte, dass Oma einen Seitensprung gewagt haben könnte.   

Babsis und meine Geburt lagen nur ein wenige Monate auseinander. Doch von Anfang an blieb sie immer einige Zentimeter kleiner als ich bis zu meinen heutigen Eins Zweiundsiebzig. Und sie war dunkelhaarig und blauäugig wie ihr Vater, im Gegensatz zu meiner blonden Mutter, deren Haar und braune Augen ich geerbt hatte.

Auch meiner Cousine war der alte Dunbar gut bekannt und sie erschrak nicht weniger über seinen Tod als ich selbst. Allerdings schalt sie mich anschließend wegen meines Vorpreschens in der Bucht.

»Verdammt, Ellen! Musst du erst wieder in Flammen stehen, bevor du vernünftig wirst? Es laufen doch mittlerweile so viele Irre durch die Weltgeschichte und begehen abartige Dinge, so wie auch dein Attentäter in Köln. Mensch, ich muss dir doch nicht sagen, wie krank unsere Gesellschaft geworden ist. Wie konntest du nur hinter dem Schützen herlaufen?«, schimpfte sie.

Natürlich war es in der Gedankenlosigkeit von Unbeteiligten mein Attentäter, schoss mir ärgerlich durch den Kopf, obwohl dieser Mensch damals auch anderen Leuten genau das gleiche angetan hatte wie mir. Vor knapp drei Jahren hatte er sich zur Aufgabe gemacht, wildfremde Menschen nach seinem Gutdünken aus einer Menge herauszupicken, ihnen Molotow-Cocktails vor die Füße zu knallen, um dann aus sicherer Entfernung zuzuschauen, welches Entsetzen er damit auslöste. So geriet auch ich zu seiner Beute, als ich zufällig in einem gut frequentierten Schnellrestaurant am Kölner Hauptbahnhof essen wollte. Er war mir aufgefallen, weil er, bekleidet mit einem ausgebeulten, schmierig wirkenden Trenchcoat, mit auffällig hektischen Bewegungen in einer Ecke des Schnellimbisses herumhantierte. Doch außer mir schien ihn niemand anderes zu bemerken oder man ignorierte ihn bewusst.  Einer der vielen psychisch Kranken dieser Stadt, die sich selbst überlassen blieben.

Ich ließ ihn nicht aus den Augen, fixierte zwischen den Bissen in meinen Burger seinen Rücken, bemerkte einen wirren, ungepflegten dunklen Haarschopf. Leider verdeckte sein Mantel, was er da eigentlich trieb. Aber als er sich plötzlich umdrehte, starrte er mit weit aufgerissenen, irren Augen direkt in mein Gesicht. Für einen kurzen Moment registrierte ich noch große Innentaschen im Futter der offenen Mantelschöße, aus denen mehrere Flaschenhälse hervorlugten. Doch noch ehe ich richtig begriff, splitterte etwas zu meinen Füßen unter dem Tisch, an dem ich saß, und gleichzeitig schossen Flammen an meinen Beinen hoch. Ich versuchte, mich blitzschnell zwischen Esstisch und Stühlen heraus zu schälen, fummelte mit fliegenden Fingern an meinem Holster unter der Jacke und schlug gleichzeitig auf meine Hosenbeine ein.

»Ist ja gut, Mama«, versuchte ich Babsi und gleichzeitig mir selbst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dabei konnte ich mir nicht verkneifen, kurz mit den Augen zu rollen. Doch wahrscheinlich war es eher meiner Erschöpfung geschuldet, dass ich momentan einfach keine Lust dazu hatte, mein Vorgehen mit Babsi zu diskutieren. Man musste schließlich wegen solcher Vorfälle nicht grundsätzlich nur das Übel auf unserem Planeten sehen und allem und jedem misstrauen, obwohl ich meiner Cousine vielleicht gestern noch zugestimmt hätte.

Dennoch tat es gut zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um mich sorgte. Und auf meine Cousine und ihren Mann konnte ich mich stets verlassen.

»Trotzdem bitte ich dich, über meine Spurensuche nicht zu sprechen. Auch nicht Andy gegenüber. Wenn es einen Mordanschlag auf den alten Dunbar gab – und wie gesagt, es könnte sich auch nach wie vor um einen Jagdunfall handeln – will ich nicht, dass der Schütze weiß, was ich über ihn herausgefunden habe. Ian Haggarty, das ist der Chief Superintendent, interessieren die Spuren irgendwie nicht besonders. Warum, weiß der Geier! Ich bin gespannt, wie meine Erkenntnisse morgen bei dem Chief Inspector ankommen.«

Wir hatten noch eine Weile herumspekuliert, bis mir fast die Augen zufielen, und ich beschloss, endlich nach Hause zu gehen.

 

Jetzt hatte ich die Haustür zu meinem Cottage erreicht und schlich ermattet daran vorbei. Den Schlüssel dafür hatte ich ohnehin nicht mitgenommen. Unnötiger Ballast. Dafür hatte ich die Hintertür offengelassen. Wie meistens.

Ich bog um die Hausecke und erstarrte.

 

Kapitel 3 Mike

Vor dem kleinen verglasten Wintergarten, der gerade genug Platz für zwei Stühle bot, um von dort auf das Meer zu blicken, stand ein Auto mit Aufkleber im Heckfenster von einer Autovermietung aus Glasgow.

Scheiße. Besuch, dachte ich und blies mühsam beherrscht die Backen auf. Das konnte nur Mike sein, mein derzeitiger Freund, und mir stand schlagartig der Anblick vor Augen, den ich augenblicklich bot: eine Frau, der das Leben schon einige Spuren ins Gesicht gegraben hatte, in durchgeschwitzten Klamotten, schmutzig und völlig vom Seewind zerzaust. Also in keinem wirklich vorzeigbaren Zustand.

Was soll's! Sein Problem, wenn er hier so unerwartet auftauchte.

Ich trat durch den Wintergarten und öffnete die Tür zum anschließenden Wohnzimmer.

Da stand er. Michael Aldridge, wie er leibt und lebte, seine einen Meter neunundachtzig gekleidet in einer sündhaft teuren Jeans und einem einfach geschnittenen weißen Shirt, dem nur Insider ansahen, dass es aus einer namhaften Boutique in London stammte, und welches Mikes markanten Kopf mit dem dunkelbraun gewellten Haar, das einen Hauch rötlich schimmerte je nach Lichtschein, beeindruckend zur Geltung brachte.

Ich verharrte abwartend in der Tür, denn der Blick seiner graublauen Augen unter den dichtgerahmten, dunklen Wimpern richtete sich zornig auf mich. Zwei senkrecht eingegrabene Falten zwischen den kräftigen Augenbrauen, die seinem Gesicht stets einen leicht skeptischen Ausdruck verliehen, hatten Zuwachs von einer dritten erhalten. Himmel, ich liebte dieses Gesicht. Es war so verdammt ausdrucksstark.

»Mike, mein Lieber! Was tust du denn hier?«, fragte ich in lächelnder Erwartung, dass er mich sogleich in die Arme nehmen würde. Ich hatte ihn vor etwa einem Jahr auf einer After-Show-Party in der Eglington Street in Glasgow kennengelernt, wo Derek mit seiner Band aufgetreten war. Der Anlass war ein neues Album, das er herausgebracht hatte, und dieser Auftritt das dazugehörende Tourneeende durch Westeuropa.

Diese Party war kein Rock'n'Roll. Solche wilden Zeiten hatten wir alle längst altersmäßig hinter uns gelassen. Die langen Haare waren mangels Masse bis auf Stoppeln gekürzt, der Sex bestand aus anwesenden Ehefrauen oder langjährigen Freundinnen der Musiker und die Drogen aus maximal ein bisschen Alkohol und Zigaretten. Man hatte seine Erfahrungen Ende der Neunziger, Anfang Zweitausender gemacht und wusste, dass man seine Sinne zusammenhalten musste, wenn man in diesem Business seinen Lebensunterhalt verdienen wollte. Einzig die Musik, die man spielte, war noch genauso aufregend wie früher, füllte zwar keine großen Stadien mehr, fand jedoch immer noch zahlreiche Liebhaber.

Mike befand sich zur selben Zeit zusammen mit seinen Londoner Theaterkollegen anlässlich eines Gastauftritts ebenfalls in der Stadt. Wer die Schauspieler damals zu der Party eingeladen hatte, habe ich nie herausgefunden. Allerdings verdächtigte ich den Veranstalter.  Fakt war, Mike und ich hatten uns angesehen und sogleich ineinander verguckt. Es zog uns unnachgiebig zueinander wie die Motten zur Lampe, und so landeten wir noch in derselben Nacht in seinem Hotelbett. Selbst am nächsten Morgen hatte sich diese Anziehungskraft in keinster Weise abgekühlt, so dass Mike vorschlug, unser Treffen bei nächster Gelegenheit zu wiederholen.

Ich erinnerte mich gut, wie Derek und seine Freundin Anna mich auf der Rückfahrt von Glasgow mit dieser Affäre aufzogen, weil es während meiner Schottlandzeit bis dahin noch keiner geschafft hatte, in mein Bett zu steigen. Aus ihren Frotzeleien schloss ich, dass mein fehlendes Liebesleben anscheinend schon öfter Gesprächsthema war.

»Da muss erst einer vom National Theatre kommen, um unsere Nonne zu beeindrucken.«

So bezeichnete man mich also, wenn ich nicht dabei war.

»Einer von der Royal Academy.«

»Of Dramatic Art, nicht zu vergessen.«

»Ein Shakespeare-Preisträger.«

»Sogar Golden Globe Award-Gewinner war er. Darunter tut sie es nicht!«

»Und hast du diesen intensiven Blick bemerkt, den er draufhat? Wow, den lässt keine Frau kalt«, bemerkte Anna anzüglich.

Ich sah die beiden mit großen Augen an und prustete los vor Lachen, denn ich kannte sie gut genug, um ihre Scherze nicht misszuverstehen. Als sie jedoch nicht mit einstimmten, stutzte ich: »Wie? Echt jetzt?« Ich hatte nämlich keine Ahnung, dass Mike so ein dekorierter Schauspieler war.

Derek und Anna nickten nur und grinsten wissend.

Auch wenn Anna bereits angedeutet hatte, dass dieses Kaliber von Mann mindestens zehn Frauen an jedem Finger hatte, rechnete ich ohnehin nicht damit, dass Mike sich wieder meldete, weil er nun einmal in London lebte. Ich sah keine wirkliche Chance für uns beide, auf so eine Entfernung eine Beziehung zu unterhalten.

Doch hier irrte ich. Denn entgegen allen Erwartungen ließ Mike nicht locker. Und ich spielte mit.

Es dauert, solange es dauert.

Mit der Zeit mussten wir sogar feststellen, dass es gar nicht mal schlecht lief. Wir konnten stets dort weitermachen mit dem gegenseitigen Kennenlernen, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten, als ob es nie Unterbrechungen gegeben hätte. Eigentlich ein perfektes Arrangement, fand ich. Jeder führte sein ureigenes Leben, das ohnehin nicht so einfach mit dem des anderen unter einen Hut gebracht werden konnte. Denn ich bevorzugte mein stilles Landleben mit meiner Malerei und wollte ein Wohnumfeld in der Enge Londons dagegen niemals eintauschen, während Mike seine Film- und Theaterrollen oft herumreisen ließen. Dafür war die Hauptstadt als Ausgangspunkt ideal.

Doch statt einer liebevollen Begrüßung polterte er mich nun an:

»Kannst du mir mal verraten, wo du dich den ganzen Tag herumtreibst? Auch wenn wir beide nicht ständig aufeinander hocken, kann ich doch erwarten, dass du gelegentlich mal zu Hause vorbeischaust! Wozu haben wir eigentlich das Smartphone für dich angeschafft, das ich gefühlte tausend Mal angerufen habe? Und als ich endlich das Cottage erreiche, finde ich es hier auf dem Tisch, und es klingelt fröhlich vor sich hin. Du weißt schon, dass ich etliche Stunden für den Weg hierher brauche. Seit zwölf Uhr sitze ich…« Und so weiter und so weiter.

Ich schloss in aller Ruhe die Tür zum Wintergarten hinter mir und schaute interessiert seinem Wutausbruch zu. Das war ganz großes Kino. Ich war fast überzeugt von seiner Darstellung. Die musste er vorher in meinem Wohnzimmer ein paar Mal geprobt haben. Ich nahm das Gerät vom Tisch und checkte die entgangenen Anrufe. Es gab lediglich drei Versuche von ihm, mich zu erreichen. Das dachte ich mir.

»Ich war wohl nicht glaubwürdig, wie?«, fragte er scheinheilig und bedachte mich mit einem intensiven Blick. Ich konnte nicht anders, sobald ich in diese Augen sah, trat auf ihn zu, nahm sein Gesicht zwischen die Hände, und küsste ihn auf den Mund.

»Du warst brillant, ich habe es dir fast abgenommen«, kommentierte ich seine schauspielerische Leistung und küsste ihn abermals. »Aber ich muss jetzt zuerst ins Bad. Dann erzähle ich dir, was mir heute passiert ist. Du wirst es nicht glauben.« Damit ließ ich ihn stehen und eilte zur Treppe, die ins Obergeschoss führte.

»Kann ich nicht mitkommen?«, rief er leicht vorwurfsvoll wie ein schmollendes Kind hinter mir her und ich hielt inne. Der arme Kerl fühlte sich anscheinend nicht ernst genug genommen, weil ich ihm nicht sofort meine ganze Aufmerksamkeit widmete. Vielleicht war ich daran selbst ein bisschen schuld. Dadurch dass wir uns so selten sahen, war bislang jedes unserer Treffen eine Art Ausnahmezustand gewesen.

Ein bisschen tat er mir leid. Aber nur ein bisschen. Ich hatte mir den heutigen Tag auch anders vorgestellt zu verbringen, und ich brauchte dringend ein paar Minuten für mich, um alles ein bisschen sacken lassen zu können.

»Nicht jetzt«, antwortete ich daher bestimmt von den Stufen herunter. »Übrigens, du siehst toll aus mit dem Gestrüpp im Gesicht. Oder ist das auch eine Anspielung auf das lange Warten? Ich finde, es wirkt dadurch noch ausdrucksstärker, wenn es überhaupt noch eine Steigerung für dein Gesicht gibt.«

»Ist wegen der neuen Filmrolle. Wächst seit zwei Tagen.«

»Musst du mir unbedingt von erzählen! Doch du könntest mir vorher einen Gefallen tun. Wärme uns doch eine von den Tupperdosen aus dem Eisschrank auf. Sie sind beschriftet. Ich komme um vor Hunger. Ich brauche höchstens dreißig Minuten.«

Wenig später hockten wir gemütlich im dunkler werdenden Wohnzimmer, jeder mit einer Suppentasse Linseneintopf in der Hand und unterhielten uns. Zum Nachtisch gab es ein Glas Rotwein für Mike und eine Tasse Kaffee für mich. Dazu schleckten wir Eiscreme.  

Mike erzählte mir von einem kleinen Brand im Theater, weswegen die Vorstellungen, für die er gebucht war, für die nächsten vier Tage ausgesetzt werden mussten. Aus diesem Grund, und weil er mich schmerzlich vermisste, hatte er sich entschlossen, den weiten Weg nach Morar auf sich zu nehmen. Er war von London nach Glasgow geflogen, was relativ fix ging, und hatte dann am Flughafen einen Wagen gemietet. Für die Autostrecke am Loch Lomond, an Glencoe und Fort William vorbei bis zu mir hatte er noch einmal weit über drei Stunden gebraucht. Die Strecke war fast hundertachtundvierzig Meilen lang und es gab keine Autobahn, nur kurvige Landstraßen durch die hügelige Landschaft Schottlands. Da musste die Sehnsucht schon immens sein.

Damit waren wir beide redlich geschafft von diesem Tag und hatten allen Grund, alsbald mein Schlafzimmer aufzusuchen.

 

Kapitel 4 Beinn an Achaidh Mhoir

1

In dieser Nacht schlief ich zur Abwechslung tief und traumlos, und als ich während der Morgendämmerung allmählich in die Gegenwart driftete, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der sich sofort festsetzte. Die besten Ideen überfielen mich meistens während der halbwachen Phasen im Bett.

Eigentlich fühlte ich mich bereits ausgeschlafen, versuchte mich aber mit Rücksicht auf Mike, dessen tiefe Atemzüge mich wohlig einlullten, nicht zu bewegen und seinen Schlaf zu stören. Daher entschied ich, die Augen noch etwas zuzumachen.

Doch kaum hatte ich mich vorsichtig auf die linke Seite gedreht, als mich ein weiterer Gedanke durchschoss. Und jetzt war es mit meiner Nachtruhe endgültig vorbei. Ich musste aufstehen. Auf der Stelle. Ich wollte es nicht, aber ich konnte nicht anders.

Vorsichtig stahl ich mich aus dem Bett, zog mich im Badezimmer an und schlich leise in die Küche hinunter. Die Uhr an der Wand zeigte fünf nach fünf. Draußen war es noch dämmrig. Einen Kaffee würde ich noch trinken können. Doch gerade, als ich den Wasserkocher befüllte, tapste Mike nur mit einem Slip bekleidet und auf nackten Fußsohlen in die Küche. Er wirkte noch völlig groggy, besaß allerdings selbst in diesem Zustand nur eine als cool zu bezeichnende Ausstrahlung.

»Himmel, was tust du hier um diese Zeit?«

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken«, sagte ich bedauernd und füllte Espressopulver in einen Becher.

»Du hast mich nicht geweckt. Es war nur plötzlich so leer neben mir. Ich habe dich vermisst. Also, was ist denn los?«

»Mit ist nur etwas siedend heiß eingefallen, das ich überprüfen muss. Geh ruhig wieder ins Bett!«

Jetzt sank er doch tatsächlich vor mir auf die Knie, umfasste liebevoll meine Unterschenkel und streichelte sanft über den Hosenstoff.

»Schmerzen die Narben?«, fragte er mitfühlend. Ich war immer wieder peinlich berührt, wie ein so gutaussehender Mann wie er eine so wenig perfekte Frau wie mich als Partnerin attraktiv fand. Er hatte nicht die leisesten Berührungsängste wegen meiner unübersehbaren Brandmale, mit denen ich mich selbst noch längst nicht abgefunden hatte und von denen ich hoffte, dass sie irgendwann wenigstens blasser werden würden.

Ich schüttelte den Kopf und zog ihn wieder auf die Beine.

»Da ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen!«

»Dann ist es wegen dem Schuss auf den Alten, richtig? Warst du schon immer so ein Terrier?«

Nun, so hatte man mich zwar meines Wissens nach nie bezeichnet, aber der Vergleich gefiel mir irgendwie.

»Vielleicht«, antwortete ich nachdenklich und dachte dabei an meine privaten Ermittlungen zum Tod meines Mannes, weil ich denen von der Berufsgenossenschaft nicht traute. Jeden Einzelnen der Kollegen, die am Ort des Geschehens dabei gewesen waren, hatte ich privat aufgesucht und dabei einige Widersprüchlichkeiten aufgedeckt, die in mir den Verdacht erweckten, dass es sich um keinen zufälligen Unfall gehandelt haben konnte.

Aber Verdacht und Beweise waren zwei Paar Schuhe. Übrig geblieben war davon schließlich und allein ein mulmiges Gefühl.

»Ja…vielleicht… habe ich mich schon immer in Dinge festgebissen, die mir wichtig erschienen. Könnte schon sein.«

»Und was ist es diesmal?«, fragte Mike und seine Nasenfalten, die eigentlich nur verschwanden, wenn er herzlich lachte, vertieften sich. Dann erzählte ich ihm, was mir durch den Kopf gefahren war.

»Das Gewehr ist noch auf dem Hügel«, erklärte ich bestimmt.  Und als ich ihm erläuterte, warum ich das dachte, bemerkte er wie selbstverständlich: »Ich lasse nicht zu, dass du mutterseelenallein da rauf gehst. Ich komme mit.«

»Du versaust dir nur die Klamotten«, versuchte ich ihn abzuwehren. Denn ich brauchte das Alleinsein, um mich in einen Täter hineinversetzen zu können. Dazu musste ich denselben Weg benutzen, ähnliche Gedanken wälzen, die gleichen Örtlichkeiten abwägen wie er. Wie sonst sollte ich auf dem verdammten Hügel ein Gewehr finden?

»Darf ich das bitte selbst entscheiden.« Mikes Entschluss stand fest.

Etwa eine halbe Stunde später erreichten wir mit meinem Wagen das Gatter am Beinn, wo mein gestriger Wanderweg hinauf begonnen hatte, und parkten auf dem Grünstreifen. Zu dieser frühen Stunde war noch nichts los auf der kleinen Landstraße, auch stand kein anderes Fahrzeug irgendwo geparkt. Vielleicht war es nicht so schlecht, dass Mike mitgekommen war, dachte ich. Mir war nämlich eingefallen, dass dies auch für den Schützen der rechte Zeitpunkt sein könnte, seine Flinte heimzuholen.

 

2

»Wir sollten uns möglichst beeilen«, forderte ich deshalb Mike auf, denn ich hatte keine Ahnung, was wir tun sollten, würden wir überrascht werden. Für einen harmlosen Spaziergang war es einfach zu früh.

Zum Glück hatte es in der Nacht nicht geregnet, so dass uns wenigstens nasses Schuhwerk erspart blieb, wenngleich die Luft empfindlich frisch vom Meer wehte. Gut, dass wir die Strickjacken mitgenommen hatten.

Ich war mir sicher, dass das Gewehr nicht auf dem straßenseitigen Hang versteckt worden war. Den Weg den Beinn hinauf legten wir deshalb auch zügigen Schritts zurück. Oben angelangt an der Abzweigung zur Meeresseite schlug ich vor:

»Am besten konzentriert sich jeder nur auf eine Seite des Weges. Nimm du die linke. Falls zugänglich, bewege dich vom Pfad aus in das Dickicht und betrachte die Bäume von der Rückseite. Ich wette, die Flinte hängt hinter irgendeinem Baumstamm.«

»Ihr Sergeant erlaubt sich, zu bedenken zu geben, Frau Kommissar, der Schütze könnte sie ebenso auf den Boden gelegt und mit Laub abgedeckt oder gar eingegraben haben«, bemerkte Mike ein wenig theatralisch und seine Runzelfalten zwischen den Brauen zeigten mir seine Skepsis.

»Nie im Leben!«, spottete ich auflachend. »Du vergisst, er ist Schotte. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Und einem geizigen Schotten ist ein Gewehr viel zu wertvoll, um es einfach so zu verbuddeln.

Und dann denke auch an den Zeitfaktor. Er musste sich zügig vom Tatort entfernen, hatte jedoch damit zu rechnen, auf irgendeinen Wanderer zu stoßen, dem ein Gewehr über der Schulter mit Sicherheit im Gedächtnis bleiben würde. Was macht er also mit dem verräterischen Teil? Außerdem heißt es: Frau Oberkommissarin. Soviel Zeit muss sein!«

»Terrier!«, entgegnete Mike schmunzelnd und lief los.

So arbeiteten wir uns allmählich den Weg zum Strand hinunter, was von meinen Beinmuskeln unwillig quittiert wurde. Sie spürten noch die Anstrengungen des Vortags.

Wir waren schon fast bis auf Meereshöhe hinuntergekommen, beinahe bis zu der Stelle, an der ich den Chief Superintendent auf den halben Schuhabdruck hingewiesen hatte, als es plötzlich von Mikes Seite herüberschallte:

»Bingo! Regie, Musik ab!«

Überrascht riss ich den Kopf aus den Büschen hoch, zwischen denen ich gerade steckte, und rief zurück: »Nicht anfassen!« Dann lief ich zu ihm rüber und betrachtete das Fundstück aus gebührendem Abstand.

Es hing mit seinem Schultergurt und den Lauf zu Boden gerichtet an einer stabilen Astgabel dicht an der Rückseite eines Lärchenstamms, so dass es vom Weg aus nicht zu vermuten war. Genau diese Szene hatte ich mir heute Morgen im Bett vorgestellt.

»Das ist ein Highlander«, rief ich aufgeregt und freute mich über meine noch immer funktionierende Spürnase.

Das Jagdgewehr war ein neuartiges Modell der Marke Howa, ausgestattet mit einem aufgesetzten Nikko-Sterling-Zielfernrohr, und mit einem kryptischen braun-beigen Muster überzogen, so dass es leicht mit den Farben der Umgebung verschmolz.

»Ich habe sowas letztens in einem Edinburgher Geschäft für Jagdbedarf gesehen.« Und ich erinnerte mich, dass es für Teilmantelgeschosse des Kalibers .308 Win, auch als Wildstopper bezeichnet, geeignet war. Genau die Art Munition, die Robert Dunbar niedergestreckt hatte.

»Sieht echt chic aus«, meinte Mike trocken. »Und was machen wir jetzt mit dem Schätzchen, Frau Oberkommissar?«

Das war eine gute Frage. Für einen Anruf bei Flynn Lockwood war es eigentlich noch zu früh am Morgen, er würde noch nicht auf seiner Dienststelle in Mallaig sein. Einen der Constables zu informieren, würde nur Ian Haggarty auf den Plan rufen, der es allem Anschein nach am gestrigen Tag vorzog, den Weg nicht absuchen zu lassen, obwohl ich ihn extra auf diese Fluchtroute des Schützen hingewiesen hatte. Und meine Meinung vermeldete einen weiteren Minuspunkt für den Chief Superintendent, weil er mich aus unerfindlichen Gründen nicht ernst nehmen wollte.

Damit verbat es sich für mich jedoch von vornherein, die Waffe zu bergen. Sonst konnte mir der Chief Superintendent nämlich daraus durchaus einen Strick drehen und behaupten, ich selbst hätte sie dort hingehängt, um meine These des Fluchtweges zu untermauern.

Doch noch ehe ich mich zu irgendeinem Entschluss durchringen konnte, hörten wir rasch näherkommende dumpfe Schritte auf dem Waldweg.

 

3

Wir schauten uns blitzschnell um, doch große Rückzugsmöglichkeiten im weiteren Dickicht zwischen den alten Felsen fanden sich kaum. Uns blieb nichts anderes übrig, als absolut stillzustehen, uns nicht zu bewegen und zu hoffen, dass die wenigen Zweige genügten, unsere Anwesenheit zu verbergen. Doch wenn es der Schütze war, der den Hang herunterkam, würde uns das nichts nützen.

Zu unserer Erleichterung war es der rotblonde Chief Inspector, der auf dem Weg, sich nach allen Seiten umblickend, vorbeilief. Ich stieß die angehaltene Luft aus und trat mit Mike im Gefolge auf den Weg.

Flynn Lockwood fuhr erschrocken herum. Seine dünnen, flaumigen Strähnen verrutschten und entblößten eine halbrunde Haarlosigkeit oben auf seinem rosigen Schädel, was er mit einer gekonnten Bewegung augenblicklich wieder in Ordnung brachte. Er war nur geringfügig größer als ich und schätzungsweise um einiges jünger, etwa Ende dreißig. Sein Körper wirkte schon etwas schwammig und untrainiert. Doch seine hellwachen grauen Augen blickten aus unbewegter Miene und musterten uns.

Anscheinend war er auf dem Weg zum Dienst, denn er trug wie am Vortag Tweed-Jackett und Krawatte über einer graugrünen Jeans und dazu gewöhnliche Straßenschuhe. Warum er um diese Zeit in diesem unpassenden Aufzug auf dem Beinn herumstreifte, ließ in mir ein großes Fragezeichen aufleuchten. Sein Auftauchen war jedoch äußerst willkommen.

»Das ist gut, dass ich Sie hier treffe«, fand auch er und reichte uns die Hand, nachdem ich ihm Mike vorgestellt hatte. »Ich wollte mir noch mal die kleine Bucht ansehen, wo Robert Dunbar zu Tode gekommen ist, da sah ich Ihr Auto unten an der Landstraße. Und ich dachte mir, dafür muss es einen Grund geben, und bin Ihnen auf den Hügel gefolgt.«

Er hat ein Auto am Straßenrand bemerkt, erkannte es als meines und zog daraus seine Schlüsse? Donnerwetter! Sollte der Chief Inspector tatsächlich ein Mensch mit eigenständigem Denkvermögen sein, ätzte es sarkastisch hinter meiner Stirn, die noch längst nicht die unfähigen Polizisten aus Mallaig vom Vortag verdaut hatte. Doch ich antwortete freundlich: »Da haben Sie absolut richtig gedacht. Und wir sind heilfroh, dass Sie es waren, der uns gefunden hat, und nicht der gestrige Schütze.«

Diese Bemerkung verstand Mr. Lockwood nicht, und erst da fiel bei mir der Groschen. Der Chief Inspector hatte keinen Schimmer, was Mike und ich hier eigentlich trieben, und er wusste ebenso nichts von diesem Fluchtweg hier.

Doch warum lief er dann hinter uns her? Etwa aus Instinkt? Oder fiel ihm aus Mangel an Anhaltspunkten, was ich mir unbedingt vorstellen konnte, einfach nichts Besseres ein? Die Polizeistation konnte doch nicht ausschließlich aus Volltrotteln bestehen! Augenblicklich platzte mir der Kragen.

»Hören Sie! Ich weiß ja nicht, wie Ihre übliche Vorgehensweise bei derartigen Delikten aussieht, aber anscheinend kommt es auf Zeugenaussagen dazu auf Ihrer Dienststelle nicht an. Und ich ahnte, dass Sie die Tatwaffe gestern nicht sichergestellt haben, denn ihr Chief Superintendent schien mir nicht besonders zugänglich für meine Beobachtungen. Vielleicht war es ihm auch einfach lieber, dass die Waffe nicht gefunden wird, was weiß denn ich! Ich bin ja nur eine malende Holländerin. Doch ich will, dass der Tod von Mr. Dunbar aufgeklärt wird. Das verlangt mein Gerechtigkeitssinn. Und deshalb sind wir hier.« 

Ich hatte mich derart in Rage geredet, dass mich nun beide Männer verständnislos anblickten. Doch Mike legte sofort besänftigend seinen Arm um meine Schultern.

»Jetzt mal tief durchatmen und dann das ganze nochmal zum Mitschreiben«, meinte er betont ruhig, und ich schaute dankbar zu ihm auf. Er hatte ja recht, wieso ließ ich mich von so einer Lappalie hinreißen. Kein Wunder, dass man mich als dienstuntauglich abgestempelt hatte. Ich verlor einfach zu schnell die Nerven.

»Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch! Das war nicht persönlich gemeint, glauben Sie mir. Als Entschädigung haben wir ein Geschenk für Sie«, sagte ich aufrichtig bedauernd und führte den Chief Inspector hinter die Bäume.

»Sie haben die Tatwaffe gefunden?«, staunte er und riss die Augen ungläubig auf. »Ist ja nicht zu fassen. Kein Wunder, dass wir in der Bucht und auf dem Hohlweg nichts entdeckt haben. Genau aus dem Grund wollte ich mich heute Morgen dort noch einmal umschauen. Ich hoffte, wir hätten etwas übersehen.«

Es stellte sich schnell heraus, dass er dieselben Überlegungen zu einem möglichst schnellen Verbergen der Flinte angestellt hatte wie ich an diesem Morgen im Bett.

»Aber…wie kommt die Waffe denn hierher?«, fragte er etwas irritiert, während er gleichzeitig versuchte, mit dem Smartphone seinen Detective Sergeant zu erreichen. Da ihm das nicht gelang, hinterließ er ihm eine Nachricht. »Sie muss so schnell wie möglich zur ballistischen Untersuchung«, erläuterte er seine Bemühung.

Ich beschrieb in kurzen Sätzen den Fluchtweg des Täters. Wie ich bereits ahnte, hatte Flynn Lockwood keinerlei Information hierzu vom Chief Superintendent erhalten.

»Das müssen Sie mir alles noch einmal ganz genau heute Mittag auf der Polizeistation erzählen. Ich vermute, der Chief hat deshalb nichts gesagt, da ich ohnehin ein Protokoll Ihrer Aussage aufnehmen muss. Am besten so gegen eins?«

Ich nickte zustimmend.

»Na, ich sag mal: Die Polizei

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Silvia Hinske
Bildmaterialien: Silvia Hinske
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8700-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen (Aristoteles)

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