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1. Kapitel

 

 

Was war das denn? Neugierig fixierte ich das astähnliche Gebilde, welches sich oberhalb einer der vielen Sandkegel empor reckte.

"Verdammt, komm da runter!"

Ich riss mich endgültig aus meiner Versunkenheit in die Gegenwart zurück. Wieso musste es auch ausgerechnet heute der weite Weg bis zur letzten Sohle sein, den ich eingeschlagen hatte. Dabei waren doch in den letzten Tagen immer wieder wahre Sturzbäche herunter geregnet. Das hatte ich jetzt davon. Wie das Fell der Hündin aussah...Ich blickte auf meine Schuhe. Auch an denen klebte rundherum ein breites, rotzfarbenes Gemenge aus ockerfarbenem Lehm und schmierigem Ton. Die Treter und den Hund sauber zu bekommen, würde wieder eine Ewigkeit dauern. Ich seufzte ergeben.

Wie auf Eierschalen staksend, damit meine Hosenbeine nicht auch noch in Mitleidenschaft gerieten, näherte ich mich nun diesem einen der wie an einer Schnur aufgereihten, vor kurzem aufgeschütteten mächtigen Erdkegel.

Doch der Hund dachte nicht daran zu gehorchen, zu begeistert war er von seinem Fund. Aufgeregt sprang er um ihn herum, dabei kleine Erdlawinen auslösend, die sich wie ein Schwall Wasser und ebenso lautlos die Hänge herunter schoben, und scharrte und zerrte. Ungefährlich war das nicht. Wie schnell konnte sich ein richtiger Erdrutsch entwickeln und ihn unter sich begraben.

Etwa dreißig bis vierzig Meter über uns drohte ein mächtiger Absetzer, ein Arbeitsgerät, dass den alten Tagebau nach und nach mit Erde verfüllte, in den blassblauen Himmel. Sein Werk war fast vollendet, nur noch dieses kleine, etwa ein halbes Fußballfeld umfassende Stückchen Erde, das einmal Bestandteil der letzten Sohle für den Braunkohleabbau in dieser Mine war, existierte noch, weil Wochenende war und nicht gearbeitet wurde. Dies war auch der Grund, weshalb wir eigentlich hierher gewandert waren. Es war die letzte Gelegenheit, noch einmal die Füße auf diesen mit Braunkohlensplittern durchsetzten Boden zu stellen, einen Hauch von Klüttendreck einzuatmen, bevor er unter hunderten Metern und Millionen Tonnen Erde verschwand.

Ich war schon immer gerne hierher gekommen. Den an den Flanken des Grubenrandes hinab schraubenden Kiesweg hinunter zu laufen, war für mich immer wie das Eintauchen in eine andere Welt gewesen. Doch je tiefer ich heute in den Tagebau abgestiegen war, desto deutlicher waren die Veränderungen zu erkennen, die der Absetzer bereits bewirkt hatte. Nur noch wenig war von der Vegetation übrig geblieben, die sich im Grubengelände ausgebreitet hatte. Am schlimmsten hatte es die Bäume getroffen, da sie, je weiter ich hinunter kam, tiefer und tiefer in aufgekippter Erde steckten. Ihre hellgrün besprossten Wipfel wogten wie zum Trotz in der leichten Frühlingsbrise, so als wollten sie nicht begreifen wollen, dass sie eigentlich schon tot waren,obwohl ihre Stämme bereits gänzlich verschluckt waren. Doch bereits in der nächsten Woche war ihr Kampf definitiv beendet, denn dann würden sie komplett begraben sein.

"Schweinehund! Sofort hierher!“

Meine Stimme an diesem andächtig stillen Ort hörte sich durch die nahen Erdwände merkwürdig gedämpft an. Trotzdem gehorchte Malin endlich. Ich nahm die Hündin an die Leine und blickte wieder hinauf zu dem Aststück. Jedoch konnte ich von hier unten einfach nicht erkennen, warum ein Stück Holz den kleinen Hund dermaßen reizte, dass er sich drei Meter durch losen Sand hoch arbeitete. Er war schließlich nicht blöd.

Meine Neugier war geweckt. Um den Ast einfach zu ignorieren, sah er aber auch zu ungewöhnlich aus. Für meine Schuhe war sowieso Großreinemachen angesagt, also brauchte ich darauf ohnehin keine Rücksicht mehr zu nehmen. Ich wusste genau, wenn ich es jetzt nicht tat, wäre ich spätestens am nächsten Tag wieder hierher gekommen, um nachzuschauen. Ich konnte ja etwas verpasst haben. Außerdem guckte ja niemand zu, der sich darüber wundern konnte, warum eine erwachsene Frau von fünfundvierzig Jahren im Sandhaufen herum klettert wie ein Kind. Da die meisten Bewohner unseres Ortes den alten Tagebau langweilig und öde fanden und ihn deshalb mieden, fand sich erwartungsgemäß auch jetzt nach schnellem Rundblick niemand in meiner Nähe.

Zum Glück steckte mein Ziel nicht noch weiter oben in dem Sandhaufen, sonst hätte ich es mir wahrscheinlich doch anders überlegt. So drückte ich behutsam den rechten Fuß in den losen Sand, um nur keine Erdlawine auszulösen, und belastete ihn dann langsam mit meinem gesamten Körpergewicht. Die zusammengepresste, vom Regen feuchte Erde sackte etwas weg, doch dann hielt der Tritt. Erst dann wagte ich dasselbe mit dem linken Fuß, etwas höher im Hang und versetzt zum rechten. Mein Aufstieg dauerte entsprechend, doch dafür schonte er meine Kleidung. Nun konnte ich den Blick wieder dem Objekt auf der Kegelspitze zuwenden, dem ich bereits ein Stückchen näher gekommen war. War das ein Knochen, fragte ich mich erschrocken, der da etwa zwanzig Zentimeter weit heraus ragte, oder ein Stück Holz, das nur so aussah wie einer? Allein durch Anstarren konnte ich das leider immer noch nicht beurteilen. Mir schien jedoch, dass der im Boden steckende Teil der weitaus größere sein würde. Ich musste noch einen Tritt höher wagen, um es packen zu können.

Nachdem ich meinen unsicheren Stand im Hang einigermaßen gefestigt hatte, reichte ich mit der Hand soeben bis an das begehrte Objekt. Ich umfingerte es und riss daran. Dummerweise zu heftig, denn völlig unerwartet löste es sich ganz leicht aus dem klebrigen Sand. Und ich verlor das Gleichgewicht. Instinktiv ruderte ich wild mit den Armen und meine Füße stapften unkontrolliert in den Erdmassen herum. Zum Glück gelang mir auf diese Art, wenigstens auf den Beinen zu bleiben. Als ich dann jedoch wieder festen Untergrund unter mir hatte, fühlte ich sofort den vom Regen durchweichten Lehm in den Schuhen. Das war mir genug Abenteuer für einen Tag.

Mitsamt meiner Trophäe, die ich während des nicht so vorgesehenen Abstiegs nicht fallen gelassen hatte, und schmierigen, schweren Klumpen an den Füßen stakste ich wie auf Eiern bis zum Rand der Kohlesohle. Dort lagerten als Begrenzung zum Kiesweg einige große Findlinge aus Sandstein, von denen ich mir den geeignetsten als Sitzbank auserkor. Zunächst ließ ich Fundstück Fundstück sein und zog mit spitzen Fingern die Schuhe aus, um wenigstens etwas von dem Dreck daraus zu entfernen, auch wenn das so gut wie aussichtslos war, wie ich schnell feststellte. Dann konnte ich ebenso sofort mit der Untersuchung des Knochens beginnen, den ich so mühevoll geborgen hatte. Es war tatsächlich einer, wie ich bereits beim Herausziehen bemerkt hatte.

Mit den Fingern strich ich die anhaftende Erde von ihm ab und stellte fest, dass sich der etwa einen halben Meter lange Schaft angenehm glatt anfühlte, obwohl seine Oberfläche porös wirkte.

Von welchem Tier stammte denn so ein großes Teil? Von einem Hirsch? Sah aus wie ein Oberschenkelknochen, der Ge-lenkkopf war rund und glatt. Haben Hirsche so dicke, lange Oberschenkelknochen?

Malin faszinierte er natürlich ebenso und so sprang sie mit ihren schmutzigen Pfoten an mir hoch. Meine Jeans konnten jetzt also auch in die Wäsche! Unwillig drückte ich den Hund mit der Hand zurück. Ich wollte ihn erst einmal selbst genau betrachten. Dann hielt ich den Knochen so vor meinen Unterkörper, dass der Gelenkkopf etwa die Position meines eigenen in der Hüftpfanne einnahm, und bemerkte erschrocken, dass dieser Oberschenkel etwa drei Zentimeter über mein Knie hinausragte. Mit Knochen kannte ich mich nun wirklich nicht aus, aber das war ein Menschenknochen, da war ich mir sicher. Er sah einfach zu passend aus.

Diese Erkenntnis traf mich heftig und in meinem Kopf überstürzten sich sofort die Gedanken. Wie hypnotisiert starrte ich ihn minutenlang an, als ob er mir meine Fragen beantworten konnte.

Wie kam der hierher? Frisch war der sicher nicht, soweit man bei blanken Knochen von frisch reden konnte. Aber ich hatte schon Knochen von gerissenen Tieren gesehen, jedoch waren die von weißer bis gräulicher Farbe gewesen und nicht so dunkelbraun, an manchen Stellen fast schwärzlich und übersät mit feinen dunklen Rissen, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass er schon recht lange in der Erde gelegen hatte.

Er musste über die Förderbandanlage inmitten der Sandmassen zu dem Absetzer gelangt und an dieser Stelle abgekippt worden sein, vermutete ich sofort. Das war doch mal ein spannendes Thema zum Drübergrübeln. Dafür vergaß ich sogar, dass es mich mindestens eine Stunde kosten würde, mich und den Hund von dieser Aktion zu säubern, von meinen anderen Erledigungen, die zu Hause wie immer auf mich warteten, ganz zu schweigen. Was sollte ich jetzt also machen?

Gedankenverloren stieg ich den Kiesweg ein Stück bergauf, deponierte den Knochen zwischen zwei niedrigen Zweigen einer Birke, damit Malin nicht länger an mir hochsprang, da ich ihr schließlich ihren Fund noch immer vorenthielt, hockte mich dann auf einen Grasfleck und starrte von dort auf die Fundstelle herunter. Die Umgebung, die mich sonst immer durch ihre verschiedenfarbigen Erdschichten oder selbst angesiedelten Pflänzchen beeindruckte, und der herrlich warme Sonnentag waren mir jetzt endgültig egal geworden. Mein Kopf hatte ein viel wichtigeres Problem zu lösen.

"Also, wenn der Knochen hier durch den Absetzer abgekippt wurde", was für mich feststand, "von wo kam der verkippte Sand?

Warum rufst du nicht die Polizei, sollen die sich doch damit auseinandersetzen?

Und wenn es eine natürliche Erklärung hierfür gibt, wozu die Polizei rufen? Also denk weiter!"

Schon immer hatte ich diese komische Angewohnheit, mit mir selbst laut zu reden, wenn ich Probleme wälzte. Malin saß vor mir auf ihren Hinterpfoten und hörte mir mit leicht zur Seite geneigtem Kopf interessiert zu.

"Anstelle des Tagebaus gab es schließlich einmal drei Dörfer mit Kirchen und sicher auch Friedhöfen", erklärte ich ihr. Den Standort einer dieser Kirchen kannte ich, da er durch einen Gedenkstein markiert worden war.

"Könnte doch durchaus passiert sein, dass man bei der Umsetzung der Friedhöfe mal einen Knochen im Erdreich übersehen hat. Und beim Anlegen der Bodenhalden ist er dann eben mit hinein geraten."

"Nee, Moment mal, kann ja gar nicht sein! Die Friedhöfe sind doch bereits umgesetzt worden, ehe hier eine Grube entstanden ist. Und wann wurden dann die Mutterbodenhalden aufgeschüttet? Muss so Ende der 80er gewesen sein! Und der Boden dafür kam aus den neu errichteten Tagebauen Fortuna und Frimmersdorf. Hat Hubert doch mal erzählt." Und der musste das wissen. Hubert mein Mann, arbeitete seit 24 Jahre in sämtlichen Tagebauen im rheinischen Braun-kohlegebiet und wusste so einiges über deren Geschichte.

"Ergo, kein normal erklärlicher Knochen. Dann könnten nicht nur, sondern werden wahrscheinlich weitere im Sand stecken. Okay, Malin, lass uns nach Hause gehen!" Ich stand auf. "Mama hat noch was zu tun!"

Ungern ließ ich unser Fundstück in der Nähe des früheren Polizeischießplatzes, ein Stückchen oberhalb der letzten Sohle, zurück. Und während wir zügig den langen Weg nach Hause zurücklegten, kreisten meine Gedanken unentwegt weiter darum. Wie war dieser Mann wohl umgekommen? Wieso Mann? Wegen der Länge des Knochens natürlich. Ob sich die Polizei wohl freute, mal so einen Fall bearbeiten zu dürfen? In unserer Stadt hatte sie nämlich bislang noch nicht sehr oft mit Kapitalverbrechen zu tun. Erstaunlicherweise hatten sich schwerere Delikte bislang nicht über die Grenzen der nahen Großstadt Köln bis zu uns ausgebreitet. Vielleicht war Erfting für Kriminelle nicht interessant genug.

 

 

Das war am 30. April 2000, gegen 14 Uhr gewesen. Ist das wirklich erst drei Wochen her? Der Tag, der sich erst einmal in nichts von dem heutigen unterschied, als alles begann. Doch im Gegensatz zum 30. April fühle ich mich heute seltsam unsicher auf meinem Spaziergang im alten Tagebau. Sicher, auch heute sind kaum Leute hier unterwegs, aber ich war doch noch nie ein Angsthase. Irgendetwas ist heute anders als sonst. Mehrfach sehe ich mich um, doch ich entdecke keine Veränderung. Ist doch alles wie immer, schelte ich mich selbst. Wir schreiben doch nicht das Jahr 1200, als man hinter jedem Busch irgendeinen Raubritter oder sonstigen Halsabschneider erwarten musste. Doch wenn ich an das Gemetzel, dass sich in unserer Stadt abgespielt hat, denke, hat sich anscheinend die Menschheit seit dem Mittelalter wohl doch nicht allzu sehr verändert. Als wäre es zu viel verlangt, in Ruhe und ohne Angst leben zu können, lamentiere ich in Gedanken weiter.

Ich atme einige Male tief ein und aus und verlangsame bewusst das Schritttempo. Bin doch nicht auf der Flucht! Es ist doch wunderschön und friedlich hier draußen!

Diese 3 Wochen hatten es aber auch in sich. War wirklich ein bisschen viel für meinen Geschmack gewesen. In Erfting, dem Ort, wo ich lebe, hatten sich Abgründe aufgetan, die ich nie vermutet hätte. Ich denke, den meisten Einwohnern wird es ähnlich wie mir gehen. So richtig begriffen haben wir es noch nicht. Jedenfalls reicht ihr Erschrecken, und auch meines, tief. Das ist sicher. Egal, mit wem man sich unterhält, irgendwann geraten alle Gespräche auf diese Vorfälle. Instinktiv ahnen wir wohl, dass sich etwas verändert hat im Städtchen. Etwas Neues hat bei uns Einzug gehalten und hat Altes, Vertrautes verdrängt. Zumindest war das mein Eindruck, wenn ich in den letzten Tagen Bekannte getroffen habe. Wirklich jeden beschäftigten die Ereignisse. Vielleicht fühle ich mich deshalb im Moment so beunruhigt, so ein bisschen verloren, alleine gelassen, als ob dieses Neue im Ort auch mein Schicksal beeinflussen könnte.

So ein Schwachsinn! Du hast echt einen Knall! Hör auf damit? Wer sollte denn ausgerechnet dich bedrohen? Und außerdem ist doch jetzt alles vorbei. Ärgerlich schüttele ich den Kopf über meine, wie ich zugeben muss, manchmal etwas überbordenden, düsteren Fantasien, die sich immer automatisch vor meinem inneren Auge ausbreiten, sobald ich über Dinge nachzudenken beginne, dabei gleitet mein Blick unentwegt über die in freundliches Licht getauchte rudimentäre Landschaft.

Die Tage des alten Tagebaus sind jetzt wirklich gezählt, lenke ich meine Gedanken in eine andere Richtung. Flüchtig streifen meinen Augen über den sich vor mir hinziehenden Kiesweg und versuchen sein Ende am Horizont des riesigen Grubentrichters auszumachen. Strecke satt für einen stundenlangen Marsch für Malin und mich. Die Mittagssonne verbreitet behagliche Wärme, harmlose kleine Wölkchen ziehen träge am Himmel und ich höre...nichts. Stille. Was für eine Wohltat in unserer verkehrsreichen Gegend! Und ich verspüre einmal mehr diese ziehende Sehnsucht, in das einsame Braunkohleabbaugebiet tiefer und tiefer einzudringen. Einfach nur vor sich hin laufen, immer weiter. Schauen, die Ruhe genießen, die Arbeit vergessen, wegdriften, für eine Weile so tun, als gäbe es den Rest der Welt nicht. Automatisch setzen sich meine Füße in Bewegung, immer weiter weg von der so genannten Zivilisation.

Nur, weil bei uns im Ort jetzt auch mal solche Verbrechen passiert sind, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, ist doch nicht plötzlich jedermann zu misstrauen, versuche ich das Missbehagen in mir weiter zurück zu drängen.

Und trotzdem! Irgendetwas fehlt doch noch!

Das ist das Problem in meinem Schädel; sobald sich eine Idee einmal festgesetzt hat, lässt mein Gehirn nicht so schnell locker. Ich seufze resignierend, aber die Geschichte wirkt auf mich einfach noch nicht rund. Wie war das noch?

 

 

*

 

 

30. April, 15:30 Uhr

Die Quadringer Polizei freute sich offensichtlich nicht. Die beiden Kripobeamten, mit denen ich mich etwa eine Stunde später am Fundort des Knochens traf, wirkten zunächst recht uninteressiert und mürrisch und blickten mir, wie mir schien, überhaupt nicht freundlich entgegen. Wahrscheinlich hielten sie mich für eine hysterische Wichtigtuerin, die nichts Besseres zu tun hatte, als sie an ihrem verdienten Wochenende zu stören, an dem sie vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahr den Gartengrill ausgepackt und angezündet hatten. Jedenfalls hatte meine Familie sich das für diesen Tag vorgenommen.

Allein die besagte Stelle im Tagebau dem Wachhabenden auf der Polizeistation Quadringen, die für Erfting zuständig war, zu beschreiben, verlangte viel Geduld. Erst nachdem ich den ehemaligen Schießstand der Polizei erwähnte, wurde dem Polizisten zumindest der Anfahrtsweg klar. Als dieser Übungsplatz nämlich noch in Betrieb war, führte von einem Nachbardorf aus eine Zufahrt dort hinunter. Doch durch die weit fortgeschrittene Rekultivierung der Mine war diese nunmehr zum größten Teil zerstört und nicht mehr befahrbar. Der Weg nach unten war nur noch zu Fuß zurückzulegen, und das bedeutete, zweihundert Luft raubende Höhenmeter auch wieder steil bergauf zu bewältigen, wenn man da unten nicht verrotten wollte. Und dazu kamen weitere zwei Kilometer bis zu mir nach Hause.

Deshalb ersparte ich mir einen nochmaligen anstrengenden Fußmarsch und parkte meinen Saratoga an dieser ehemaligen Zufahrt in der Nähe des Grubenrandes. Ein dort abgestellter dunkelblauer BMW musste der von der Kriminalpolizei sein, zu nüchtern und praktisch für meinen Geschmack, und außerdem viel zu straff gefedert. Ich stand ja mehr auf fahrende Couchgarnituren. Die waren zwar nicht so flott, zur Verbrecherverfolgung wohl nicht so praktisch, dafür aber ungeheuer bequem für zum Beispiel längere Tagungen mit Freundinnen, wenn es mal das große Elend gab und niemand mithören sollte; aber ebenso für Reisen sehr zu empfehlen. Man erreichte völlig entspannt und schmerzfrei sein Ziel dank einer unnachahmlichen Sitzfederung.

Als ich den Abstieg in die Grube endlich hinter mich gebracht hatte und mich dem einstigen Schießstand näherte, sah ich dann die Bescherung: zwei missmutige Gestalten, die gelangweilt einen kurzen Blick auf mich warfen, um sich umgehend wieder der Umgebung zuzuwenden. Das konnte ja heiter werden, die nahmen mich anscheinend nicht ernst.

Der ältere der beiden, ich schätzte ihn auf Anfang vierzig, war mindestens zwei Meter groß und von oben bis unten massiv gebaut. Sein Haar war dunkelbraun bis schwarz und militärisch kurz geschnitten und er trug ein blaugraues Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt waren, eine blaue Jeans besserer Qualität und ein Paar schwarze Wildlederschuhe mit dicken Gummisohlen, mit denen er Steinchen in die Gegend kickte. Sein Gesicht jedoch war keineswegs weich und gemütlich, wie ich von ferne wegen seiner Statur vermutet hatte, sondern zeigte einen harten Zug um den Mund. Und als er seine Sonnenbrille abnahm, traf mich ein prüfender, durchdringender Blick, der mich sofort alles hätte gestehen lassen, wenn ich etwas zu gestehen gehabt hätte.

Der jüngere Mann war etwa zwanzig Zentimeter kleiner und es wurde schon erkennbar, wie er in zwanzig Jahren aussehen würde, sollte er weiterhin nicht auf seine Figur achten. Sein Alter konnte ich überhaupt nicht einschätzen, er hätte 25 oder auch schon 35 Jahre alt sein können. Sein ziemlich schütteres Haar war aschblond und er trug ähnliche Kleidung wie sein Kollege. Umweltassimilierung nannte ich so etwas. Bloß nicht äußerlich auffallen. Wahrscheinlich liefen die Kripoleute in Quadringen alle mit solchen oder ähnlichen Klamotten herum. So etwas hatte ich schon bei Kölner Großunternehmen erlebt, in denen ich früher gearbeitet hatte. Ich konnte auf dem Bahnhof unter hunderten Menschen diejenigen unterscheiden, die ebenfalls in meiner damaligen Firma arbeiteten, ohne dass ich ihnen je über den Weg gelaufen war, nur anhand ihrer Kleidung. Wie ein ungeschriebenes Gesetz setzte sich ein bestimmter Modestil in einem Betrieb durch, den vor allem Männer, wahrscheinlich unbewusst, nachahmten.

Aber dann bemerkte ich die hellen, wachen Augen im rundlichen, ernsten Gesicht des jüngeren Beamten und ich vergaß die Kleiderordnung der Kripo.

"KOK Capitano und KK Weyer. Sie haben die Polizei angerufen?" sprach mich der Ältere meiner Ansicht nach ziemlich unfreundlich an, als ich mich näherte.

Wenigstens hatte er jetzt mit dem Gekicke aufgehört. Er hat es aber mächtig eilig, dachte ich. Noch nicht mal Zeit für ein "Guten Tag". Demonstrativ antwortete ich:

"Auch Ihnen einen guten Tag. Ja, ich habe angerufen." Dann nannte ich meinen Namen, währenddessen sich der Oberkommissar wieder seinen Landschaftsbetrachtungen hingab. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich weiter redete. Doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht, so dass ihm die Besichtigung alsbald langweilig wurde, denn auf einmal ertönte jenseits seines mir zugewandten breiten Rückens die Frage:

"Was wollen Sie denn so Aufregendes hier gefunden haben?"

In meinen Ohren klang sie wie: Wenn Sie mir nicht augenblicklich etwas wirklich Lohnendes zeigen, können Sie was erleben. Glaubte der vielleicht, ich ließe die Polizei aus Jux und Dollerei in die Grube hinuntersteigen?

Das Verhalten des Beamten irritierte mich immer mehr und leichter Ärger stieg in mir hoch. Trotzdem erzählte ich dann von Malins und meiner Entdeckung, blickte dabei jedoch den jungen Kollegen Weyer an, der zumindest äußerlich Interesse an meiner Geschichte zeigte. Dann führte ich sie zu der Birke, in deren Zweigen ich den Knochen deponiert hatte.

In Kommissar Weyer, der die ganze Zeit über noch keinen Ton von sich gegeben hatte, kam sofort Leben. Er wirkte ganz aufgeregt und nestelte mehrere dünne, durchsichtige Plastiktüten aus seiner Hosentasche. In eine davon griff er wie in einen Handschuh und nahm damit den Knochen aus dem Geäst. Dann beugten beide Männer ihre Köpfe über das Gebein, blickten sich wortlos an und nickten sich unmerklich zu.

Im Stillen atmete ich auf. Ich hatte also richtig vermutet und nicht umsonst Alarm geschlagen. Dieser Capitano hatte mich völlig verunsichert.

"Sieht tatsächlich wie ein Menschenknochen aus. Wo genau hat er gelegen?" fragte Capitano jetzt, endlich in der Art und Weise, die ich für eine Zeugenbefragung durch einen Polizisten für angemessen hielt.

"Hier runter!" antwortete ich, schritt voraus bis zum Saum des Hanges und wies auf die Stelle im Sandkegel.

"Da oben! Das sind meine Fußstapfen!"

"Aufgeschütteter Sand", Capitano dachte laut, während er über die aufgeschütteten Kegel den über alles thronenden Absetzer ins Auge fasste. "Vielleicht liegt da noch mehr Material! Vom Tatort wird hier ja wohl keiner sprechen!"

Er sah sich nach einem Aststück um und reichte es großzügig an seinen jüngeren Kollegen weiter. "Hier, stochere mal ein bisschen 'rum!"

Kollege Weyer kräuselte fast unmerklich die Lippen, erwusste, was auf ihn zukam. Doch er ergriff den kleinen Zweig und fügte sich ins Unvermeidliche. Vorsichtig stakste er mit seinen Halbschuhen wie ich vorhin in den Hang, versuchte dabei meine alten Spuren zu benutzen. Den dünnen Zweig in den Boden stechend, dabei Erde losbrechend, die ihm natürlich über die Schuhe kullerte, sah er jedoch sehr schnell ein, dass so nicht viel Verdecktes aufzuspüren war.

"Das geht so nicht, Capi!" kam es von oben. Erstaunlicherweise klang die Stimme des jungen Kommissars nicht einmal verärgert. "Da muss so ein Knochen schon knapp unter der Oberfläche liegen, um ihn auf diese Art aufzuspüren. Hast du vielleicht einen Klappspaten im Auto? Und am besten auch noch Gummistiefel?"

"Ich hab ja so einiges im Auto. Aber nee, natürlich nicht. Vielleicht wäre dir auch noch ein Survival-Package genehm? Falls du im Sand verloren gehst."

Der Oberkommissar war schon wieder gereizt. Doch dann lenkte er ein: "Die Frage ist doch, wie viel Tonnen Sand soll man überhaupt umgraben und was bringt uns das im Moment? Wir wissen nicht mal mit absoluter Sicherheit, ob dies ein menschlicher Knochen ist, auch wenn er augenscheinlich so aussieht. Also lassen wir das!"

Kollege Weyer quälte sich sogleich den Hang herunter, jeden Tritt mit äußerstem Bedacht angesetzt. Das nützt dir auch nichts mehr, dachte ich, den Sand kriegst du nie mehr ganz aus deinen Halbschuhen. Ich hatte darin schließlich jahrelange Erfahrung. Die mit Ton und Lehm durchsetzte Erde drang in jede Ritze und blieb dort einfach kleben. Selbst wenn man die Schuhe unter fließendem Wasser abbürstete, schaffte man nicht allen Sand wieder weg.

Dann machten wir uns an den anstrengenden Aufstieg, bei dem uns allen ziemlich warm wurde. Mehr als einmal hielten wir kurz an, um zu verschnaufen. Daher wartete ich mit meiner Frage, bis wir wieder oben bei den Autos angelangt waren. Dem jungen Kommissar lief mittlerweile der Schweiß in dicken Tropfen vom Schädel

"Wie geht’s denn jetzt weiter mit dem Knochen?" Eigentlich hätte ich sie fragen mögen, ob sie mir wohl über die zu erwartenden Ergebnisse etwas mitteilen würden. Doch die Antwort darauf schenkte ich mir lieber.

"Wir schreiben einen Bericht über den Fund und übergeben ihn erst mal der Gerichtsmedizin. Dann müssen wir abwarten, was die daraus erkennen kann. Und dann schauen wir mal."

Wider Erwarten reichte mir der Oberkommissar zum Abschied die Hand, ebenso sein Kollege. Und schon waren sie weg.

 

 

*

 

 

Sonntag, 1. Mai, 13 Uhr

Auf der Rückfahrt vom Tagebau nach Hause hatte ich bereits einen Entschluss gefasst. Die Kripomänner schienen mir nur die nächstmöglichen Schlussfolgerungen aus dem Knochenfund zu ziehen. Aber bis da Ergebnisse vorlagen, war es vielleicht zu spät. Am kommenden Montag, das bedeutete übermorgen, würde am Restloch weiter gearbeitet und damit gingen eventuelle weitere Spuren verloren.

Also spazierte ich gleich am Sonntag mit Malin zu dem Weg am Tagebaurand entlang, jedoch diesmal in die von meinem gestrigen Ziel entgegen gesetzte Richtung, bis zu einem extra für Spaziergänger planierten Aussichtspunkt, in etwa dreißig Meter Höhe über einer bereits wieder aufgefüllten, weitläufigen, ebenen Fläche unter mir. Von hier aus konnte ich das gesamte ehemalige Minengelände überblicken. Die große Schautafel, die dem Betrachter einen Plan zeigte, wie dieses Stück Land nach seiner Ausbeutung einmal gestaltet werden sollte, interessierte mich jetzt nicht. Ich spürte nach weiteren Anhaltspunkten zu meinem Kriminalfall, denn zu dem hatte ich den Knochen insgeheim für mich erklärt.

Mit dem mitgebrachten Fernglas suchte ich den Bereich ab, wo sich der Rest der letzten Sohle befand, und entdeckte in etwa drei Kilometern Entfernung an dem von mir aus gesehen rechten Ende des Tagebaus den Absetzer, der sich gestern an meinem Standort hoch über mir auftürmte. Mit ihm verbunden war die Förderbandstraße, deren Weg ich nun mit dem Glas verfolgte, und die sich quer über das gesamte Gelände zog.

Teilweise verdeckten vor mir riesige Halden aus Mutterboden den direkten Blick auf den Verlauf des Transport-bandes. Doch konnte ich erkennen, dass zurzeit nur an der äußersten Halde zu meiner linken gearbeitet wurde, weil sich dort ein Bagger zum Beladen des Bandes bereit hielt.

"Also von daher kam der Knochen!"

Mindestens ein Drittel der einstigen Länge dieser Halde war bereits abgegraben und weggeschafft worden, wie ich feststellen musste.

Ich versuchte, mich in einen Täter hinein zu versetzen, und überlegte. Bis zu dieser Halde eine Leiche zu schaffen, nötigte einiges an Nachdenken ab, denn für private Pkws waren die Kieswege im Tagebau verboten. Aber unmöglich? Nein, wenn man sich hier etwas auskannte und wusste, welchen Weg man zu welcher Zeit nehmen musste, ohne bemerkt zu werden.

Ich überlegte weiter, ging in Gedanken alle in Frage kommenden Wege in die Grube ab, denn ich kannte sie von meinen täglichen Spaziergängen mit Malin alle, selbst die, die von Erftings Nachbarorten hineinführten, und kam zu der Schlussfolgerung, dass die einzige Möglichkeit für einen Pkw, bis zu dieser Halde zu gelangen, nur über die Apolloniusstraße in Erfting bestand, an deren Ende zwar eine weißrot angestrichene Metallschranke die Weiterfahrt versperrte, die jedoch unverschlossen in ihrer Halterung lag, wie ich wenig später ausprobierte. Das war mir vorher nie aufgefallen. Ich war sicher, ein Fahrzeug musste der Täter benutzt haben. Niemand schleppte einen Toten kilometerweit durch das Tagebaugebiet bis zu dieser Halde.

Und wenn dort nur Einzelteile vergraben worden waren? Und wenn der Knochen von einem Tier von wer weiß wo dorthin geschleppt worden war? Möglicherweise hatte der Tod auch erst auf dem Gelände da unten zugeschlagen.

Ich schüttelte den Kopf. So kam ich nicht weiter. Ich hatte überhaupt keine Anhaltspunkte. Vielleicht hatten die beiden Kripoleute doch nicht so unrecht mit ihrer Vorgehensweise.

Während meines weiteren Spaziergangs über die Fußwege der mit Bäumen und Büschen dicht bewachsenen Tagebauflanke, überlegte ich trotzdem hin und her, was ich weiter unternehmen konnte. Auch an diesem Tag fesselte mich die Geschichte vom Knochen mehr als meine Umgebung. Ich schnupperte nicht einmal, wie sonst, nach dem süßen Duft der zahlreichen Heckenrosen, die sich hier mitunter bis in Baumhöhe durch die Äste wanden und bereits in Blüte standen.

 

 

*

 

 

Dies war der Auftakt zu den nachfolgenden Ereignissen, wohl so eine Art schlechtes Omen, überlege ich nun, obwohl mein Fund mit den kommenden Morden augenscheinlich nichts zu tun hatte.

Vielleicht als Ankündigung, dass das Böse im Ort Einzug gehalten hat? Dass Ehrlichkeit und Sicherheit verloren gegangen sind?

Stopp! Hör endlich mit der Herumspinnerei auf. Das führt doch zu nichts. Verbrechen hat es immer gegeben und werden auch nie ausgerottet, ob es dir passt oder nicht.

In Gedanken versunken erreichen Malin und ich jetzt den Kiesweg, der zu den Mutterbodenhalden führt. Ein weites Stück zu laufen bis dahin, immer am Fuß der inneren Tagebauflanke entlang.

Wann war das noch, als dort ein Junge verschüttet wurde? Eine Gruppe Kinder hatte versucht, sich eine Höhle in eine der Halden zu graben. Vielleicht wäre ich als Kind auch auf diese Idee gekommen, wenn ich dieses Gelände vor der Haustür gehabt hätte. Die mächtigen Erdhügel wirken durch ihren dichten Bewuchs aus Sträuchern, niedrigen Bäumchen und Gras wirklich, als wären sie für die Ewigkeit errichtet. Doch tragischerweise brach die Erdlast über eines der Kinder zusammen und erstickte es.

So ist das, wenn du in diesem Winkel des Tagesbaus Hilfe brauchst. Schnell kann hier nicht einmal unter günstigsten Bedingungen ein Retter zur Stelle sein. Sollte ich einmal mit dem Fuß auf diesem nur grob geebneten Grund umknicken, hätte ich wirklich ein Problem, da ich nie ein Handy mitnehme.

Vergiss diese Unkerei. Du hast dir in deinem ganzen Leben noch nichts gebrochen.

Also warum nicht bis zur letzten Halde…..Malin und ich sind schon eine ganze Weile nicht mehr dort gewesen und außerdem ist es heute wunderschön hier draußen. Dem Hund ist es recht, er trabt bereits munter vorneweg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 Donnerstag, 5. Mai, 20 Uhr

Zufrieden ließ sich die Endvierzigerin in ihren altmodischen Fernsehsessel fallen, der automatisch ein Fußteil hochklappte, wenn man sich nach hinten lehnte. Endlich konnte Marlies Stollenwerck ihre geschwollenen Füße hoch legen und die erste Flasche Bier an diesem Abend öffnen. "Jeden Abend zwei Flaschen, das spart die Schlaftabletten". Dieses Rezept verriet sie jedem.

Die Möbel in ihrem Wohnzimmer, dessen Wände mit eierschalenfarbenen Tapeten versehen waren, durch die der Raum in ein fahlgelbes Licht getaucht erschien, wie in ihrem gesamten Haus, galten vielleicht zu Beginn der siebziger Jahre als modern. Mittlerweile wirkten sie nur noch billig und wie aus einer anderen Generation. Sie waren jedoch umsichtig benutzt worden. Auf der Sitzgarnitur aus dunkelgrünem Breitcord gab es nicht eine abgewetzte Stelle und der davor stehende Eichenholztisch glänzte ohne jeden Kratzer. Einzig der Farbfernseher in der Ecke war neueren Datums. Er war in eine aus schwarz lackiertem Kiefernholz mit weißen Kunststofftüren bestehende große Stollenwand integriert. Nicht die kleinste Unordnung war in diesem Raum, im ganzen Haus und auf dem dazugehörigen Grundstück zu bemängeln. Marlies liebte es, wenn sich alles schön ausgerichtet an seinem dafür vorgesehenen Platz befand. Denn es machte sie bereits nervös, wenn sich zum Beispiel im Herbst herab gefallenes Laub unkontrolliert auf ihrem Grundstück breit machte. Und sie beeilte sich, jedes Blättchen sofort zu entfernen, dass ihren ordnenden Blick störte. Mit den Jahren war ihr diese Marotte in Fleisch und Blut übergegangen und sie forderte diesen Ordnungsfimmel auch von ihren direkten Nachbarn ein, die es vielleicht nicht ganz so genau mit den Büschen und Bäumen an ihrer Grundstücksgrenze nahmen.

Jetzt lauschte sie auf das Plätschern des Wasserhahns aus dem Badezimmer und schaltete den Fernseher ein. Die Fanfare der Nachrichtensendung ertönte. Doch noch bevor der Sprecher sein "Guten Abend, meine Damen und Herren" beendet hatte, betrat ihr einziger Sohn, Jochen, das Zimmer und hockte sich auf die Couch neben ihr.

"Ich fahr dann jetzt. Ich bin hundemüde."

Erschöpft lehnte er sich hinten über und dachte an seinen Heimweg, den er noch bis ins zwanzig Kilometer entfernte Köln zurücklegen musste. Hoffentlich stand zuhause bei seiner eigenen kleinen Familie nicht noch Arbeit an.

"Bist du komplett mit dem Rasen fertig geworden, Junge, oder musst du diese Woche noch mal wiederkommen?" fragte Marlies, obwohl sie genau wusste, dass ihr Sohn alles er-ledigt hatte, was sie getan haben wollte.

"Nee, ist komplett fertig. Oder steht noch was anderes an?"

Jochen war daran gewöhnt, alle schwierigeren Arbeiten für seine Mutter rund ums Haus zu übernehmen. Das hatte er schon immer gemacht seit...ja, seit sein Vater verschwunden war. Nicht, dass ihm dessen Verschwinden viel ausgemacht hätte, er hatte nie ein herzliches Verhältnis zu ihm gehabt. Eigentlich gar keines.

Aber Mama hatte sich ab diesem Zeitpunkt sehr verändert, war mitunter hart und abweisend, um im nächsten Augenblick wieder mit ihm zu kuscheln oder ihn zu verwöhnen, als ob sie sich plötzlich wieder daran erinnerte, dass ihr Junge doch schließlich nur ein armer Halbwaise war, der absolut nichts für seinen Vater konnte. Trotz seiner jungen Jahre begriff er sehr schnell, warum seine Mutter so unterschiedliche Launen zeigte. Sie hatte große finanzielle Sorgen, es ging um ihre gemeinsame Existenz. Sie musste viel arbeiten, ging nach ihrem Feierabend im Laden noch putzen, half in der Nachbarschaft beim Kochen, wenn irgendwo ein größeres Fest anstand und dergleichen mehr. Doch trotz aller Mühen und Sparsamkeit war das Geld immer knapp gewesen. Er war erst zehn Jahre alt gewesen, doch er wollte ihr beweisen, dass er fähig war, den Vater zumindest teilweise zu ersetzen. So begann er, mittags nach dem Schulunterricht Arbeiten im Haus zu verrichten, wenn Marlies noch im Supermarkt arbeitete, damit sie diese Dinge nicht noch an ihrem Feierabend erledigen musste, und verdiente sich sein Taschengeld selbst mit Prospekte verteilen.

Doch das war gestern. Mittlerweile hatte der Zweiundzwanzigjährige selbst einen Acht-Stunden-Job abzuleisten und eine eigene Familie zu versorgen. Manchmal wurden ihm Mamas Wünsche einfach zu viel, vor allem, weil seine Mutter schnell ungehalten wurde, wenn ihre Arbeiten nicht sofort, spätestens am nächsten Tag, erledigt wurden. Sie duldete keinen Aufschub und achtete streng auf deren korrekte Ausführung. Jeden Versuch Jochens, sie auf das kommende Wochenende für diese Aufgaben zu vertrösten, konterte sie mit Wenns und Abers, und letztlich endeten die Diskussionen immer mit Tränen und dem Vorwurf seiner Mutter: "Lass du mich ruhig auch im Stich!"

"Du bist wirklich ein guter Junge", sagte sie jetzt fast zärtlich. "Ganz anders als dein Vater, dieser Mistkerl."

Schon wieder das alte Thema, dachte Jochen resigniert. Damit hat sie mich immer ködern können. Wer wusste schon, warum der Alte damals abgehauen war.

Es war während einer seiner Spätschichten im Tagebau geschehen. Keiner hatte mitbekommen, wohin sein Vater Hermann damals verschwunden war, und niemand hatte ihn je danach wieder in Erfting oder Umgebung gesehen oder von ihm gehört.

Für Marlies Stollenwerck begann daraufhin eine wirklich schwere Zeit. Bisher war sie nur Hausfrau und Mutter gewesen. Ihren einst erlernten Beruf als Verkäuferin hatte sie auf Wunsch von Herrmann nach der Heirat aufgegeben.

"Meine Frau hat es nicht nötig, arbeiten zu gehen", hatte er bei der Hochzeit gesagt. Nicht ungewöhnlich in jenen Jahren. Und Marlies hatte nur zu gerne seinem Wunsch nachgegeben, denn sie hatte ihren Beruf nie besonders gemocht. Doch was hatte eine Frau schon für berufliche Ausbildungsmöglichkeiten in den 60ern, als sie die Volksschule beendet hatte und die Lehrzeit begann. Sie konnte froh sein, dass sie überhaupt einen Beruf erlernt hatte.

Auf einmal aber hieß es, den Lebensunterhalt für sich und den Jungen selbst zu verdienen und für die Hypothek des Reihenhäuschens aufzukommen. Zum Glück fand sie schnell eine Anstellung in einem der Erftinger Supermärkte und vermietete gleichzeitig eines der Zimmer in ihrem Haus an Monteure, die zeitweise in der Gegend arbeiteten. Dennoch war Geld immer ein Thema. In Urlaub zu fahren oder ein Auto zu besitzen...Träume.

Trotzdem hatte Marlies ihren Hermann nie vermisst, wie Jochen wusste. Doch was zwischen ihren Eltern gestanden hatte, darüber hatte seine Mutter ihm nie etwas erzählt. Zum Beispiel, dass sie bereits in der Hochzeitsnacht zu spüren bekam, dass ihre große Liebe ein völlig anderer Mensch war, als er vorgegeben hatte zu sein. Er hatte so wenig Einfühlungsvermögen gezeigt, dass sie dieses erste Mal nur als schmerzhaft in Erinnerung behalten hatte. Doch sie war zu verliebt gewesen, um sein Verhalten richtig deuten zu können. Es verwirrte sie nur und sie glaubte, dass es ihre Schuld sei, weil sie so unerfahren in allem war. Zum Ausgleich strengte sie sich immer mehr an, um ihm keinen Anlass für einen seiner Wutausbrüche zu geben. Sie liebte ihn doch und ihr größtes Glück bestand darin, im alles recht zu machen.

Mit 24 Jahren hatte sie sich in diesen gut aussehenden Mann verguckt, der voller hochfliegender Pläne war und eine sichere Arbeitsstelle bei der Bergbaugesellschaft Rheinkohle hatte. Seine Vorgesetzten, das betonte er immer wieder, hielten große Stücke auf ihn. Marlies Freundinnen beneideten sie.

Bevor sie Hermann getroffen hatte, gab es in ihrem Leben keine anderen ernsthaften Beziehungen mit Männern. Sie wollte sich immer für den einzig richtigen aufsparen, hielt absolut nichts davon, wie ihre Altersgenossinnen, sich auszutoben und Erfahrungen zu sammeln. Hippie-Zeit hin oder her, so flatterhaft war sie nie gewesen. Bei jedem Mann, der ihre Bekanntschaft suchte, wägte sie intensiv ab, ob er für eine eventuelle Ehe tauglich war. Und dann endlich hatte sie jemanden getroffen, der genau das verkörperte, wonach sie gesucht hatte.

Doch nach der Heirat musste sie allmählich schweren Herzens erkennen, dass sie sich geirrt hatte und die Wirklichkeit all ihrer Wünsche anders aussah. Denn von nun an begann Hermann, sein wahres Gesicht zu zeigen. Von Jahr zu Jahr wurde er herrischer. Sie hatte zu tun, was er befahl. Widerspruch duldete er überhaupt nicht, schließlich war er der Herr im Haus. Und wenn sie nicht sofort gehorchen wollte, setzte es auch schon mal Schläge, wobei er immer acht gab, dass eventuelle blaue Flecken nicht offen zu sehen waren.

Tief in ihrem Inneren musste sie sich eingestehen, dass sie sich hatte blenden lassen. Daher war sie froh, wenigstens verhindert zu haben, ein weiteres Kind von diesem Mann auszutragen. Man sollte sich eben immer die zukünftigen Schwiegereltern genau ansehen, wenn man vorhatte, sich mit jemandem zusammen zu tun. Deren Gene schlagen irgendwann immer durch. Von Anfang an hatte sie ihre Schwiegereltern nicht gemocht. Sie waren so anders. Aber hinterher ist man immer schlauer.

Und trotzdem war sie nie auf den Gedanken gekommen, ihn zu verlassen. Sie fühlte sich an ihr Heiratsgelübde "...in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet" absolut gebunden, auch wenn sie sich selbst nicht verstand und immer unglücklicher wurde. Es schien ihr, als verdiente sie einfach nichts Besseres. Sie hatte ihre Chance auf ein bisschen Glück im Leben gehabt, - sie hatte ihn gewählt -, ...und leider die Niete gezogen. Nun fügte sie sich in ihr Schicksal und versuchte stattdessen, Hermann keinen Anlass zu geben, auf sie ärgerlich zu sein, auch wenn ihr das trotz vieler Mühen immer weniger gelang.

Als Hermann fünf Jahre nach seinem Verschwinden offiziell für verstorben erklärt wurde, schwor sie sich jedoch, es nie wieder mit einem Mann zu versuchen. Die Wunden, die diese Ehe in ihr hinterlassen hatten, waren einfach zu tief. Die waren nicht mehr zu kurieren.

Nur manchmal, in schlaflosen Nächten einsam in ihrem Bett, malte sie sich in Wachträumen eine Beziehung mit einem Mann aus, so wie sie sich das für ihr reales Leben gewünscht hätte. Aber sobald es Morgen war, wusste sie wieder, dass es solche Beziehungen nicht gab. So einen Mann müsste sie sich erst noch backen.

Ihren Jochen jedoch hatte sie prima hingekriegt. Darauf war sie stolz. Ihm war keine Hitze zu groß, um nicht nach seiner Arbeit in einem Getränkeabfüllbetrieb noch zu ihr zu kommen und den Garten in Ordnung zu bringen, irgendetwas zu reparieren oder zu renovieren. Und zwar absolut akkurat. Da konnte sich so mancher Handwerker eine Scheibe von abschneiden.

"Ich hab noch was für dich."

Mit Schwung klappte Marlies ihren Lehnsessel in eine aufrechte Position, sprang vom Sitz und eilte in ihre Küche. Jochen folgte ihr und sah, wie sie eine große mit dicken Gummibändern umspannte Vorratsdose aus dem Kühlschrank nahm und in eine Plastiktüte setzte.

"Das sind Frikadellen. Hab ich extra für dich gebraten. Du isst sie doch so gerne."

"Ach, Mama, das brauchst du doch nicht! Ich helf dir doch auch so, das weißt du doch!"

Jochen lächelte verlegen, nahm die Tüte jedoch freudig berührt entgegen. Mamas Fleischklopse waren einfach unschlagbar gut.

"Klar weiß ich das, Junge. Trotzdem ein Dankeschön. Hier hast du noch einen Fünfer als Spritgeld. Ich hab dich doch lieb."

"Ich dich auch, Mama."

Jochen legte die Arme um die Schultern seiner Mutter. Dann standen sie eine Weile stumm Stirn an Stirn gedrückt einträchtig beieinander.

Als er sich endlich löste, sagte er: "Ich rufe dich an."

Marlies begleitete ihn zur Tür. Zum Abschied winkte sie ihm hinterher, bis sein Auto nicht mehr sichtbar war. Dann ging sie in ihr Wohnzimmer zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Sie griff nach ihrem Bierglas, trank ein paar Schlucke und stellte es wieder zurück. Zufrieden lehnte sie sich zurück und stellte den Fernseher etwas lauter. Die Nachrichten waren zu Ende. Gleich würde der Film beginnen und morgen Abend würde sie sich wieder mit ihren Kegelkameradinnen treffen, der einzigen Vergnügung, die sie sich einmal in der Woche gönnte.

Ihr Leben war doch eigentlich noch ganz angenehm geworden nach ihrem Fehler mit Hermann. Und um ihren Mund spielte ein leises Lächeln.

 

3. Kapitel

Freitag, 6. Mai, 12:45 Uhr

Auf dem Bahnsteig von Gleis 9 des Kölner Hauptbahnhofs schlenderte ein unauffälliger Mann in einem leicht verknitterten Trenchcoat durch die Menschenmenge. Seine halb gesenkten Augenlider täuschten Insichgekehrtheit vor. In Wirklichkeit jedoch war er aufs Äußerste gespannt und studierte aufmerksam die anderen Reisenden für den Zug Richtung Erfting.

Hier, außerhalb des mit Glasscheiben verschlossenen, filigranen Stahlgerüstes der Bahnhofskuppel war es unangenehm zu warten. Der Verkehrslärm des Breslauer Platzes, der als Busbahnhof diente sowie mehrere stark befahrene Straßen aufnahm, drang ohrenbetäubend herauf und ein stetiger Luftzug aus den unterhalb der Station liegenden Straßenschluchten der Großstadt wirbelte weggeworfene Papierfetzen auf die Schienenstränge. Die Menschen zogen unmerklich die Schultern hoch und verkrochen sich ein bisschen tiefer in ihre Kleidung. Doch niemand von ihnen achtete auf den Mann mit dem Durchschnittsgesicht und dem hellblonden Kurzhaarschnitt. Jeder schien mit sich und seinen Gedanken beschäftigt zu sein oder hoffte, dass der Zug endlich einlief, damit man diesem unfreundlichen Ort entfliehen konnte.

Die Teilnahmslosigkeit seines Umfeldes beruhigte die Nerven von Boris Stopov etwas. Von Verfolgern war weit und breit nichts zu entdecken. Den ganzen Weg von Hamburg bis hierher hatte seine Aufmerksamkeit nicht nachgelassen. Er wusste, dass man ihn suchte. Man würde ihn mit allen Mitteln versuchen aufzuspüren. Ihm war absolut klar, was es bedeutete, von der Mafia verfolgt und hingerichtet zu werden. Schließlich hatte er oft genug selbst dabei zugesehen, wie man es machte. Doch noch hatten sie ihn nicht und kampflos würden sie ihn nicht bekommen. Er brauchte nur eine winzige Chance, das hieß, dass er seine Verfolger zuerst entdecken musste.

Die Polizei konnte er nicht um Schutz bitten. Er war nun mal ein Bespredelniki, ein Gesetzloser, und ohne Aufent-haltsgenehmigung in Deutschland. Und außerdem tat man so was in seinen Kreisen niemals. Man klärte das selber. Und nach Russland zurück konnte er schon gar nicht. Die Sutcha vojna, die Gruppierung, der er angehörte, war auch dort überall vertreten. Dort würden sie ihn sofort aufspüren.

Für ein paar Tage hatte er sich bei Milena, einem seiner Mädchen, verkrochen, doch selbst der war er jetzt zu riskant geworden. Boris musste weg aus Hamburg, weg aus Deutschland. Nur, dafür benötigte er Geld, und woher nehmen, wenn man nichts mehr verdiente und nicht mehr an seine Depots herankam?

Er hatte keine schlechten Zeiten erlebt, als er noch zur Leibgarde des Krysha gehörte, der absoluten Kiez-Größe in der Hafenstadt. Seinen Mitarbeitern gegenüber zeigte der sich immer großzügig. Boris mangelte es wirklich an nichts, bis diese Geschichte mit Gregori passierte. Boris spürte das Loch in seinem Magen und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Mit seinen letzten paar Kröten, Milena wollte für Boris Unterschlupf natürlich auch Geld sehen, als Gefahrenzulage sozusagen und weil sie während seiner Anwesenheit nicht anschaffen gehen konnte, hatte er sich heute morgen für den ersten Zug eine Fahrkarte bis Düsseldorf gekauft. Für weiter hatte es nicht mehr gereicht. Dann hatte er es riskiert, bis Köln schwarz zu fahren, aber er musste noch ein Stück weiter. Denn er wollte nach Erfting, zu diesem Willi. Willi würde ihm helfen. Er würde müssen.

Gemeinsam mit den anderen Fahrgästen quetschte er sich nun in den eingefahrenen Zug. Der war schnell dermaßen überfüllt, dass die Reisenden sich bis in die Gänge zwischen den Sitzreihen hinein drücken mussten, damit alle einsteigen konnten, die mit wollten. Einen Sitzplatz zu ergattern war absolut undenkbar.

Die drangvolle Enge machte Boris nervös und er begann etwas zu schwitzen. Ein neben ihm stehender Verfolger hätte hier leichtes Spiel, denn Boris vermochte kaum auszuweichen. Krampfhaft umklammerte er sein Springmesser in der Manteltasche, spürte mit gesenktem Kopf nach jeder heftigeren Regung der ihn umstehenden Menschen, die mit möglichst stoischen Gesichtern die Minuten erduldeten, bis sie sich an ihrer Haltestelle endlich aus dieser Sardinenbüchse von Nahverkehrszug befreien konnten.

Leider war ihm bei dem Gerangel in Hamburg sein Revolver verloren gegangen. Damit hätte er sich in einer Notsituation etwas Luft verschaffen können. Vor einer Waffe kuschten alle. Pech. Aber er würde auch ohne klar kommen.

Drei Haltestationen lang ging alles gut, an jeder leerte sich der Zug etwas mehr und Boris Anspannung ließ allmählich nach. Die nächste Station würde Erfting sein. Doch dann passierte es.

Ein Zugschaffner trat durch die Abteiltür und begann, jeden Fahrgast zu kontrollieren. Wie die meisten Russen, die die kommunistischen Zeiten miterlebt hatten, fürchtete auch Boris sämtliche Uniformierten. Die waren immer mit Vorsicht zu genießen und vielleicht auch bewaffnet. Er kannte sich bei deutschen Beamten nicht aus, aber er hatte schließlich selbst für eine Behörde gearbeitet, und Behördenmenschen waren überall gleich. Wenn so einer ihn ohne Fahrkarte erwischte, konnte es interessant werden.

Aufmerksame Anspannung machte sich in Boris Körper breit. Wenn der Zug doch endlich in die Station einfahren würde, dann könnte er zur Tür durchpreschen, dann sollte dieser Sesselpupser mal versuchen, ihn festzuhalten.

Möglichst unauffällig vergrößerte er die Distanz zwischen sich und dem Schaffner und schob sich näher an die nächste Abteiltür. Dabei beobachtete er aus den Augenwinkeln, ob dies von dem Blauen bemerkt wurde. Kontrolleure hatten für Schwarzfahrer oft einen sechsten Sinn.

Doch allzu schnell musste er erkennen, dass ein weiteres gewaltloses Vordringen bis zum Waggonende nicht möglich war. Zu viele Mitreisende waren bereits Richtung Tür vorgerückt, um beim nächsten Halt die Bahn so schnell wie möglich verlassen zu können.

Keine Minute später hatte der Beamte ihn erreicht, und der Zug hatte noch immer nicht mit dem langen Bremsmanöver begonnen, wie es für die Einfahrt in einen Bahnhof nötig war.

"Den Fahrausweis bitte!"

Boris zuckte hilflos mit den Achseln, antwortete scheu lächelnd auf Russisch. Er musste Zeit gewinnen.

"Ticket! Billett! Zeigen!"

Die Stimme des Schaffners wurde lauter, als ob mangelnde Sprachkenntnisse durch Lautstärke ersetzt werden konnten. Breitbeinig, seinen rundlichen Bauch streckend baute er sich dicht vor Boris auf. Gleichzeitig griff seine rechte Hand bereits nach einem in schwarzes Leder gebundenes Buch, welches er unter dem linken Arm geklemmt mitführte. Eine Schaffnernase täuschte man nicht. Er hatte mal wieder einen Schwarzfahrer an der Angel. Dass die Leute auch immer glaubten, nie erwischt zu werden.

Als sich sein Gegenüber jedoch noch immer unbeeindruckt zeigte, reckte der Beamte sein Kinn eine Spur höher. Der Hauch eines angenehm duftenden Rasierwassers wehte zu Boris herüber trotz der unangenehmen Luft im Abteil.

"Wenn Sie keine Fahrkarte haben, wird ein erhöhtes Beförderungsgeld in Höhe von DM 60,- fällig. Können Sie das bezahlen?"

Laut und deutlich betonte er jedes Wort, dabei wanderten seine Augen von links nach rechts, damit auch jeder der Umstehenden mitbekam, dass es teuer wurde, wenn man es wagte, ohne Bezahlung die öffentlichen Verkehrsmittel ihn Anspruch zu nehmen.

Immer dasselbe mit solchen Typen. Gib ihnen einen Fingerhut Macht und sie werden arrogant bis zum geht nicht mehr, dachte Boris. Er hatte schon lange genug von diesen Erfüllungsgehilfen der Staatsmacht. Vor deren Augen konnte man krepieren, doch sie wichen niemals von ihren Bestimmungen ab. Beamtenärsche!

Leise zischte er dem Schaffner ein paar deftige russische Schimpfworte zu. Auch wenn dieser nichts verstand, so registrierte er doch den Tonfall der Worte. Sie konnten nichts Schmeichelhaftes bedeuten, und das ließ sich der Dienstmann nicht gefallen.

Sein Kinn reckte sich noch eine Spur höher, so dass sein Körper nun fast auf den Zehenspitzen zu wippen begann, während seine Augen den Russen gnadenlos fixierten. Dann befahl er barsch:

"Kein Ticket? Kein Geld? Mitkommen!"

Ohne zu fragen packte er Boris Unterarm und zog den Russen mit sich zur Waggontür, seine Respekt gebietende Miene den im Weg stehenden Passagieren präsentierend, die leicht amüsiert, jedoch bereitwillig beiseite rückten, um ihn durchzulassen.

Nun erschütterte ein Ruck den Waggon. Der Zug verlangsamte endlich seine Fahrt. Auf diesen Augenblick hatte Boris gewartet. Blitzschnell fuhr seine freie Hand mit dem Messer aus der Manteltasche, stieß es bis zum Heft in die Brust des Schaffners und riss es wieder heraus.

Die schreckensweit aufgerissenen Augen des Schwerverletzten blickten ihn ungläubig an. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch kaum ein Laut drang aus seiner Kehle, während gleichzeitig die Zugbremsen lauter und lauter schrien. Dann knickten ihm die Beine weg. Verzweifelt umklammerte er noch immer den Unterarm des Russen. Doch seine Augen, die nicht begreifen konnten, begannen schon zu erlöschen, während sein Blut die Vorderseite der Uniform durchtränkte.

Boris riss sich ohne große Anstrengung von ihm los und öffnete die Waggontür, sein Opfer keines Blickes mehr würdigend. Er wusste, dass er den Mann schwer verletzt hatte, wahrscheinlich tödlich. Es war nicht schade um ihn. Eine Laus weniger auf der Welt. Noch während der Zug am Bahnsteig ausrollte, sprang er auf das Pflaster hinunter, erfasste mit einem Blick seine Umgebung und ließ dabei das blutverschmierte Messer in die Manteltaschen zurück gleiten. Dann hüpfte er leichtfüßig über die angrenzenden Schienenstränge bis zu einem asphaltierten Durchgang neben dem Bahnhofsgebäude und entschwand den Blicken.

Die meisten Mitreisenden hatten interessiert zugeschaut, wie der Schaffner den dubiosen Ausländer zur Waggontür schob. Man wusste, dass man Schwarzfahrer im Bahnhof der Polizei übergab, wenn sie sich nicht ausweisen konnten oder wollten. Diese Kontrollen wurden in letzter Zeit wieder häufiger durchgeführt, da die kostenlose Erschleichung einer Beförderung, wie es im Fachjargon hieß, stark um sich gegriffen hatte. Die Zeche dafür zahlten die ehrlichen Fahrgäste in Form von höheren Preisen. Daher war in nicht wenigen Gesichtern sogar etwas Schadenfreude zu erkennen gewesen, dass mal wieder einer erwischt worden war. Aber als sie nun den Kontrolleur in seinem Blut auf dem schmutzig-grauen Kunststoffbelag des Waggons liegen sahen, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck dramatisch, wurde geradezu verzerrt. Eine Frau schlug beide Hände vor den Mund, um nicht schrill aufzuschreien. Ein paar Leute reckten neugierig mit Entsetzen in den Augen die Hälse, um bestätigt zu bekommen, dass sie tatsächlich soeben Zeuge eines kaltblütigen Verbrechens geworden waren. Im ganzen Waggon wurde es für einen Moment totenstill, niemand sagte ein Wort. Die Menschen begriffen nur mühsam, was soeben wirklich geschehen war. Ein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Silvia Hinske
Bildmaterialien: Silvia Hinske
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7070-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ähnlichkeiten mit Personen und Örtlichkeiten sind beabsichtigt. Jedoch sind die Handlungen absolut fiktiv und haben nie stattgefunden.

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