Inhaltsverzeichnis
Der Autor 2
Vorwort 4
Und die Frauen 7
Auftritt beim Stadtfest 10
Auf dem Weg zum Silversurfer 17
Ausgebrannt 25
Musik – von nichts kommt nichts 34
Das Coming out 36
Phänomen Rock’n‘Roll 45
GI = ‘Government issued` 50
Rollis Dorf 63
Elvis, Beatles und Nebenwirkungen 55
Kindertee und Bübchencreme 61
Ossi, der Herr Konservatoriumsabsolvent 68
Klaus, der General-Musikdirektor 76
Joe; der Saiten-Tsunami 80
Das Jubläum 84
Wahrnehmungsdifferenz 91
Rock’n’Roll und Roggenbrot 102
Jung ein Musiker, alt ein Better 109
Handicap 114
Rock’n’Roll mit Migrationshintergrund 117
Der Blick ins Zukunftsfernglas 120
Der Autor
Gustl Mair, Jahrgang 1949. Nach einer erfolgreichen Berufslauf-bahn als verantwortlicher Marketing- und Verkaufsleiter in verschiedenen Branchen orientiert er sich neu. Allerdings muss er dabei den leidvollen Umweg über Depressionen – heute auch oft Burnout genannt –
gehen. In diesem persönlichen Trauertal ent-deckt er wieder sein scheinbar verschüttetes musisches Potenzial und vertieft im reifen Alter seine vorhandenen Fähigkeiten durch Ausbild-ung im Gitarrenspiel, Gesang und der Malerei. Dadurch erschliesst er sich neue Dimensionen der Lebensqualität. Ob es allein an der intensiven Beschäftigung mit diesen Künsten liegt, dass er nie mehr auch nur in die Nähe von depressiven Verstimmungen kam, kann natürlich kein Mensch so ganz genau sagen. Doch er selbst hält es zumindest für möglich.
Die Idee zu der folgenden Geschichte entstand bei seiner Suche nach einem lustigen Buch für einen Freund zu dessen 60. Geburtstag. Nachdem Gustl Mairs Recherchen in Buchhandlungen und im Internet nach einem derartigen Buch ohne Erfolg blieben, fasste er kurzerhand den Ent-schluss:
‘Dann schreibe ich eben selbst ein solches Buch !’
Für T. & C.
Foto:
Günter Kraus
Illustrationen:
Werner Mittelbach
Vorwort
Im Mittelpunkt der folgenden Geschichte steht Rolli, ein Angehöriger der Generation 50Plus.
Wenn Männer in die Zielgerade ihres Lebens einbiegen, haben sie meistens die drei Hauptan-forderungen an ein Männerleben erfüllt: Baum pflanzen, Haus bauen, Sohn zeugen – die Reihen-folge kann dabei auch anders sein. Alternative Grosstaten wie Parteimitglied werden oder sich zum Vereinsvorstand wählen lassen, Marathon-läufe bewältigen, schneebedeckte Berggipfel er-klimmen oder in dunkle Meerestiefen hinabtau-chen , zählen natürlich auch als hervorragende, große Leistungen eines Männerlebens.
Doch letztlich hängt dann auf der Lebenszielgera-den eine neue, grosse Frage dumpf unbeantwor-tet und schwer wie das Schwert des Damokles über ihnen. Was bleibt noch? Oder besser:
kommt da noch etwas ?
Diese Geschichte erzählt von Rolli, laut Reise-pass offiziell Roland und laut Datum in diesem unbestechlichen Dokument bereits einige Jahre Zugehöriger der Generation 50plus. Und von seiner Wandlung vom unbescholtenen Bürger zum Rock’n’Roll-Musiker im Seniorenalter.
Während Rolli früher viele Jahre aufgrund seines reiseintensiven Berufes ein Leben aus dem Koffer führte, wohnt er heute in einem überschaubaren 1.000-Seelen-Dorf mit viel Bodenerdung. Doch seine globale Perspektive möchte er nicht missen. Die hat er einfach beibehalten.
Und die Frauen ….
….. und deren Weg in die 50Plus-Phase? Ohne Frage: das KKK-Modell ‘Küche, Kinder, Kirche’ hat längst ausgedient. „Glaubst du denn wirklich, dass deine Geschichte zur Opa-Wandlung aus-schliesslich für Männer gilt …. ?“, klagte seiner-zeit eine Bekannte, als er ihr von seinem Buch-projekt ‘Opa & der Rock’n’Roll’ erzählte . Ihr Kommentar war durchaus plausibel, insbeson-dere, als sie ihre Sichtweise noch weiter erklärte: „Neulich las ich in einer Marketing-Fachzeit-schrift einen Artikel über’s Älterwerden“, be-merkte sie voller Hingabe, „und wunderte mich darüber, dass darin nur sechs Männer und nicht eine einzige Frau interviewt wurden. Ein Merk-mal der neuen 50plus-Generation ist doch gerade auch die ‚Neue Frau‘!“ Und sie meinte dazu wei-ter: „Mich hätte an dieser Stelle schon interessiert, wie Frauen diese neue Lebensphase für sich inter-pretieren. Von ein paar berühmten Alterskol-leginnen wie Madonna, Demi Moore, usw. weiss man das ja aus allen möglichen Promi-Magazinen und TV-Sendungen. Aber gerade von normalen Frauen, die beispielsweise wie ich in der Market-ing- oder Medienbranche ihren ‚Mann‘, eigentlich besser ihre ‚Frau stehen_, erfährt man das eigent-lich kaum. Dabei ist dochgerade in meiner Branche der Druck des ‘Ewig Jungseins’ beson-ders hoch!“.
Dieser weibliche Einwand stimmte mich nach-denklich. Sollte man nicht den Versuch eines verbindenden Wortes zum anderen Geschlecht unternehmen? Es ist bestimmt jedermann be-wusst, dass man im Zeitalter der gesetzesgestütz-ten Quotenfrauen eigentlich nicht mehr am anderen Geschlecht achtlos vorbeigehen bzw. vorbei schreiben sollte. Doch letztlich sind der Autor und auch der Hauptakteur dieser Ge-schichte Männer. Wäre es da nicht vermessen, den Versuch zu wagen, die Denk- und Sichtweise von Frauen in diese Geschichte hineinzuinter-pretieren, nur um dem Geschlechterproporz genüge zu tun?
Im Endeffekt verhält es sich doch bei der Geschlechterbeziehungen ein bisschen wie mit linker und rechter Gehirnhälfte. Das Optimum liegt vermutlich im Streben nach einem Aus-gleich, einem mittleren Weg der Ganzheitlich-
keit. Das sich gegenseitig Akzeptieren und dem anderen seinen Raum lassen, kann zu einer Entspanntheit führen, die einem schon zu Lebzeiten ein kleines Paradies schaffen und beiderseitigem Seelenfrieden verhelfen kann. Andererseits ist es auch nur ein schmaler Grat zwischen der ‘Ja, Mutti’-Hingabe aus Männer-sicht mit dem Verlust der Selbstbehauptung bis hin zu nervenzehrenden Geschlechterkämpfen. Doch die 50Plus-Lebensetappe lässt eigentlich gar keine Zeit zu sinnlosem Streiten. Sollten sich nicht sowohl Männer als auch Frauen ihre Ener-gie in Toleranz und Eintracht auf die neu ansteh-enden Aufgaben dieses Lebensabschnittes kon-zentrieren?
Der Auftritt beim Stadtfest
Das Publikum war sofort im Bild. Besser gesagt ‘im Ton’, denn der akustische Wiedererkenn-ungswert der ersten Akkorde des Startliedes von Rolli’s Band liessen keinen Zweifel zu: die Melo-die von Elvis‘ ‘Jailhouse Rock’ hallte unverkenn-bar aus der Verstärkeranlage und liess vermut-lich auch die Spatzen von den Dächern mitpfei-fen. Wahrscheinlich kroch die Musik sogar in alle Winkel des kleinstädtischen Marktplatzes und animierte wahrscheinlich auch die Kellerasseln in den Mauerritzen mit ihren vierzehn Asselbein-chen zum rhythmischen Mitstampfen.
Rolli wusste aus vielen Marketing-Berufsjahren, dass Produkte und Dienstleistungen möglichst ein sogenanntes Alleinstellungsmerkmal kenn-zeichnen sollten. Sprich, es mußte gegenüber der Konkurrenz einzigartig, also nicht vergleichbar sein. Fanatische Englisch-Nutzer, also sog. ‘Hea-vy user’ englischen Vokabulars nennen ein sol-ches Alleinstellungsmerkmal auch gerne ‘USP = unique selling proposition’. Obwohl man dazu genauso gut in gediegenem Deutsch ‘EVA = Ein-zigartiger Verkaufsaspekt’ sagen könnte. Und so boten Rolli und seine Band ihre Musiktexte in ‘phonetischer Kongruenz’ an. Ihre Spezialität war es nämlich, anglo-amerikanische Liedtexte ins Deutsche zu übersetzen. Jedoch nicht nach dem Wortsinn, sondern nach dem Wortklang und in passendem Versmass. Also eben in phonetischer Kongruenz. Und das klang bei der Version des
‘Jailhouse Rock’ von Rollis Band dann so:
Mutti macht Gymnastik
Wenn Mutti in der Küche die Kartoffel (t)schält
Und ihre rot lackierten Fingernägel quält
dazu wippt die Hüfte und dann voller Swing
Denkt sie an den Abend und sie hüpft und singt
Jetzt hopp, zur Gymnastik, zack-zack
Alle Mädchen hupfen dort halbnackt
Und Mutti schlägt dazu den Takt
Der Plattenspieler heizt den Damen kräftig ein
Porentiefer Schwoiss, den bringt kein Deo klein
Der Bodystocking zwickt und ist fast zu eng
mancher BH-Träger reisst mit sanfte, Peng.
Jetzt hopp ....
Mutti schnauft ins Ohr der drallen Rosmarie
Mensch, schaust du heut‘ gut aus mit dem Minipli,
Es wäre eine geile Sache, du mit mir
Wenn wir zwei Boogie tanzen bis morgen Früh.
Jetzt hopp....
Marie sitzt ganz still in’einer Ecke `rum
Schaut den Tänzerinnen zu und ist völlig stumm
Marie sei nicht traurig, sondern bleib ganz cool
Hast du keinen Partner, tanz’ halt mit `nem Stuhl
Jetzt hopp....
Kenner des Orignaltextes und Feinschmecker des ‘klanglichen Übersetzens’ können sich die Gegen-überstellung des Presley’schen Originaltextes und der Version von Rolli’s Band auf der Zunge zergehen lassen.
Ob die Leiterin des Kulturamtes Rolli’s ‘Jungs’ wegen diese Texteskapaden oder aufgrund ihrer eigenartigen Instrumente-Zusammensetzung ausgewählt hatte? Denn ein Rock’n’Roll-Konzert – oder ‘Gig’, wie viele Musiker zu einem Live-Auftritt sagen - mit Akkordeon, Akustik- und E-Gitarre verspricht schon leicht schräge Weisen. Oder ob sie die ‘Herren’ aufgrund ihrer fort-geschrittenen Jugend engagiert hatte – schliess-lich hatte jeder der drei Musiker schon mehr als 50 Jahre auf dem Buckel – war nicht herauszu-finden. Und Rolli als ‘Frontman’, also einer Art Vorsänger mit einer Gitarre vor dem gewölbten Schnitzelmuskel gehängt, hatte in diesem Jahr sogar schon die Sechzig vollgemacht.
Sechzig und Rock’n’Roll mag sich so mancher denken!? Das passt doch wie Champagner und Kamillentee oder Bockwurst mit Kaviar …..
Doch Rolli und seine Partner Klaus und Joe lieferten eine lässige Vorstellung – oder ‘coole Performance’, um es in jugendlichem Neudeutsch auszudrücken. Zu solidem Musikhandwerk hat-ten sie mit ihren eigenwilligen Textübersetz-ungen eine echt überraschende Besonderheit auf Lager. So wurde dann aus Eddie Cochran’s knackiger Rocknummer ‘Summertime Blues’,
sinngemäss eigentlich ‘Sommerblues’ übersetzt, bei Rollis Band ‘Im Sommer deine Blus(e)’. Oder der Moody Blues-Schmachtfetzen ‘Nights in white satin’ mutierte in ‘Schneuz‘ nicht in Serviet-ten’. Und völlig respektlos verwandelten Rolli und seine Mitmusiker Ike & Tina Turner’s ‘Nut-bush City Limits’ in ein freches ‘Knackwurst iss ich nimmer’.
Trotz der Oldie-Melodien scharten sich bald viele junge Leute direkt vor der Bühne, um zum Takt der meist flotten Melodien mitzuwackeln und mitzuwippen. Genauer gesagt die Teenies ‚groovten‘. Manches der Mädchen zeigte dabei ein Zahnspangen-blitzendes Lächeln, während sich Rolli wunderte, wie grazil sich einige Jungs
trotz ihrer klobigen Turnschuhe zur Musik bewe-gen konnten.
Das ältere Kleinstadt-Publikum verweilte zu-nächst an den Biertischen, die die Innenstadt füllten und wackelte zunächst verhalten mit. Immerhin klatschte es artig Beifall, gab sich je-doch zunächst lieber verstärktem Bierkonsum aus den bayernüblichen 1-Liter-Krügen hin. Verständlich – denn schliesslich heizte die Sommersonne mit reichlich über 30 Grad den festlichen Marktplatz gnadenlos auf. Die Bühne mit ihren dunkelblauen Kunststoffwänden und gleichfarbigem Regendach wurde bei diesen tropischen Temperaturen zu einer richtigen Bio-Sauna für Rolli und seine Kollegen.
Musizierende Schnell- und Vielschwitzer können am ehesten nachempfinden , dass die Koordinat-ionsarbeit beim Musikmachen, also dem aufein-ander abgestimmten Singen und gleichzeitigem Instrumentspielen in Verbindung mit rhyth-mischen Körperbewegungen eine verstärkte Schweissproduktion hervorruft. Und so fühlen sich Musikerhemden schon bei Zimmertempe-ratur nach einem zweistündigen Konzert meist duschgetränkt nass an. An diesem heissen Som-mernachmittag in der plastikeingehausten Bühne kam es jedoch zu wahren Transpirations-Was-serfällen. Schon nach wenigen Minuten spürte Rolli die Schweissströme vom Haupthaar förm-lich in Sturzbächen zwischen der Rückenmus-kulatur sich in Richtung Gesässschlitz bewegen. Um sich dann, fast wie die rauschende Strom-schnelle eines Gebirgsflusses an den Socken-rändern aufzustauen wie volle Regenkanäle bei einem Wolkenbruch. Anstelle eines Taschen-tuches wäre eher ein Stoffstück in der Grösse eines Bettlakens hilfreich zum Abtrocknen ge-wesen, um die salzigen Schweissströme aus den Augen, vom Hals und Nacken zu wischen.
Dennoch war es ein besonderes, unvergessliches Erlebnis für Rolli. Der Auftritt auf dem Markt-platz dieser Stadt vor grossem Publikum hatte für ihn noch eine ganz andere, sehr intensive, per-sönliche Dimension. Während er an diesem Nachmittag mit seinen Darbietungen die anwesenden Gäste zum Klatschen und Lachen brachte - und was für ihn noch viel wichtiger war, seinen eigenen Körper durch die himmlischen Sphärenklänge der Musik in positive Schwingungen versetzte – weckte Rollis Erinnerung an vergangene Jahre und diese Stadt durchaus auch gemischte Gefühle. Denn schliess-lich war hier auch eine zweifelhafte ‘Berühmt-heit’ zu Hause, nämlich das BKH – das Bezirks-krankenhaus für Psychiatrie. Doch davon soll später noch die Rede sein.
Auf dem Weg zum Silversurfer
Erfreulicherweise haben ja die wenigsten Renten-anwärter ihre Gesundheit oder gar ihr Leben auf dem Altar der Berufskarriere geopfert. Geschürt durch aufreibenden Kleinkrieg mit dauerfordern-den Kunden, ständig optimierungsorientierten Vorgesetzten oder Mitarbeitern mit völlig ande-ren Prioritäten in ihrer Lebenszielplanung als ihre Führungskräfte fordern ihren beruflichen Tribut. Und dann steht man eines schönen Tages am En-de dieses Arbeitslebens und ist plötzlich vor einer anderen , gewaltigen Aufgabe angelangt: der Neuorientierung durch vorgezogenen oder regul-ären Ruhestand. Nun wird man in unseren Tagen ja nicht mehr alt - man mutiert zum ‘Silversurfer’ oder wird zum Mitglied der ‚Generation 50Plus‘.
Endlich Zeit für die Familie! Ach, du lieber Him-mel! Oder wenigstens für die Enkel. Wenn man schon das Aufwachsen der eigenen Kinder auf-grund von Dauerüberstunden wegen Bauspar-verpflichtungen fürs Eigenheim, Mercedes-Raten oder schlicht übersteigertem Berufsego überwie-gend verpasst hat.
Da gibt es dann Jungsenioren, die sich in diesen veränderten Zeiten in dubiose, enkelaltrige Jungblondinen-Abenteuer stürzen, während andere die Orchideen- oder Bienenzucht als neuen Lebenssinn entdecken. Und manche ver-fallen gar in eine bleierne Agonie, eine Art dum-pfer Todessehnsucht.
Summa sumarum - es gibt keinen Zweifel – der Lack scheint ab.
Auch Rolli hat das Gröbste seines Arbeitslebens hinter sich. Oder in Zahlen und Fakten ausge-drückt: Rolli ist jetzt sechzig und gehört damit zu den Vorruheständlern. Eigentlich heisst Rolli ja Roland. Doch seit Menschengedenken nennen ihn Familie, Freunde und Bekannte einfach Rolli. Dabei weiss niemand so recht, ob er sich selbst dieses Kürzel verordnet hat. Vielleicht schämt er sich ein bisschen seines vollen Namens, den der berühmte kriegerische Namensvetter auf dem Bremer Marktplatz trägt: die über 700 Jahre alte steinerne Roland- Statue.
Oder das Kürzel ‚Rolli‘ hat mit seiner barocken Erscheinung zu tun. Denn immerhin verteilen sich stolze 110 Kilo auf vielleicht eine etwas zu geringe Körpergrösse von lediglich 1 Meter und achtundsiebzig. Seine daraus resultierende Art der Fortbewegung wird daher von manchen sei-ner Mitmenschen mehr als rollend, denn als gehend wahrgenommen?
Doch egal ! Warum sich jetzt noch groß verbie-gen – Rolli ist und bleibt Rolli, mit Hingabe und aus Überzeugung. Denn schliesslich kann er trotz seiner fortgeschrittenen Jugend voller Freude und Selbstbewusstsein in die Zukunft blicken. Rollis Lebenselexier seiner Drittzähne-Zeit ist weder weiblich, jung und blond, noch ist er Phaleonop-sis-Orchideenkult-Huldiger und auch nicht Apistik-Jünger, also Anhänger der Bienenzucht. Ihn lähmt auch nicht der bleierne Druck einer Altersdepression, die Geist und Knochen zermürbt. Seine Hingabe und Leidenschaft pendelt zwischen Dur und Moll – er liebt und lebt die Musik. Und das Musikmachen.
Vor kurzem durchflutete ihn deswegen sogar eine gewaltige Portion Stolz, die andere vielleicht bei der Verleihung von Urkunden oder Orden empfinden.
‘Hallo, Ihr Hübschen!’, flötete Rolli im Vorbeige-hen seiner 11-jährigen Grossnichte Anja und de-ren Freundin zu, die sich gerade abmühten, ein Einrad zu besteigen. Für ihn eines der letzten Sportgeräte-Mysterien, das er nie beherrscht hat..
Und noch während Rolli um die Nachbarhaus-ecke bog, hörte er Anja zu ihrer Freundin sagen: ‘Du das war der Onkel von meinem Papa. Und der spielt Rock’n’Roll !’
„War das jetzt ein Kompliment oder eher die Beschreibung einer Verhaltensstörung?“, dachte Rolli kurz darüber nach. Zur Stabilisierung seines Ego entschied sich für Ersteres, also für das Kom-pliment. Denn wer spielt schon im Frühling auf-kommender Gedächtnisschwäche oder am Hori-zont drohender Inkontinenzhöschen noch Rock’n’Roll-Musik in einer Band ?
Warum deshalb also Schamröte entwickeln ?
Auch Anjas Vater, Rollis Neffe Michael und dessen Frau war bewusst, dass dieser Onkel Rolli so ganz anders als andere Onkels war. Deshalb verliehen sie ihm anlässlich eines runden Ge-burtstages eine Art Würdentitel – nämlich den des ‘Fertigen Onkels’. Geschickt liess es dabei der Neffe Michael offen, welche Wortbedeutung von ‘fertig’ damit gemeint war: das ‘fertig’ im Sinne von ‘komplett, beendet, abgeschlossen’ oder das ‘fertig’, mit dem gelegentlich ‘kaputt, erledigt, verrückt’ umschrieben wird. Wie kaum anders zu erwarten, nahm auch hier Rolli bei der Interpretation seines neuen Titels ‘Fertiger Onkel’ die erste, positive Version für sich in Anspruch. Und dieser Titel begleitet ihn im Familienjargon noch heute.
Rolli empfindet ohnehin den Jugendwahn unse-rer Zeit in erster Linie als eine Erscheinung der Werbewerte-Gesellschaft, wo man Alter in erster Linie über Gebissreiniger, Rheumasalben und Betreutes Wohnen definiert.
Ganz anders als zum Beispiel in exotisch-orient-alischen Gesellschaften. Dort sieht man Alter meist in Verbindung mit Weisheit und Respekt.
Rolli denkt dabei besonders gerne an seinen türkischen Freund Ismail, der ihm einst beim Anblick von Rollis ergrautem Bart das türkische Wort ‚Aksakal‘ (Akschakal) erklärte. ‘Bei uns be-deutet ‚Aksakal’ etwa ‚Weissbart‘ und man meint damit einen ’ehrwürdigen, alten Mann‘. So nennt man bei uns im türkischen Sprachraum auch oft den Dorfältesten.’, klärte ihn Ismail auf. Beim Gedanken an den ‚Aksakal‘ sieht sich Rolli dann manchmal an einem sonnigen Plätzchen beim Teetrinken in einem westanatolischen Pfirsichhain sitzen, Wasserpfeife rauchen und zwischendurch liebevoll eine Baglama - die türkische Laute - mit den Fingern zupfen.
Doch zurück in deutsche Lande mit einem Blick auf die 50Plus-Opas und –Omas, die sich um die Sechzig oder mehr bewegen.
Deren Beitrag zur Alterspyramide und die nicht zu leugnenden demoskopischen Fakten der Al-tersentwicklung unserer Gesellschaft haben ja inzwischen sogar viele von ansonsten visions-befreiten Politker entdeckt. Und nach Jahrzehn-ten der Jugendverherrlichung, vor allem durch die stets Zeitgeist-prägenden Jungdynamiker in den Werbeagenturen und die vermeintlichen Meinungsmacher bei Radio- und TV-Sendern - spricht man heute in diesen Kreisen eben von ‘Altersmix’, der ‘Generation 50plus’ oder von ‘Silversurfern’. Spät, aber immerhin, denn das als unbestechlich geltende Statistische Bundesamt glaubt zu wissen, dass in 50 Jahren jeder dritte Deutsche über 50 Jahre sein soll.
Rolli amüsiert es, dass nach den Zeiten des Jugendwahns auch in den Unternehmen bei solchen Zahlen die Alarmglocken schrillen. Im Gleichklang mit namhaften Zeitungen heisst es da plötzlich, man wolle ‚Älteren Kunden gerecht werden‘ oder ‚dem Alter seinen angemessenen Platz in unserer Gesellschaft geben‘. Und die nach Umsatz und Euro gierende Karawane hechelt wie immer hinter ihrem Profit her.
Schon wird ein 60-jähriger Konsument mit dem zweifelhaften Titel ‚Vier-Generationen-Käufer‘ bedacht. Will heissen, dass bei dessen Verbrau-cherverhalten sein Eigenkonsum, das seiner Eltern, seiner Kinder und seiner Enkel beim Einkaufsverhalten eine Rolle spielen. Und schon peilen die Verkäufer z.B. bei einem 60-jährigen Geburtstagsjubilar nicht nur dessen Enkel, Kin-der und Eltern als Zielgruppe an, damit all diese Personen mit Geschenken den Konsum anheizen, sondern auch der Jubilar zu seiner Feier und natürlich auch anderen Festtagen seinen Geld-beutel öffnet.
Schön, dass man diese neue Wertschätzung des Alters noch erleben darf – auch wenn sie in erster Linie geld- und umsatzgeilen Gehirnen ent-springt.
In einem derart weihevollen Werbebranchen-Wertschätzungsmoment fällt Rolli manchmal der Kinofilm ‚Network‘ aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein. In dessen Handlung erhält der langjährige Starmoderator einer Fernsehsendung seine vorgezogene Kündigung, weil er altersmässig nicht mehr in das Programm-schema passt.
In seiner letzten Sendung fordert dieser Modera-tor aus Verärgerung seine Zuschauer nochmals zu einer solidarischen Gemeinschaftsaktion zi-vilen Ungehorsams auf. Er verkündet vor laufen-den Kameras: ‘Öffnet alle eure Fenster und ruft hinaus: Ihr könnt mich alle am A … lecken!’ Tatsächlich taten sich eine gewaltige Anzahl von Fenstern in der Stadt auf und es hallte dieser Ruf wie Donnerhall durch den Nachthimmel und in die Ohren der Ein-schaltquoten-geilen Fern-sehleute: ‘Ihr könnt mich alle am A … lecken!’
Doch braucht man für eine solche L.m.a.A.-Haltung und ein derartiges Handeln einen Fernsehfuzzi, der Filme und Sendung über ein quasi Second Hand-Leben produziert und sendet? Rolli jedenfalls nicht …
Texte: H.-R. Mayer
Bildmaterialien: H.-R. Mayer
Alle Rechte vorbehalten