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Die Maske

Ich wäre mit dir glücklich gewesen. Glücklich wenn mein Leben nicht vom ersten Augenblick, vom ersten Atemzug an eine Lüge gewesen wäre.

1. Kapitel

Lass dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über Glück, über Liebe, Freundschaft, über Hass, über Verrat gar über Mord. Alles habe ich erlebt, alles, und wenn ich heute darauf zurückzublicken versuche fällt es mir schwer. Was können zwei Jahre an einem Menschen verändern, rein nichts? Oder alles? Für mich ist es egal, wie du dich entschieden hast. Ich werde mich nicht mehr um entscheiden.

Ich wurde in England in einem Dorf nahe Canterbury geboren. Am 7. Mai. Drei Jahre später wanderte meine Mutter mit mir nach Deutschland aus. Warum sie damals diese Entscheidung traf hat sie mir nie selbst verraten. Vielleicht erinnerst du dich daran wie ich zu dir sagte, dass ich es eines Tages herausfinden würde. Genau wie die vielen anderen Ungereimtheiten die mein Leben schon damals kennzeichneten, darunter auch jenes Geheimnis um meinen Vater, den ich nie kennengelernt habe. Am Ende des Buches wirst du alle Antworten kennen. Doch zurück zum Anfang. Abgesehen von meiner rätselhaften Herkunft hatte ich mich nie anders gefühlt als meine Freunde. Ich hatte nichts, was sie nicht auch hatten. Manchmal ärgerte es mich, das gebe ich zu. Du wirst dich sicher daran erinnern, wie ich dir damals schon die Ohren mit meinen Problemen gestopft habe. Verrückt, dass ich es nach so vielen Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben, wieder tue. Ich frage mich mit welchem Zweck ich dieses Buch schreibe. Möchte ich damit viele Menschen erreichen und sie über die Ungerechtigkeiten auf dieser Erde aufklären oder schreibe ich es nur für dich als Erklärung für das was unweigerlich kommen wird.

Nun, du kennst das kleine Dorf in dem wir aufgewachsen sind und in dem es nicht mehr als einen Supermarkt, eine Bibliothek samt Archiv und ein kleines Café gibt. Ich erinnere mich gerne an die Tage die wir auf dem Sankt-Michaels-Platz verbracht haben. An dem Tag, an dem alles begann warteten wir dort zu zweit auf unsere Freunde. Es war der Tag, an dem die beiden Männer zum ersten Mal auftauchten. Reglos standen sie an eine der roten Hausmauern gelehnt. In der Gasse zwischen Supermarkt und Café. Erst habe ich sie gar nicht bemerkt. Sie wären mir nie aufgefallen wäre nicht Anders genau aus dieser Gasse auf uns zugekommen. Erinnerst du dich noch an Anders? Karl Anders der seinen Vornamen hasste und seinen Nachnamen liebte? Tja, wir waren alle in irgendeiner Hinsicht verrückt damals. Ich erinnere mich noch genau an die unzähligen Male die er, mit dem für ihn typischen Grinsen auf dem Gesicht, auf uns zugelaufen kam und dabei so lange Schritte machte, dass es jedes Mal an ein Wunder grenzte, dass er nie hinfiel. „Hallo meine Freunde!“, rief er jedes Mal schon von weitem. Wenn er dann nah genug war, ging er die Reihe seiner Freunde entlang und begrüßte jeden mit Handschlag und dem jeweiligen Namen. Er strahlte immer Zufriedenheit aus und war völlig im Einklang mit sich und der Welt. Ich habe ihn dafür geliebt. Eher aus einer Art Erwartung heraus fiel mein Blick noch einmal auf die kleine Gasse, aus der Anders gekommen war. Ich dachte Tim würde ihn seiner Begleitung sein. Die Beiden wohnten in der gleichen Straße, so wie du und ich, deswegen wäre es nicht ungewöhnlich gewesen. Statt Tim sah ich die beiden Männer. Ich kam nicht um den Gedanken herum, dass sie uns beobachteten. Der eine von ihnen hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Der andere stand so im Schatten, dass ich ihn eigentlich kaum sehen konnte. Sie unterhielten sich leise. Ich nahm nicht war, dass Anders mir die Hand zu Begrüßung hinhielt. Erst als er zum zweiten Mal laut meinen Namen sagte schreckte ich auf. „Schlaf nicht, Rup! Was ist denn los?“ Hast du lachend gesagt. Genau in dem Moment als der Mann mit der Mütze aufsah und sich unsere Blicke kreuzten. Er hatte pechschwarze Augen und ich schaffte es nicht seinen Blick einzuordnen. Verwirrt riss ich mich vom Anblick der Beiden los. „Wo ist Tim?“, fragte ich Anders. „Krank!“, ich nickte. Wieder grinste Anders. „Weiß einer wo Schorsch und Max stecken? Und wo ist eigentlich unser kleiner Freund Sammy?“ „Keine Ahnung! Hat der nicht Klavierunterricht?“, antwortetest du. „Ja unser kleiner Sammy, der wird noch mal Karriere machen!“, meinte Anders daraufhin und grinste. „Lass ihn das bloß nicht hören.“, mischte sich eine weitere Stimme ein. Wir zuckten zusammen. Max und Schorsch waren eingetroffen. Ich warf erneut einen Blick auf die Gasse aber die beiden Männer waren verschwunden. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Du musstest das gesehen haben weil du mir einen fragenden Blick zuwarfst. 'Später!' gab ich dir stumm die Antwort. Ich hätte die Männer damals vergessen, hättest du mich nicht auf dem Heimweg gefragt was los gewesen wäre.

Das zweite Mal sah ich die Männer in der darauf folgenden Nacht. Ich konnte nicht schlafen und wie so oft, setzte ich mich deswegen an meine Terrassentür um nachzudenken. Der Himmel war bewölkt. So als würde er mein Urteil schon gefällt haben. So als wüsste er was auf mich zukommen würde. Eine Zeit lang starrte ich fasziniert die Wolken an, die oben am Himmel vorbei fegten wie bei einem Wettkampf, einem Wettlauf mit der Zeit, als würden sie eine möglichst weite Strecke zurücklegen wollen, möglichst viel sehen wollen. Habe ich mich nicht damals gefragt, was es bringt vor seinem Schicksal davon zulaufen? Ich habe mich gefragt, warum die Wolken wandern, vor dem Regenguss, und warum sie das manchmal schnell und manchmal langsam tun. Ich glaube ich verstehe sie jetzt. Jenes Leben ist zu kurz um lange an einem Ort zu verweilen. Ich bin eine von den schnellen Wolken. Das was andere in Jahren erleben, erlebe ich in Monaten. Das was für andere harmlos ist, hat bei mir doppelte Auswirkungen. Ich weiß nicht wie ich diese, meine Gefühle anders erklären soll, mein Denken, mein Handeln. Es ist schon merkwürdig wie sich am Ende alles zusammenfügt. Alles was man über Jahre hinweg als große Rätsel empfunden hat. Ist man vielleicht erst dann bereit zu gehen wenn die vielen Fragen endlich Ruhe gefunden haben? Ich weiß es nicht und ich werde es auch bis zum Ende nicht wissen. Wenn ich es weiß, dann ist es zu spät anderen davon zu berichten. So saß ich also damals als kleiner Junge vor dieser Glasscheibe. Nichts ahnend, friedlich, bis zu diesem Moment, als mich die Wirklichkeit einholte und ich zu rasen begann wie die Wolken. Bis sich mein Angesicht verzehrte und mich keiner mehr gerne ansehen mochte. Wo ich mich nur unter meinen Kumpanen aufhielt, da wo ich Willkommen war, weil ich mit ihnen zusammen vorpreschen konnte und andere mit zog um ein Unwetter an Ort und Stelle zu verhindern. Die Männer tauchten plötzlich auf. Wie beim ersten Mal standen sie reglos da, wie Gespenster, böse Geister in der Nacht. Sie starrten unser Haus an. Einen kurzen Moment dachte ich darüber nach meine Mutter zu wecken, doch ich besann mich schnell eines Besseren. Die Männer sahen nicht so aus, als würden sie jetzt, an Ort und Stelle, irgendetwas Unüberlegtes tun. Außerdem hatte meine Mutter schon genug andere Sorgen. Wahrscheinlich würde sie mir erzählen ich hätte schlecht geträumt und sich noch nicht einmal die Mühe machen aufzustehen und zu gucken. Nicht, dass ich ihr deswegen böse gewesen wäre. Das alles klang tatsächlich mehr nach einem bösen Traum. Und doch standen die Männer dort unten. Ich erkannte den mit der Mütze nur zu deutlich wieder. Im fahlen Licht der Straßenlaternen konnte ich nun auch den anderen genauer sehen. Er trug eine schwarze Lederjacke und trotz der Dunkelheit hatte er eine Sonnenbrille aufgesetzt. Soweit man es erkennen konnte hatten beide markante Gesichtszüge, die dadurch besonders hervortraten, dass sie ziemlich grimmig dreinschauten. Der mit der Sonnenbrille begann nach einer Weile unruhig von einem Bein auf das andere zu treten. So lange bis der andere beruhigend seine Hand auf dessen Schulter legte und begann ihm etwas zu zuflüstern. So leise wie irgend möglich erhob ich mich von meinem Platz an der Terrassentür und schlich zum Fenster um es einen Spalt zu öffnen, nicht einfach das geräuschlos hinzubekommen, du solltest es bei Gelegenheit einmal ausprobieren. Jedenfalls, als ich es geschafft hatte war von draußen nur das Geräusch des pfeifenden Windes und das leiser werdender Schritte zu hören. Die Männer waren verschwunden. Die ganze Nacht wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Doch während es davor einfache Schlaflosigkeit gewesen war, so war es jetzt etwas anderes was mich wach hielt.

Was wollten diese Männer?

2. Kapitel

Ich musste dann ziemlich überstürzt aufbrechen, dass ich die Männer in jener Nacht vor meinem Haus hatte stehen sehen hat wohl letztendlich mit dazu beigetragen. In den nächsten Tagen war ich besonders wachsam, und das obwohl ich seitdem nicht eine Nacht ruhig geschlafen habe. Ich kam morgens in die Schule und konnte mich nicht eine Sekunde auf den Unterricht konzentrieren. Stattdessen fielen mir ständig irgendwelche Kleinigkeiten auf. Meist waren es Geräusche, die nicht weiter erwähnenswert sind. Aber es gab ein Geräusch welches mich Tag und Nacht verfolgte. Das Geräusch von Schritten. Ich glaube es war nur meiner Aufmerksamkeit zu verdanken, dass ich den Männern nie alleine über den Weg lief, denn sie schienen hinter jeder Ecke zu lauern. Es war nicht zum aushalten. Ich hatte nicht gewusst wohin ich wollte als ich aufbrach, als ich am Bahnhof stand mit meiner Reisetasche. Ich hatte nur die nötigsten Sachen eingepackt, eine Jeans zum wechseln, zwei Pullis, drei T-shirts, Socken und Unterwäsche, Kosmetikbeutel, daneben hatte ich meinen Schlafsack gequetscht, zwischen den Pullis und der Hose lag eine Kiste, meine Schatzkiste sozusagen. Darin befanden sich meinen Ersparnissen, die immerhin inzwischen eine stolze Summe von 400 Euro betrugen, dazu einige Briefe, Fotos von meiner Familie und meinen Freunden, ein zu diesem Zeitpunkt noch funktionierender Wecker und Stifte. Da der nächste Zug, der auf der Anzeigetafel angezeigt wurde, nach Stuttgart fuhr und ich mich nicht länger als nötig am Bahnhof aufhalten wollte löste ich eine Fahrkarte am Schalter und stieg ein. Als der Zug abfuhr saß ich mit dem Gesicht zum Fenster in einem leeren Abteil und dachte nach. Die ganze Sache war so unsicher. Ich hätte nur im falschen Moment Aufmerksamkeit erregen müssen und alles wäre umsonst gewesen. Mir war klar, dass ich irgendwo untertauchen musste. Zumindest so lange bis ich in Vergessenheit geraten würde. Ich fühlte mich einsam und wünschte mir die Zugfahrt würde Unterhaltsamer sein. Ich bereute es mir keine Beschäftigung mitgenommen zu haben die mich davon abhielt zu denken. Natürlich hatte ich dir gesagt was ich vorhatte. Dir war genauso wenig wie mir entgangen, dass uns dieselben Männer zu oft über den Weg liefen, als dass es hätte Zufall sein können. Sie verfolgten uns auf Schritt und Tritt.
„Lillian die suchen mich, die haben den Namen Delton gehört, irgendetwas ist da faul!“, ich erinnere mich noch so genau an den Zeitpunkt wo ich dir Entscheidung getroffen hatte abzuhauen.
„Bleib ruhig!“, antwortetest du.
„Ich versuch es ja, aber ich meine warum stehen sie mitten in der Nacht vor meinem Haus?“
„Rupert, ich weiß nicht was es mit den Männern auf sich hat. Wahrscheinlich ist das alles nur ein blöder Zufall.“, es war nichts hinter deiner Stimme während du sprachst. Du glaubtest nicht an das was du mir sagtest.
„Lillian, bitte!“, dein Blick wurde besorgt als meine Stimme während ich sprach weg brach. Du hobst zögernd eine Hand, vielleicht um mir zu signalisieren, dass du noch nicht alles gesagt hattest was du dachtest. Ich blickte mich nervös nach allen Seiten um. Wir saßen zu der Zeit als wir uns unterhielten auf einer Bank auf dem Hof unserer Schule, es war große Pause. Um uns herum sprangen die anderen Kinder. Ich hatte zu Recht vermutet beobachtet zu werden und ich atmete erleichtert aus als ich merkte, dass es Anders war.
„Er wird misstrauisch!“, stelltest du fest als du meinem Blick folgtest. „Vielleicht sollten wir zu den anderen Fußballspielen gehen und unsere kleine Unterhaltung auf später verschieben.“, da war er wieder gewesen dieser besorgte Blick. Ich antwortete nicht deswegen fügtest du noch dazu du würdest dir etwas überlegen. Ich war wortlos aufgestanden und hatte genickt.
„OK, ich habe nachgedacht!“, sagtest du schließlich leise als wir ins Klassenzimmer traten. „Wahrscheinlich hast du Recht. Sie scheinen tatsächlich kein geringes Interesse an dir zu haben. Erst einmal: Versuch ruhig zu bleiben!“, wir ließen uns auf unseren Platz in der letzten Reihe sinken. Unsere Lehrerin Frau Wiebrecht warf uns einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich habe sie in diesem Punkt nie verstanden, ich meine, nur weil wir die besten Schüler in der Klasse waren musste das nicht automatisch bedeuten das wir leise sein mussten während der Rest der Klasse laut war.
„Lillian, ich weiß nicht was ich tun soll! Ich habe Angst, verdammt! Nicht nur um mich. Ich habe Angst um euch, meine Mutter, um dich. Was wenn sie euch etwas tun?“
„Warum sollten sie?“
„Um an mich heranzukommen!“
„Rupert, Lillian! Ruhe dahinten!“, ich habe sie dafür verflucht diese Lehrerin. Ich schaute zu dir aber dein Blick war nach vorne gerichtet.
„Gleich.“, flüstertest du aus dem Mundwinkel. Ich drehte mich auch nach vorne. Es half nichts denn ich bekam nichts mit. Ich sah zwar wie sich der Mund der Lehrerin bewegte aber ich hörte absolut nichts. Nach einer Weile zog ich einen Zettel aus meinem Block und begann zu schreiben.

Was ich meine, bisher haben sie sich ja vielleicht zurückgehalten. Aber überlege mal, wir stellen für die beiden keinen großen Gegner da. Ich meine du bist, entschuldige du weißt das es nicht so gemeint ist, aber du bist ein Mädchen. Wenn sie sich spontan dazu entscheiden sollten „anzugreifen“ kann ich nichts gegen die Beiden ausrichten. Ich bin nicht alt genug um dich vor ihnen zu beschützen.

Ich schob den Zettel zu dir. Du warfst einen kurzen Blick darauf und antwortetest. Zu kurz wie ich fand. Deswegen schob ich den Zettel sofort zurück nachdem ich gelesen hatte was du geschrieben hattest.

Das erwartet ja auch niemand von dir!

Und?

Du zucktest mit den Schultern. Dann gabst du es auf dem Unterricht zu folgen.

Stell dich morgen krank! Ich versuche herauszufinden was genau sie wollen. Anders, Tim, Max ... die sind bestimmt auch dabei.

Was wenn die vor deiner Haustür stehen und dich…

Du schütteltest den Kopf und zogst mir den Zettel weg bevor ich zu Ende schreiben konnte. Ich las mit was du schriebst.

Vergiss nicht, sie wollen dich, nicht mich. Ich könnte sie zum Beispiel in ein Gespräch verwickeln. Hundert pro, die springen darauf an.

Lillian, das klappt nicht. Wenn die spitz bekommen das ich krank und alleine zu Hause bin kann ich ihnen genauso gut gleich in die Arme laufen. Nein Lillian, ich sollte meine Sachen packen und abhauen. Da ist die Wahrscheinlichkeit größer unbeschadet davon zukommen.

„Rupert!“, Max hatte mich von der Seite angestoßen.
„Was ist denn!“, zischte ich wütend.
„Rupert Delton! Deine Teilname am Unterricht in letzter Zeit lässt zu wünschen übrig.“, erst jetzt merkte ich warum Max mich angestoßen hatte.
„Entschuldigung, könnten sie die Frage wiederholen?“
„Ich habe keine Frage gestellt Rupert. Wenn du aufgepasst hättest wüsstest du das!“ Ich war auf meinem Stuhl zusammengesunken. Das Ganze war mir furchtbar unangenehm gewesen doch nur für einen kurzen Moment. Sobald sich Frau Wiebrecht wieder der Tafel zugewandt hatte war es mir gleichgültig. Du sahst mich fragend an. Du hattest die Antwort geschrieben aber warst dir wohl nicht sicher ob du riskieren solltest das ich noch einmal ermahnt wurde, oder schlimmer Frau Wiebrecht den Brief einkassierte und las. Ich nickte als Zeichen das es mir egal war. Ich hatte gewusst was ich tun würde genau in dem Moment als ich es auf schrieb, ich würde abhauen. Weit weg wo ich niemanden in Gefahr brachte. Ich starrte auf das Blatt vor mir.

Nun mach mal halblang! Erzähls deiner Mutter. Wenn die wirklich auf den Namen Delton aus sind dann... deine Mutter muss es doch wissen.

Die Worte hatten keinen Sinn mehr für mich.

Ich habe ja auch schon darüber nachgedacht aber…nein, ich kann das nicht. Sie würde mir das nicht glauben. Sie würde sagen ich spinne.

Und wenn nicht?

Nein Lillian, das kann ich nicht. Ich muss weg. Allein! Ich kann nicht hier bleiben, ich muss gehen! Dein Plan von vorhin war gut aber wir werden ein paar winzig kleine Änderungen vornehmen müssen. Du lenkst die Beiden ab, schleppst sie am Besten mit zur Schule und ich schnapp mir mein Fahrrad und verschwinde.

Ich schob den Zettel zu dir und blickte auf. Es war extrem leise in der Klasse. Jemand schien den Lautstärkeregler nach unten gedreht zu haben. Die Anderen arbeiteten. Frau Wiebrecht hatte schon mit ihrem Gang durch die Klasse begonnen um hier und da ein paar Tipps zu geben. Ich erkundigte mich bei Max nach der Aufgabe. „Rechnen, im Heft, Seiten 23 bis 25“, hatte er genervt gebrummt und ungläubig den Kopf geschüttelt. „Ehrlich Rup, du solltest echt besser aufpassen!“ Ich nahm mein Heft und schlug Seite dreiundzwanzig auf. Ich hatte schon alles gerechnet. Seite dreiundzwanzig und vierundzwanzig waren komplett fertig.
„Lillian!“, flüsterte ich leise.
„Was?“, fragtest du. Du warst schon wieder eifrig am schreiben.
„Pack den Zettel weg! Wir besprechen das später. Wir sollen rechnen Seiten 23 bis 25.“ Du schautest dich fast ebenso irritiert in der Klasse um wie ich es vor wenigen Sekunden getan hatte. Dann zogst du ebenfalls dein Heft zurate und ließt den Zettel in deiner Hosentasche verschwinden. Wie selbstverständlich schnapptest du dir mein Heft und schriebst die Ergebnisse der ersten beiden Seiten sauber, schnell und ordentlich ab. Als Frau Wiebrecht unseren Tisch erreichte sah das ganze recht unverdächtig aus. Wir hatten gerade mit der dritten Aufgabe der letzten Seite begonnen. Dennoch, Frau Wiebrecht ließ das Ganze nicht einfach so durchgehen.
„Rupert, ich möchte dich nach der Stunde bitte kurz sprechen!“
„Was habe ich denn gemacht!“
„Nichts, das ist es ja gerade!“, und sie setzte ihren Gang fort. Wir waren pünktlich zum Klingeln mit der letzten Aufgabe fertig und hatten somit keine Hausaufgaben. „Ich sehe dich draußen!“, meintest du noch. Ich hatte mir Zeit beim einpacken gelassen, so dass ich allein mit Frau Wiebrecht zurückblieb.
„So Rupert!“, hatte sie mit sanfter Stimme gesagt. Ich weiß nicht was in diesem Moment mit mir los gewesen war. Vor ein paar Wochen hatte ich diese Stimme gemocht wie fast keine andere. Jetzt staute sich Hass gegen sie auf. Ich starrte auf einen unbestimmten Fleck auf dem Fußboden. „Du kannst mir ruhig sagen was los ist! Stimmt was nicht Hause?“
„Nein, zu Hause ist alles OK!“, ich versuchte erstaunt zu klingen. „Sieh mich bitte an wenn du mit mir sprichst! Rupert, ich merk doch, dass etwas nicht stimmt.“
„Nein, ich sag doch, dass alles OK ist!“, dieses Mal sah ich sie an, ich glaube überzeugt habe ich sie nicht, nicht wirklich.
„Na gut!“, hatte sie seufzend gesagt.
„Ich wollte dir nur sagen, wenn sich dein Verhalten nicht ändert muss ich ein Gespräch mit deiner Mutter führen.“
Ich bin immer noch erstaunt wie wenig mich das störte. Vielleicht weil ich wusste, dass ich eh ab morgen nicht mehr da sein würde. In den Zug einzusteigen kam einer Art Befreiung gleich. „OK!“, hatte ich geantwortet und nach meiner Tasche gegriffen. „Es ist nicht ihre Schuld, das sollten sie wissen. Auf Wiedersehen!“, ich hatte ihr in die Augen gesehen. Ich musste das zu ihr sagen, der Fairness halber, und ganz davon abgesehen meinte ich es Ernst. Sie sollte nicht auf den Gedanken kommen, dass sie sich für mein Verschwinden verantwortlich zu fühlen musste. Du wartetest draußen. Allerdings nicht allein wie ich gehofft hatte. Die anderen aus unserer Clique wollten sich natürlich nichts entgehen lassen. Ich erzählte Frau Wiebrecht hatte mich gefragt ob ich nicht an einem Mathematikwettbewerb für Grundschüler der dritten und vierten Klasse teilnehmen wollte. Das war nicht völlig unlogisch. Ich glaube du warst die Einzige die in diesem Moment wusste, dass das Ganze totaler Schwachsinn war. Du kamst Augenblicklich zum eigentlichen Thema sobald wir allein in unsere Straße den Finkenweg einbogen.
„Sag mal das kannst du nicht ernst meinen was du da gerade geschrieben hast!“
„Warum nicht? Ehrlich, ich will weg und je mehr ich darüber nachdenke desto richtiger erscheint mir das Ganze.“
„Was versprichst du dir davon?“
„Die Männer werden versuchen mir zu folgen sobald sie spitz bekommen haben, dass ich fort bin. Sie werden euch in Ruhe lassen.“
„Toll und was soll ich der Polizei und so weiter sagen wenn sie mich fragen. Ich meine, die kommen doch darauf das ich was weiß!“
„Du weißt von nichts!“
„Rupert, ich lüge nicht gerne!“
„Was möchtest du dafür, dass du schweigst?“
„Ich möchte ein Versprechen!“
„Also gut, was möchtest du?“
„Versprich mir, dass du irgendwann wiederkommen wirst! Versprich mir, dass du mich suchen wirst, egal was passiert. Ich möchte dich nicht verlieren!“
„Ich verspreche es dir!“, ich habe noch nie in meinem Leben ein Versprechen so Ernst genommen, gemeint wie dieses. Und du, du hast mir vertraut. Einfach nur vertraut. Bis heute weiß ich nicht was dich dazu bewogen hat, was dich in diesem Moment so sicher machte konnte, dass ich das Versprechen einhalten würde.

3. Kapitel

Ich bin eine ganze Zeit orientierungslos durch die Gegend gereist. Nachdem ich Deutschland verlassen hatte und über Österreich bis nach Italien vorgedrungen war, traf ich eines Tages auf einen alten, obdachlosen Bettler. Er erzählte mir von einem Kloster das in den Gebirgszügen Nordwestitalien nahe der Grenze zu Frankreich liegen sollte. Dieser Konvent sollte Rast suchenden Pilgern und ärmeren Leuten für nichts weiter als deren Lebensgeschichte einige Tage Obdach und ein paar warme Mahlzeiten gewähren. Ich habe die ganze Nacht nachgedacht, bis ich irgendwann darüber einschlief. Als ich aufwachte stand mein Entschluss fest. Ich würde mich dorthin auf den Weg begeben und mit den Mönchen reden. Ich wusste nicht warum aber ein Gefühl sagte mir, dass sie meine Bitte nicht würden abschlagen können. Ich sollte Recht behalten. Nachdem ich drei Tage gereist war, erreichte ich das alte Kloster. Es war mitten in einen der aufragenden Berge gebaut. Umgeben von grüner Landschaft. Im Tal unter dem Kloster erkannte ich das kleine Dorf was mir der Bettler beschrieben hatte. Ich wählte den Weg am Dorf vorbei und machte mich zu Fuß an den Aufstieg. Ich war nicht getauft und bin es auch heute nicht. In meinem Leben ist zu viel passiert als das ich an einen Gott im Sinne von Gut und Böse glauben könnte. Mein Leben basiert auf Vertrauen, dem in andere Menschen als auch dem in mich selbst. Es war Sonntag früh, als ich ankam und an die vor mir aufragende Eisenpforte klopfte, ein mulmiges Gefühl im Magen. Ich war noch nie in einem richtigen Kloster gewesen und auch wenn ich viel gelesen hatte, so kam mir mein Wissen jetzt wo ich die Gelegenheit bekommen sollte alles mit eigenen Augen zu sehen nichtig vor. Es dauerte einen Moment bis sich die Türen öffneten. Nur einen Spalt gerade so, dass ich problemlos durch passte.
„Si accomodi, prego!“ Treten Sie bitte ein. Ich folgte der Anweisung. Klopfenden Herzens sah ich mich um. Zu meiner rechten befanden sich alte Stallungen und ein Platz in dessen Mitte sich ein noch älterer Brunnen befand. Zu meiner linken war ein Garten dessen Ausmaß von hier nur schwer einzuschätzen war. Ich befand mich auf einem Steinweg der von hier bis zu einer weiteren Eisentür führte. An dieser stand ein alter Mönch und beobachtete mich. Zögernd ging ich auf ihn zu und hielt ihm meine Hand entgegen. Er schüttelte sie und fragte was er für mich tun könne. Ich bat ihn darum mit dem Abt des Klosters zu sprechen und er nickte.
„Nach dem Gottesdienst!“, sagte er. Er brachte mich durch einen Gang. Auf der einen Seite waren die Wände kalt und grau, auf der anderen Seite öffnete sich der Gang durch Fenster zu einem kleinen Innenhof in dessen Mitte ein großer alter Baum stand.  Nachdem wir um zwei weitere Ecken gebogen waren und an der Seite mit den tristen grauen Wänden endlich einmal ein schönes Buntglasfenster aufgetaucht war, hielt der Mönch ein paar Meter weiter vor einer dunklen schweren Holztür. Er öffnete diese und ließ mich eintreten. Der Raum den ich betrat war enorm. Auf den ersten Blick wirkte er klein, aber das lag wohl eher an den großen hohen Holzregalen die teilweise bis zur Decke mit alten Büchern gefüllt waren. Der Mann führte mich durch einige der endlos wirkenden Regale bis wir uns an einer Sitzecke genau auf der anderen Seite des Buntglases wieder fanden.
„Hier kannst du warten! Ich schicke Pater Demetrie zu dir sobald der Gottesdienst vorbei ist.“ Ich nickte und er ließ mich allein. Einen Moment lang blieb ich unsicher stehen. Ich fühlte mich klein in diesem Raum, in dem es von Geschichten und Wissen nur so wimmelte. Zögernd trat ich ein paar Schritte auf die Sitzecke zu. Erst jetzt wo der Mönch nicht mehr da war merkte ich wie laut meine Schritte in dem Raum widerhallten. Langsam ließ ich mich auf einen der mit dunkelrotem Samt bezogenen Sessel nieder. Ich wartete, aber das war langweilig. Nach einer gewissen Weile stand ich wieder auf und schlich so leise wie irgend möglich einen der großen Gänge entlang. Hier und da blieb ich stehen um das ein oder andere Buch und dessen Einband näher zu betrachten. Ich traute mich nicht irgendetwas an zufassen, auch wenn die Verlockung groß war.Ich zuckte zusammen als sich plötzlich eine Hand schwer auf meine Schulter legte.
„Guten Tag, mein Junge!“, sagte eine ruhige melodische Stimme. Ich fuhr herum und starrte mitten in das Gesicht eines Mannes, der vielleicht um die 30 Jahre alt war. Nachdem ich mich von dem ersten Schrecken und der Tatsache, dass ich mich nicht mehr allein in dem langen Gang befand erholt hatte folgte ich dem Mönch zurück zur Sitzecke. Er forderte mich auf sich ihm gegenüber in einen der roten Sessel zu setzten. In dem trüben Licht, welches das Buntglasfenster spendete, konnte ich nun seine Gesichtszüge genauer sehen. Alles an ihm wirkte irgendwie beruhigend. Angefangen bei seinen dunklen braunen Augen bis hin zu seinen absolut symmetrischen Gesichtszügen. Er war ungewöhnlich hübsch. Es erschloss sich mir nicht sofort, warum jemand wie er Mönch geworden war.
„Pater Saties meldete mir, dass ein kleiner Junge an unsere geheiligten Pforten geklopft hat und danach verlangte mit mir zu sprechen. Ich bin Pater Demetrie!“, stellte er sich vor.
„Rupert, Rupert Delton! Ja es stimmt, was Pater Saties sagt.“ Ich konnte nur bruchstückhaft Italienisch sprechen zu diesem Zeitpunkt, auch wenn ich so gut wie alles verstand. Ich machte eine kurze Pause um nachzudenken wie ich mein Problem am besten ausdrücken konnte. „Sprich in deiner Muttersprache!“, sagte Pater Demetrie, als er merkte wie ich nach Worten rang.
„Deutsch oder Englisch?“, Pater Demetrie schaute mich erstaunt an.
„Die Sprache die dir lieber ist.“, ich entschied mich für Deutsch.
„Also“, begann ich, „ich hab da ein Problem! ...“, die nächste halbe Stunde verbrachte ich dann damit Pater Demetrie meine Situation zu erklären und die Umstände unter denen ich von zu Hause geflohen war. An der Stelle als ich von den beiden Männern erzählte zuckte er leicht zusammen.
„Wie war noch mal dein Name?“, wollte er wissen.
„Rupert Delton, wieso?“
„Nur so!“, meinte er, doch ich merkte sofort das hinter dem „nur so!“ mehr steckte als er mir sagen wollte. Pater Demetrie kannte mich und es war gewiss kein Zufall, dass er, nachdem ich fertig erzählt hatte und ihn darum bat, dass ich nicht nur für eine kurze Zeit in dem Kloster leben dürfe, sondern so lange wie ich es musste, sofort auf meine Bitte einging. Er sagte zwar er wisse nicht wie lange er mich bei sich aufnehmen könne, aber er würde sein bestes geben mich so lange wie möglich zu beschützen.

 

Das Wetter draußen war schön, deswegen kürzte ich meinen Weg durch den Innenhof des Klosters ab. Direkt vor mir befand sich jetzt die schwere Holztür. Ich stieß sie auf, was nicht leicht war, da ich einen schweren Bücherstapel auf meinen Armen balancierte. Ich hatte mein Ziel, die Bibliothek erreicht. Ich wendete mich nach rechts und ging zwischen zwei der hohen Bücherregale entlang in den hinteren Hauptteil. Im aller hintersten Regal befand sich unten einen große Lücke. Ich bückte mich und sortierte die Bücher die ich bei mir trug ordentlich ein. Ich stöhnte leise. Noch ganze fünf Bände waren übrig und ich hätte restlos und ohne Zweifel jedes Buch dieses riesigen Büchermuseums gelesen. Volle vier Jahre und heute auf den Tag genau elf Monate hatte es mich gekostet. Inzwischen fühlte ich mich nicht mehr klein in der Bibliothek. Ich fühlte mich größer je mehr Bücher ich gelesen hatte. Du fragst dich jetzt sicher zu Recht, warum ich den Wahnsinn auf mich genommen habe und jedes einzelne Buch, egal zu welchem Thema, gelesen habe. Ich will es dir erklären. Das Leben im Kloster war nicht einfach für mich, du weißt wie wenig ich von Regeln halte und hier gab es mehr als genug davon. Ich musste mich in Mönchskutten kleiden, mit den anderen beten, fasten und arbeiten. Das waren Pater Demetries Bedingungen. „Ich kann dich nur beschützen, wenn du dich unseren Regeln anpasst.“ Ich wäre wahrscheinlich nach den ersten paar Wochen weiter gezogen, aber dass mich hier mehr Mönche als nur Pater Demetrie zu kennen schienen machte mich misstrauisch. Ich habe lange überlegt woran das liegen könnte und kam dann zu dem Schluss, dass sie nicht mich, sondern jemand anderen aus meiner Familie kennen mussten. Womöglich und sogar sehr wahrscheinlich meinen Vater. Mein Nachname hatte sie stutzig gemacht. Mir kam es so vor, als dass wenn ich etwas über meinen Vater herausfinden wollte, dieses nur hier möglich war. Ich kann dir das Gefühl nicht beschreiben wie es ist wenn man genau merkt wie überall wo man hingeht sich die Köpfe drehen und angefangen wird zu tuscheln. Ich fühlte mich nicht bedroht, jenes Flüstern war freundlich, wohlwollend und ich glaubte zum Teil auch Bewunderung in den Gesichtern der Mönche zu lesen. Das war ungefähr der Zeitpunkt wo ich anfing jedes Buch in der alten Bibliothek zu durchstöbern was mir in die Finger kam, immer in der Hoffnung etwas Brauchbares zu entdecken. Es hatte den praktischen Nebeneffekt, dass ich rein wissenstechnisch nie hinter einem normalen Schuljungen meines Alters hing, eher war ich ihnen nach kürzester Zeit Jahre voraus, das sagte zumindest Pater Gomez einer der jüngeren Mönche mit denen ich mich von Anfang an super verstand und der mir immer zuhörte und soweit er es konnte half wenn ich etwas nicht verstand. Ich hob die fünf übrig geblieben Bücher aus dem Regal und ging mit ihnen zu meinem Lieblingsplatz, der Sitzecke vor dem Buntglasfenster. Sicher hatten mich die Mönche gefragt warum ich so viel lesen würde. Ich hatte gesagt, es würde mich generell interessieren. Sie nannten mich hier liebevoll „der Bücherwurm“. Es war mir egal. Ich betrachtete das erste Buch. Es war vergilbt und alt, wie die meisten Bücher hier. Ich begann zu lesen und sah erst auf, als Pater Gomez, der die Angewohnheit hatte plötzlich, wie aus dem nichts, hinter einem zu stehen sich räusperte.
„Na so langsam solltest du aber durch sein mit den Büchern hier.“, er lachte. Er konnte ja nicht ahnen wie nah er damit der Wirklichkeit kam. Ich nickte nachdenklich. „Übrigens Pater Demetrie lässt fragen ob du für ihn unten im Dorf ein paar Dinge besorgen kannst.“
„Ist es dringend?“, fragte ich.
„Scheint so.“, Gomez nickte. „Er meinte du bist der, der am schnellsten unten und wieder oben ist. Es wird ja immer schon so früh dunkel.“
„Also gut ich werde gehen.“, ich legte das Buch beiseite auf den Stapel der anderen Bücher. „Ich räume die später weg! Pater Gomez?“
„Ja?“
„Kannst du mir nachher beim Übersetzen helfen?“
„Aber natürlich mein Junge,“, antwortete dieser, „aber jetzt lauf sonst ist es Nacht bis du wieder hier bist!“. Ich eilte also aus der Bibliothek zu Pater Demetries Büro. Gomez hatte Recht. Zwar schien bisher noch die Sonne aber für den Weg nach unten ins Dorf musste ich mindestens eine Stunde rechnen und bis ich mich auf den Rückweg begeben könnte würde es sicher schon dämmern. Ich klopfte.
„Ja, komm herein Rupert!“, ich öffnete die Tür. Pater Demetrie saß wie immer hinter seinem Schreibtisch, vertieft in das heilige Buch. Es war nicht so, dass er nicht genug davon bekam, aber er glaubte ganz fest darin einen geheimen Codex zu finden und damit den Schlüssel zu den Fragen des Lebens. Ich hielt das Ganze für ziemlichen Schwachsinn.
„Pater Gomez sagte mir, dass du mich sprechen wolltest.“
„Ja das ist richtig. Ich bekam vor etwa einer halben Stunde einen Anruf aus dem Dorf. Mir wurde gesagt dort sei ein wichtiger Brief für mich eingetroffen den ich wenn möglich noch heute abholen lassen sollte.“ Ich grinste.
„Lass mich raten, ich bin der Glückliche der den Brief abholen gehen soll.“
„Wenn du nichts anderes zu tun hast wäre das schön, du bist der schnellste von uns.“
„Ist schon OK! Ich erledige das.“, ich schuldete den Leuten hier viel zu viel, als dass ich Aufgaben dieser Art ablehnte.

 

So befand ich mich also eine Viertelstunde später auf dem Weg nach unten ins Dorf. Ich mochte den Weg, welcher mich erst über eine freie Ebene und dann durch ein kleines Wäldchen führte. Es war sieben als ich die schon geschlossene Poststation erreichte. Das war nicht weiter schlimm. Bei wichtigen Briefen klingelte man für gewöhnlich einfach eine Tür weiter. Die Leute hier kannten die Mönche und wussten, dass der Weg nach unten lang war. Ich klingelte. Señora Volontario schaute mich erstaunt an.
„Rupert, was verschafft mir die Ehre um diese späte Zeit?“
„Pater Demetrie sagte es sei ein wichtiger Brief hier eingetroffen. Er schickte mich her um ihn abzuholen.“
„Ach du lieber Himmel, das muss ein schrecklicher Irrtum sein. Hier ist kein Brief an das Konvent. Die Post kommt doch erst morgen wieder.“
„Sind sie sich ganz sicher?“, die Sache kam mir merkwürdig vor. „Ja, ganz sicher. Ich müsste es doch schließlich wissen wenn ich mit dem Pater gesprochen hätte.“ Sie wandte sich ins Haus. „Pedro!“, rief sie.
„Ja!“, antwortete die Stimme eines Mannes.
„Pedro, hast du im Konvent angerufen und Pater Demetrie von einem angeblich sehr wichtigen Eilbrief erzählt?“, einen Augenblick war es ruhig, dann erschien Pedro ihr Mann in der Tür.
„Nein, ich habe nicht angerufen. Was für ein Brief denn?“, fragte er verwirrt.
„Unser lieber Rupert hier sagte, dass Pater Demetrie ihn wegen eines Eilbriefes her schickte.“
„Und von wem hat Demetrie diese Information?“, ich zuckte mit den Schultern.
„Angeblich von ihnen, aber das scheint ja nicht zu stimmen. Ein Telefonstreich vielleicht.“ Ich glaubte nicht wirklich daran aber ich konnte mir auch nicht vorstellen warum einer der Beiden mich anlügen sollte, das ergab keinen Sinn.
„Ja, “, knurrte jetzt Pedro. „Vielleicht dieser Bengel, dieser Nichtsnutz der sich hier seit ein paar Tagen herumtreibt. Ich hab doch gleich gesagt mit dem stimmt was nicht.“ Ich horchte auf. 
„Wer?“, fragte ich. Pedro sah mich nachdenklich an.
„Es treibt sich in letzter Zeit ziemlich viel herum in diesem Kaff. Erst waren da diese beiden Männer, der eine trug Tag und Nacht eine Sonnenbrille. Sie haben sich hier um gehört im Dorf, komische Fragen gestellt. Ganz unangenehme Burschen, das sag ich dir. Und dann kurze Zeit später zieht am Dorfrand zum Wald hin so ein merkwürdiger Herr mit seinem Nichtsnutz von Sohn ein. Ein Rumtreiber der Sohn, der Vater scheint keine Kontrolle über ihn zu haben, obwohl ich glaube er legt es auch nicht darauf an.“ Ich wurde hellhörig. Der Mann und sein Sohn beunruhigten mich dabei am wenigsten. Die beiden Männer waren es die mich stutzig machten. Ich musste zurück zu Kloster und zwar sofort. Ich verabschiedete mich so schnell es eben möglich war ohne unhöflich zu erscheinen und raste los.

 

Es dämmerte und als ich die Grenze des Wäldchens erreichte war es bereits dunkel. Normalerweise hatte ich damit kein Problem aber heute stimmte etwas nicht und ich wusste nicht was es war. Der Weg durch das nahe gelegene Wäldchen war am schlimmsten. Die Bäume um mich herum nahmen in der Dunkelheit merkwürdige Konturen an. Ich versuchte ruhig ein und aus zu atmen um einen klaren Kopf zu bekommen. Du bist ein Trottel sagte ich mir. Wer um alles in der Welt sollte dir ausgerechnet hier, mitten im Wald, auflauern? Niemand, gab ich mir selbst die Antwort. Niemand außer vielleicht, aber das konnte nicht sein. Wie hätten sie von mir erfahren sollen? Ich beschleunigte meine Schritte. Je schneller ich aus diesem Wald heraus war desto so besser. Mein Herzschlag wurde langsam schneller. Ich begann zu rennen und so bemerkte ich das quer über den Pfad gespannte Seil zu spät. Ich stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden. Als ich mich aufrichtete sah ich sie. Es waren tatsächlich die Beiden und es gab einfach keinen Zweifel. Das erste Mal stand ich ihnen Auge zu Auge gegenüber.
„Wer seid ihr? Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen? Ich habe euch nichts getan!“, presste ich hervor.
„Uns nichts getan,“, zischte der, der mir damals so hasserfüllt in die Augen gesehen hatte, „uns nichts getan!“, er spuckte vor mir auf den Boden.
„Mensch, beruhige dich.“, flüsterte der andere leise. „Jetzt haben wir ihn ja!“. Er trug wie beim letzten Mal eine Sonnenbrille und seine Gesichtszüge waren hart, wie aus Stein gemeißelt stand er da. Nur ein gelegentliches zucken seiner Mundwinkel ließ darauf schließen, dass er lebendig war. „Zu deiner Frage.“ , fing er nun wieder ruhig an. „Das da ist Enrique und ich bin Flavio.“, er grinste. „Was den nächsten Punkt angeht: Rache und, dass du uns nichts getan hast, kann man so direkt nicht sagen, nein!“ Eine Weile war es still. Bis ich mich überwand zu fragen:
„Und was habt ihr mit mir vor?“, das brachte Lebendigkeit in die Beiden und Enrique wurde wieder unruhig. Ich wünschte mir später ich hätte nicht gefragt den so hätte ich länger Zeit gehabt mir einen Plan zum entkommen zu überlegen. So scheiterte dieser noch bevor ich ihn überhaupt erdacht hatte. Ich spürte wie mich Enrique grob am Arm packte und gegen den nächsten Baum hievte. Ich war so schwach im Denken, dass es mir gar nicht erst in den Sinn kam mich zu wehren. Jetzt sprang Flavio Enrique hilfreich zur Seite und zusammen fesselten sie mich an den Stamm.
„Was habt ihr mit mir vor?“, wiederholte ich verzweifelt die Frage.
„Das wirst du noch früh genug merken. Vorher müssen wir dir noch...“
„Flavio jetzt ist nicht der Moment für lange Erklärungen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis irgendwer hier aufkreuzt.“
„Schon gut, schon gut!“, Flavio brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Bring ihn um!“
„Wieso ich?“
„Du konntest es doch nicht abwarten ihn in die Finger zu bekommen!“ Wortlos folgte ich dem Gespräch der Beiden. Mein Gehirn schien zu blockieren, dass es sich hierbei um meinen Tod handelte, und so kam mir die Unterhaltung fast komisch vor, vielleicht was es gut so.
„Ja, das schon aber ich dachte es wäre dein Part, ihn umzubringen! Weist du ich hab schon genug Jahre im Fegefeuer angesammelt in all den Jahren.“, meinte Enrique etwas verlegen. Gläubige Schwerverbrecher, wo gab es denn so was? 
„So, es geht dir also nur um dein Wohl. Und ich?“, Flavios Stimme klang so bedrohlich, dass Enrique kurzerhand beschloss. 
„Dann töten wir ihn eben nicht.“
„Und wozu haben wir ihn dann gefangen? Wozu der ganze Aufwand?“ Flavio schien dem Vorschlag zwar nicht ganz abgetan aber zufrieden gestellt war er auch nicht.
„Wir wollten Genugtuung, das ist alles!“ Enrique schien ein wenig ratlos. Einen Moment war wieder alles ruhig bis Flavio eine Idee bekam.
„Wenn wir ihn nicht töten wollen, dann fügen wir ihm stattdessen unsägliche Schmerzen zu und lassen ihn danach einfach verbluten. Falls er doch überlebt, so haben wir wenigstens eine Gewissheit, er wird sich für den Rest seines Lebens schämen überhaupt seine Nase zu zeigen.“ Enrique angesteckt von der Idee fuhr träumerisch fort.
 „Er wird ein Nichts sein! Ein Nichts, ein Niemand!“ Mit diesen Worten schritt er auf mich zu und zog ein Messer aus seiner Tasche welches im Licht des Mondes kurz auf blitzte. Mit einer flinken Bewegung schnitt er mir damit quer durchs Gesicht. Ich hatte zum Glück reflexartig die Augen geschlossen sonst, und das war sicher, wäre ich blind gewesen für den Rest meines Lebens. Ich begann zu schreien und mit einem Mal lief mein Gehirn wieder auf Hochtouren. Mein Schrei währte nicht lange denn Flavio steckte mir genau in diesem Moment ein dreckiges Tuch in den Mund und der Schall verschwand. Es war grauenvoll. Nicht allein die Tatsache, dass sie mein Gesicht zerschnitten, immer abwechselnd jeder einen Schnitt. Nein, das schlimmste war die Tatsache den Schmerz zu fühlen und nicht schreien zu können. Irgendwann wurde bewusstlos.

4. Kapitel

Als ich wieder zu mir kam erinnerte ich mich zunächst nicht an das was geschehen war. Erst ein brennender Schmerz als ich die Augen öffnete brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich zuckte zusammen als über mir das Gesicht eines Teenagers von ungefähr fünfzehn Jahren erschien.
„Er ist aufgewacht!“, rief er jemandem außerhalb meines Sichtkreises zu. Ich wollte aufstehen aber er drückte mich in die Kissen zurück. Kissen, eine Decke, ein Bett, wo zur Hölle war ich? Ich fasste das Gesicht vor mir näher in Augenschein. Große grüne Augen, eine Stupsnase und weiche Gesichtszüge. Der Junge war braungebrannt und seine Haare rabenschwarz. Sie waren kurz und zerzaust. Er grinste breit.
„Tut mir Leid,“, flüsterte er leise, „aber du musst ruhig liegenbleiben. Am besten, du bewegst dich gar nicht weiter!“
„Wie geht es ihm?“, hörte ich jetzt eine zweite Stimme fragen, sie hatte einen dunklen, etwas kratzigen Klang. Der Gesichtsausdruck des Jungen änderte sich schlagartig. Ohne das Grinsen wirkte sein Gesicht auf einen Schlag gealtert, ernst, bekümmert. Vielleicht habe ich es mir all die Jahre, die ich diesen Jungen inzwischen schon kenne, nur eingebildet, aber hinter seiner fröhlichen, glücklichen Fassade lauerte tiefer Schmerz. Schmerz über etwas, was ich in jenem Moment noch nicht begreifen konnte. Neben seinem plötzlich so ernsten Gesicht erschien ein zweites. Hatte das Gesicht des Jungen eben jünger gewirkt, als er war, so wirkte das zweite Gesicht auf den ersten Blick steinalt, eingefallen. Nur die Augen, etwas an den Augen war merkwürdig, ein Adler, schoss er mir durch den Kopf.
„Wie geht es dir?“, fragte es mich. Ich versuchte für mein Befinden Worte zu finden aber den Schmerz, der über mein Gesicht prickelte, konnte man nicht beschreiben. Ich schüttelte stattdessen unbestimmt den Kopf. Das Gesicht des Mannes verschwand aus meinem Blickfeld. „Ich werde Sam rufen müssen!“, murmelte er. Ich hörte wie eine Tür zuschlug und wusste, dass er mich mit dem Jungen alleine gelassen hatte.
„Hast du Hunger? Oder Durst?“, fragte er nach einer Weile zögernd.
„Durst, danke.“, antwortete ich ihm. Er half mir wortlos mich in meinen Kissen aufzurichten und verließ den Raum mit den Worten, er sei gleich wieder da. Ich blickte mich um. Alles hier war muffig und staubig. Vor den Fenstern hingen dicke Vorhänge. Eine alte Stehuhr sagte mir, dass es drei Uhr dreißig war. Ob in der Nacht oder am Tag war unmöglich auszumachen. Die Tür des Zimmers öffnete sich und der Junge trat wieder ein. Er trug ein Glas Wasser in der Hand, sein Lächeln war nicht wieder zurückgekehrt.
„Hier trink das, dann geht es dir besser!“ Ich streckte meine Hand aus und nahm ihm das Glas ab. Ich trank einige Schlucke und spürte wie das kalte Wasser meine Kehle hinab ran.
„Wie heißt du?“, fragte ich um mehr über den Ort zu erfahren an dem ich mich befand. Der Junge schüttelte den Kopf. Na gut, wenn er es nicht sagen wollte. „Wie kommt es, dass ihr mich gefunden habt?“, fragte ich weiter. Der Junge ließ sich in einen Sessel gegenüber von meinem Bett fallen.
„Ich war im Wald.“, antwortete er zögernd, dann fuhr er fort: „Ich habe einen Schrei gehört und bin losgeeilt um meinen Vater Bescheid zu sagen. Als wir wieder oben im Wäldchen ankamen haben wir dich gefunden. Wir dachten du wärst tot aber dann sahen wir, dass noch nicht alles vorbei war. Wir haben dich losgebunden und hierher gebracht.“ Er schwieg wieder. Also hatte ich schlichtweg Glück gehabt.
„Wer waren diese Männer?“, fragte ich ihn. Er schüttelte wieder den Kopf.
„Wir hatten gehofft, dass du es uns sagen kannst. Ich meine, sie werden dich doch nicht ohne Grund so zugerichtet haben, oder?“ Ich neigte den Kopf ein Stück zur Seite aber ihn zu bewegen tat weh. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was sie gesagt hatten. Ich erzählte alles woran ich mich erinnern konnte. Mein Gegenüber nickte hin und wieder und fragte genauer nach. Als wir die Haustür gehen hörten verstummten wir.
„Er ist hier!“, hörte ich die Stimme des alten Mannes. Die Tür ging auf und er trat ein. Ihm folgte ein weiterer Mann, dieser trug eine größere Tasche bei sich und trat auf mich zu. Er wies den Jungen und seinen Vater an das Zimmer zu verlassen und begann dann mich zu untersuchen. Er war ein netter Mann, stellte keine Fragen und redete während er mein Gesicht betastete über lauter belangloses Zeug. Seine Familie, das Wetter und und und. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass ich des öfteren laut aufschrie vor Schmerz.
„Ich werde einige der Schnitte nähen müssen,“, stellte er beiläufig fest, „der Rest wird so verheilen, aber die Narben werden ewig bleiben!“
Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass das Brennen auf meinem Gesicht nicht von den paar Schnitten, die ich bewusst wahrgenommen hatte herrühren konnte, sondern von unzähligen kleineren Wunden kam, die mein Gesicht bedeckten. Die Männer mussten noch eine ganze Weile weitergemacht haben, nicht merkend wann es genug war, nicht ahnend welche Folgen das Ganze mit sich brachte. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie nicht was noch vor ihnen lag. Damals sagten sie zu mir ich würde später ein Nichts, ein Niemand sein. Was würden sie wohl heute von mir denken? Sam wühlte in der Tasche die er mitgebracht hatte.
„Das könnte jetzt etwas wehtun.“, warnte er mich und ich zuckte zusammen, als ich die Spritze sah, die sich langsam meinem Gesicht näherte. „Bleib ruhig!“, wies er mich zurecht. Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht sehen wie sich die Nadel in meine Wange bohrte, spüren tat ich es trotzdem. Ich umklammerte mit meinen Händen die Bettkante. Dann ließ der Schmerz nach. Ich öffnete die Augen, nur um sich gleich darauf wieder zu schließen. Vier Spritzen gab er mit insgesamt. Dann war Schluss. Sam hörte auf zu reden. Er arbeitete mit höchster Konzentration und Sorgfalt. Am Anfang spürte ich jeden Stich den er mit seiner Nadel machte, zwar betäubt wie durch einen dunklen Nebel aber dennoch klar und deutlich. Nach einer Weile spürte ich nichts mehr. Die Betäubung der Spritzen hatte sich wirkungsvoll auf meinem ganzen Gesicht ausgebreitet und ich hatte die komplette Beherrschung über meine Gesichtsmimik verloren. Ich versuchte vergeblich die Augen zu öffnen. Einige Zeit darauf hörte ich Sam erleichtert ausatmen.
„Fertig!“, murmelte er. „Ich gebe dir jetzt noch eine Spritze, dann wirst du einschlafen und wenn du morgen aufwachst schau ich noch einmal wie es dir geht!“, ich spürte den Einstich der Spritze am Arm, kurze Zeit darauf schlief ich.

 

Sam behielt Recht. Als ich am nächsten Morgen aufwachte war er wieder da. Der Junge und der ältere Mann standen neben ihm am Fußende meines Bettes.
„Guten Morgen, Schlafmütze!“ Jetzt grinste der Junge wieder auch wenn er sich für seine Bemerkung einen wütenden Blick seines Vaters einhandelte. Ich begann ihn zu mögen. Sein Verhalten war natürlich und sein Grinsen war ansteckend. Leider versetzte mir mein kläglicher Versuch gleich einen Rückschlag, als ein gellender Schmerz über mein ganzes Gesicht schoss. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, leider vergeblich.
„Du siehst schrecklich aus!“ Es war wieder der Junge der redete. Sam und der Alte tauschten besorgte Blicke aus.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Sam und überging damit die Bemerkung des Jungen.
„Es geht, gestern war es schlimmer!“
„Vorgestern.“, warf der Junge ein.
„Vorgestern?“, fragte ich verwirrt. Hatte ich so lange geschlafen? Ich wollte mit der Hand an mein Gesicht fassen, irgendetwas juckte und ziepte dort aber der Alte war mit einem Hechtsprung neben mir und hielt mich zurück. Sam lächelte in sich hinein.
„Lass das lieber!“, warnte er mich.
„Aber es juckt!“, klagte ich.
„Das ist gut, das bedeutet, dass es heilt.“
„Kann ich mich irgendwo waschen?“, fragte ich, denn erstens wollte ich den Rest des Hauses sehen und zweitens hatte ich das Gefühl dies dringend nötig zu haben.
„Sicher!“, antwortete der Alte und ließ meine Hand los. „Mein Sohn wird dir helfen. Ich und Sam haben geschäftlich zu tun.“ Sam nickte um seine Aussage zu unterstreichen.
„Falls du irgendetwas brauchst melde dich. Ich werde vorübergehend hier wohnen. Bis es dir wieder gut geht!“
Warum machten sie sich eine so große Mühe meinetwegen? Ich wusste es wäre unklug jetzt danach zu fragen, daher sparte ich mir die Frage für den Jungen auf. Vielleicht würde er mir antworteten. Sam und der Alte verließen den Raum. Kurze Zeit darauf hörte ich die Haustür gehen.
„Ich geh und lass dein Badewasser ein!“, murmelte der Junge.
„Ist gut!“, antwortete ich ihm und auch er verließ den Raum. In der nachfolgenden Stille, in der ich hörte wie irgendwo im Haus ein Wasserhahn aufgedreht wurde, hatte ich Zeit nachzudenken. Als erstes hatte ich herauszufinden wo ich war, als zweites warum mir geholfen wurde und drittens, wer waren die Beiden auf dessen Hilfe ich mehr schlecht als Recht angewiesen war?

 

Der Junge betrat das Zimmer.
„Komm!“, meinte er. „Oder brauchst du Hilfe beim Aufstehen?“ Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich mir nicht sicher war. Die Stimmung des Jungen hatte sich erneut geändert. Er klang genervt, nicht unbedingt freundlich. Ich streckte meine Beine auf den Boden und versuchte auszutesten ob sie mich tragen würden. Es ging, aber mir wurde furchtbar schummerig im Kopf. Ich schwankte aber der Junge war sofort neben mir und hielt mich fest.
„Danke!“, murmelte ich. Er schwieg. Er half mir ins Badezimmer. Während er mir beim Waschen half sprach er kein Wort. Ich spürte, dass er sprechen wollte aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Vielleicht hatten Sam und der Adler ihm verboten zu reden, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass er sich das von ihnen verbieten lassen würde. Ich schwieg ebenfalls. Nach dem Bad brachte er mich zurück in das Zimmer aus dem wir gekommen waren. Auch im Flur waren die Vorhänge zugezogen. Keine Chance herauszufinden wo ich war. Weit vom Kloster entfernt konnte es jedenfalls nicht sein. Vermutlich war ich sogar noch im Dorf. Nur wenn es so war, warum kannte ich meine Retter nicht? Dann fiel mir ein, dass Pedro von zwei neu Zugezogenen gesprochen hatte. Der Sohn sollte den Telefonstreich gemacht haben. Ich wusste, dass er es nicht gewesen sein konnte. Trotzdem begann er mich zu interessieren.
„Die Leute im Dorf...“, fing ich also vorsichtig an, während ich mich wieder auf das Bett setzte. „Die Leute im Dorf haben von dir und deinem Vater erzählt.“
„So?“, fragte der Junge. Er ließ sich neben mir nieder.
„Ja, sie finden euch merkwürdig, sie sagten du wärst ein Rumtreiber und dein Vater hätte dich nicht unter Kontrolle!“ Ich grinste ihn an, wobei mein Gesicht entsetzlich zu schmerzen anfing. „Ich frage mich, wie sie zu diesem Schluss gekommen sind!“
Der Junge lachte leise. „Schätze sie haben mich Nachts gesehen, wie ich durchs Dorf getiegert bin. Ich wollte mich umsehen.“ Ich versuchte zu lächeln, aber ich wusste, dass es nach außen wie eine verzogene Fratze aussehen musste. „Du könntest echt in einem Horrorfilm mitspielen!“, kommentierte er. Jetzt war er wieder der lustige Junge vom Anfang.
„Danke für das Kompliment!“ Ich wollte lieber nicht wissen wie ich aussah. Im Badezimmer hatte ich dem Spiegel erfolgreich ignorieren können. „Warum bist du mit deinem Vater hergezogen?“, fragte ich.
„Er wollte irgendetwas mit den Mönchen klären. Das ist das, was er mir dazu gesagt hat.“
„Bleibt ihr lange an einem Ort?“, fragte ich. Ich hatte den Verdacht, das nicht.
„Nein, nicht länger als ein paar Wochen. Ich glaube das Längste war Wien, mit zwei Monaten.
“„Das heißt, du reist seit du klein bist mit ihm herum?“
„Ja, seit ich mich erinnern kann!“
„Und du warst nie in der Schule?“ Er sah mich belustigt an.
„Nein!“, antwortete er dann. Seine Freunde haben mich unterrichtet. Ich brauchte nie zur Schule zu gehen.“ Das war interessant.
„Ich war nur zwei ein halb Jahre dort! Das war bevor ich von zu Hause weg musste.“
„Warum musstest du weg?“, fragte er.
„Die zwei Männer, die, die mir auch das hier...“, ich zeigte auf mein Gesicht, „Zugefügt haben. Die sind damals schon in unserem Dorf aufgetaucht. Ich musste fliehen. Ich hatte keine Wahl.“
„Wie alt warst du da?“, wollte er wissen.
„Acht!“ In diesem Moment ging die Haustür. Der Junge stand auf.
„Schnell leg dich hin!“, wisperte er. Ich gehorchte während er sich auf einen der beiden Sessel schmiss und die Augen schloss. Er sollte also tatsächlich nicht mit mir reden. Ich würde ihn das nächste Mal fragen. Ich fand ihn interessant. Er schien tatsächlich nicht viel von seinem Vater zu halten, oder doch?
„Löwe?“, hörte ich eine Stimme im Flur rufen. Wieso nannten sie ihn so? Es war Sam gewesen, der gerufen hatte. Er öffnete die Tür und warf einen Blick ins Zimmer. „Ach hier seit ihr.“ Er nickte mir kurz zu. „Wie geht es dir?“
„Besser, danke!“, antwortete ich. Er lächelte kurz und schloss die Tür dann wieder
.„Hast du Hunger?“, fragte Löwe.
„Irgendwie schon!“
„Ich geh dir was holen.“ Er verließ den Raum und ich hörte wie er sich mit Sam und seinem Vater unterhielt. Kurz darauf kam er mit einem Tablett voll mit belegten Brötchen zurück. Ich griff zu. Löwe setzte sich wieder zu mir aufs Bett.
„Sag mal solltest du nicht mit mir reden, oder was sollte die Aktion da gerade eben?“, fragte ich leise. Löwe grinste.
„Nein! Ich darf mit die reden. Ich soll sogar. Ich soll dich aushorchen. Herausfinden wer du bist und so!“
„Was?“
„Ja, dass will zumindest mein Vater. Aber jetzt bist du ja vor gewarnt. Also erzähl mir lieber nichts über dein Leben, was dir schaden könne.“ Er zwinkerte. „Ich wollte nur nicht, dass Sam und... und mein Vater auf die Idee kommen, wir würden uns gut verstehen. Das würde die Sache für mich nicht unbedingt erleichtern. Ich will ihnen nichts über dich erzählen.“ Das war ein Vortrag gewesen.
„Warum tust du das alles für mich?“
„Ich wollte schon immer einen richtigen Freund haben. Jemanden in meinem Alter mit dem ich reden kann. Ich glaube mit dir würde ich mich gut verstehen!“ Ich lächelte. „Wollen wir Freunde sein?“, fragte er und hielt mir seine Hand entgegen. Ich schlug ohne zu zögern ein. So wurden wir also Freunde. Löwe und ich.

 

Etwa zwei Wochen später, waren wir zusammen im Wohnzimmer der Wohnung. Sam und der Alte waren ausgeflogen. Ich war mal wieder dabei Löwe über sein Leben zu interviewen.
„Mein Vater, wie er sich nennt,“, ich hörte die Bitterkeit, die in Löwes Stimme mitschwang, „Mein Vater erklärt mit gar nichts. Ich habe keine Ahnung was hier läuft, das musst du mir glauben.“ Ich nickte, er schien die Wahrheit zu sagen.
„Hast du Vermutungen? Ich meine, wohin verschwinden er und Sam jeden Tag?“
„Vermutungen, Ja,“, murmelte er nachdenklich. „Ich habe eine Menge Vermutungen. Pass auf, wofür die Beiden auch immer arbeiten, es muss ein Netzwerk bilden, wie weitreichend dieses Netzwerk ist, weiß ich nicht aber ich reise schon seit ich klein bin immer mit ihm mit. Ob Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Russland, Österreich oder Bulgarien ich war schon so ziemlich überall und immer gab es dort Bekannte von ihm, die er sehen musste. Wir sind hier, weil er Pater Demetrie einen Besuch abstatten wollte, worum es dabei ursprünglich gehen sollte, ich weiß es nicht.“
„Pater Demetrie also?“
„Wir wussten, dass du ihn kennst. Ich will versuchen dir zu erklären warum wir dir geholfen haben und warum du hier bei uns bist.“ Ich machte es mir im Sessel bequem, wenn etwas interessant war, dann das was Löwe mir erzählen konnte. Ich musste aufpassen, damit mir keine Details entgingen, und Löwe begann zu erzählen.
„Pater Demetrie ist ein kluger Kopf, das schließe ich aus dem wenigen was über ihn erzählt wird. Mein Vater ist seit wir dich gefunden haben jeden Tag im Kloster gewesen. Irgendetwas will er von Demetrie wissen, etwas was Demetrie ihm aus einem guten Grund verschweigen möchte.“
„Weißt du was das sein könnte?“ Wieder nickte Löwe. Er zögerte einen Moment, dann fuhr er fort.
„Ich habe ihn gestern Abend mit Sam reden hören. Davon darf er auf keinen Fall erfahren.“ Ich nickte.
„Von mir erfährt er garantiert nichts.“ Wieder zögerte Löwe einen Moment bevor er weitererzählte.
„Er will wissen wer du bist, deinen Namen, deine Identität. Bis jetzt schweigt Pater Demetrie. Es ist eine Frage der Zeit bis er sich verplappert, das ist zumindest Sams Ansicht und wenn du mich fragst hat er Recht. Allein die Tatsache, dass dich Pater Demetrie über Jahre hinweg bei sich aufgenommen hat ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben, die Tatsache, dass er schweigt...“, Löwe brach mitten im Satz ab. „Ist doch merkwürdig, oder?“, murmelte er dann. „Mein Vater scheint inzwischen jedenfalls nicht mehr der Einzige zu sein, der an der Sache beteiligt ist. Irgendetwas an dir, was es auch immer sein mag, macht dich unentbehrlich, wertvoll für die Sache an der sie alle arbeiten. Du bist für sie mehr als nur ein dahergelaufener Junge.“ Ich nickte. Das Puzzle in meinem Kopf ergab immer mehr Sinn. Ich wusste, dass Löwe Recht hatte. Ich war kein dahergelaufener Junge, das war ich nie gewesen. Nicht nur die Mönche kannten mich, nicht nur Pater Demetrie wusste das ich mehr war als ich es bisher gedacht hatte, auch der Adler ahnte es. Das ganze war zu einem Spiel mit der Zeit geworden. Ich war zu lange an diesem Ort geblieben. Ich musste fort von hier. Fort solange ich es noch konnte, es musste einen Grund geben warum der Alte meinen Namen nicht erfahren durfte. Wenn Pater Demetrie schwieg, dann nie ohne Grund. Ich werde dich solange beschützen wie ich kann, das waren seine Worte gewesen. Wie lange Zeit hatte ich also noch?
„Woran denkst du?“, fragte Löwe.
„Pater Demetrie wusste von Anfang an, dass er mich beschützen muss. Ich habe ihn damals nicht richtig verstanden, ich konnte ihn nicht verstehen. Löwe, glaubst du dein Vater arbeitet für etwas Gutes?“
„Was ist schon gut?“, gab er die Frage zurück. Ich zuckte mit den Schultern woher sollte ich das wissen.
„Eine letzte Frage. Warum hat er mich nicht einfach nach meinem Namen gefragt, ich hätte ihm bestimmt geantwortet.“, Löwe nickte.
„Möglich! Aber auf so etwas kommt er nicht. Er geht glaube ich davon aus, dass du weißt wer du bist, dass du nicht so dumm bist ihm deinen richtigen Namen zu nennen.“
„Jetzt nicht mehr!“, gab ich zu. „Trotzdem, ich weiß nicht wer ich bin, ich habe keine Ahnung, nicht ein Stück!“ Löwe musste die Verzweiflung in meiner Stimme gehört haben. Er wurde nachdenklich.
„Wer weiß das schon?“, fragte er. „Wer weiß schon wer er wirklich ist?“
Wir schwiegen. Ich dachte über seine Bemerkung nach.
„Du weißt also auch nicht wer du bist.“ Ich wusste nicht ob ich es als Frage formuliert hatte, er fasste es zumindest so auf.
„Nein,“ antwortete er. „Ich weiß noch weniger als du wer ich bin. Der alte Mann ist nicht mein Vater. Er hat mich bei sich aufgenommen als ich noch ein kleines Kind war. Ich kenne weder meinen richtigen Namen noch hab ich je etwas über meine richtigen Eltern erfahren. Er will nicht, dass ich etwas darüber weiß.“ Wieder schwang Bitterkeit in seiner Stimme. „Meine Dokumente sind alle gefälscht, sehr gut gefälscht versteht sich. Carlo, soll ich heißen, Carlo Esposito.“ Ich musste lächeln. Carlo das Findelkind, wie einfallslos.
„Hast du jemals darüber nachgedacht abzuhauen? Das alles nicht mehr mitzumachen?“, fragte ich ihn.
„Zu oft, fürchte ich!“ Er grummelte vor sich hin. Nach einer Weile schien ihm ein neuer Einfall zu kommen. „Was meinst du?“, fragte er. „Wir beide, wir zusammen. Wir könnten versuchen von hier weg zukommen. Alleine hab ich mich das nie getraut aber zu zweit, wir könnten nach Venedig reisen und anfangen unseren eigenen Film zu drehen. Ich hab es satt immer den Unwissenden zu spielen. Ich will endlich leben und so sein wie ich immer sein wollte.“, er sprach mit einem solchen Enthusiasmus, dass es schwer war, nicht von seinen Schwärmereien mitgerissen zu werden. Löwe formte den Rest meines schwachen Planes, weg musste ich sowieso, warum nicht mit ihm. Venedig hörte sich gut an, ein Ort an dem man gewesen sein sollte.
"Einverstanden.", gab ich mich geschlagen. "Venedig also!"

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Tag der Veröffentlichung: 31.08.2013

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