„Komm endlich, Ajima!“ Ein Junge schrie einem Mädchen zu, die abrupt stehen blieb. Sie sah wieder auf einer Bank unter einem großen Baum den alten Mann sitzen, der dort jeden Tag saß. Keinen einzigen Tag ließ er aus. Seine spitzen Ohren verrieten, dass er ein Elb zu sein schien. Ajima und ihr Freund Elseldo, wie der Junge hieß, spielten häufig hier und Ajima war der Mann schon lange aufgefallen. Heute fasste sie sich den Mut, ging zu dem Mann hin und setze sich neben ihn. Elseldo folgte ihr. „Guten Tag, mein Herr. Sie sehen traurig aus.“ Der Mann drehte seinen Kopf zu ihr und lächelte sie an. „Es geht mir gut, meine kleine Lady. Ich sehe euch oft hier spielen. Wohnt ihr in der Nähe?“ „Ja. Mein Name ist Ajima und das ist mein bester Freund Elseldo.“ Der Mann sah zu Elseldo und lächelte ihn auch an. Dann sah er hoch zu der Baumkrone. „Ich sitze gerne unter diesem Baum. Er spendet mir Trost, wenn es mir einmal nicht so gut geht.“ Ajima sah sich um. Es fing an zu Regnen, doch unter dem großen, starken Baum blieb es trocken. „Es wird bestimmt bald wieder aufhören zu regnen.“, tröstete der Mann sie. Dann fuhr er fort. „Kennt ihr beiden die Geschichte von Lalaith?“ Ajima schüttelte den Kopf, genau wie ihr Freund. „Es ist eine traurige Geschichte, die wirklich so passiert ist. Wollt ihr sie hören?“ Stürmisch nickten beide. „Wenn ich fertig bin, wird es aufgehört haben zu regnen. Noch ein paar Kleinigkeiten, bevor ich mit der eigentlich wirklichen Geschichte anfange. Lalaith hieß nicht von Geburt aus so. Ihr Geburtsname war Urwen. Im Laufe der Geschichte werde ihr noch erfahren, wieso sie alle nur Lalaith nannten. In Ordnung, dann fange ich mal mit der Geschichte an. Als Morwen, Lalaiths Mutter, noch mit ihr schwanger war, machte Morwens Sohn Túrin seiner Mutter das Leben schwer, obwohl er erst ein, zwei Jahre alt war, wusste er gleich schon, dass er keine Geschwister wollte. Eines Tages kam der Tag, an dem Lalaith geboren wurde.“
„Es ist ein Mädchen, Herr!“, gab die Hebamme Pelusa Húrin zu wissen. Dann verließ sie das Zimmer, um die frischgebackenen Eltern allein mit deren Tochter zu lassen. Húrin war der achte Herr des dritten Hauses der Edain. Er ging ins Zimmer seiner Frau und begutachtete seine Tochter. „Ich weiß, du wolltest einen weiteren Sohn, doch könntest du auch eine Tochter lieben?“, sprach seine Frau zu ihm. Er nahm das Mädchen in die Arme und wiegte sie. Dann antwortete er ihr. „Ich werde auch sie lieben können, Morwen. Wie wollen wir sie nennen?“ „Wie wäre es mit Urwen?“, schlug Morwen vor. Húrin sah das Kind noch einmal an und nickte. Er gab Morwen Urwen wieder in die Arme und in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Herein kam Huor, Húrins jüngerer Bruder, Rian, Huors Ehefrau und Morwens Cousine und Túrin, Húrins und Morwens Sohn. Rian wünschte sich so lange ein Kind. Bis jetzt hatte es jedoch noch nicht funktioniert. Sie gaben aber die Hoffung nicht auf.
Rian stürzte sich sofort auf Morwen. Die beiden Männer und der Junge machten sich aus dem Staub. Draußen machte Túrin sich aus dem Staub, während Húrin und Huor ein brüderliches Gespräch führten, das Huor anfing. „Und wie ist es, auch eine Tochter zu haben?“ „Es ist nichts anderes, als mein Sohn geboren wurde, wenn du das meinst.“ „Wie schön wäre es, wenn wir auch endlich einen Sohn oder eine Tochter bekommen würden.“ „Ihr werdet schon noch ein Kind bekommen. Ich denke, dass ihr aber vorher heiraten dürftet.“ Huor nickte. „Wohl wahr.“ „Wir werden in einer Woche eine Feier zu Ehren der Geburt unserer Tochter und ihre Taufe geben. Ich hoffe, dass ihr beiden auch kommt.“, bat Húrin gewissermaßen seinen Bruder. Huor lächelte. „Ich werde natürlich kommen. Wie soll die Kleine eigentlich heißen?“ „Das wirst du morgen erfahren.“ Als ahnte Rian, dass sie gehen wollten, kam sie aus dem Zimmer. Húrin fragte auch sie. „Kommst du auch in einer Woche zu der Taufe unserer Tochter, Rian?“ Rian war sehr glücklich über diese Frage. „Natürlich. Ich danke dir, dass du mich eingeladen hast.“ Dann verabschiedeten sie sich von Húrin und sie gingen.
Eine Woche später, schon ziemlich früh am Morgen wurde alles prachtvoll geschmückt. Selbst Túrin mit seinen zwei Jahren half mit. Es war zwar verhältnismäßig früh, um ein Kind zu taufen, doch Morwen wollte, dass Urwen heute getauft wurde. Sie hatten auch viele Freunde eingeladen. Um die Mittagszeit sollten alle eintreffen.
Schnell war alles geschmückt und die Köche fingen allmählich an, die Speisen zusammenzustellen. Es war fast elf Uhr und Morwen war mit Urwen draußen. Sie wollte bei den Vorbereitungen nicht im Weg stehen. Eine warme Sommerbrise wehte durch ihr Haar. Die Kleine schlief in ihren Armen. Nach einer Weile kam auch Húrin. „Unsere Gäste kommen bald, Schatz.“ Morwen wiegte Urwen ein wenig, da sie aufgewacht war. Dann wandte sie sich wieder an Húrin. „Ich weiß. Ich werde mich gleich umziehen.“
Morwen ging mit ihrer Tochter in ihre Gemächer. Sie zog sich selbst erst ein blaues, langes Kleid, dann Urwen ein weißes Kleid und Túrin einen schönen Anzug an. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Danach gingen sie in den Festsaal und sie wurden von einigen Gästen, die schon gekommen waren, begrüßt. Na ja. Eher Urwen wurde begrüßt. Eine Frau, die Morwen noch nie gesehen hatte, bat, die Kleine einmal in den Arm nehmen zu dürfen. Sie sah zu Húrin, und er nickte leicht. Morwen gab ihr das Kind, blieb aber vorsichtig. Húrin stieg auf eine Tribüne. „Liebe Gäste. Ich habe euch alle eingeladen, um euch zu offenbaren, dass mir vor einer Woche von Morwen eine gesunde Tochter geschenkt wurde! Vielen von euch ist es bestimmt schon zu Ohren gekommen, wie unsere Tochter heißen soll. Für die anderen, die es noch nicht gehört haben, werde ich es gerne noch einmal sagen! Wir werden heute unsere Tochter auf den Namen Urwen taufen lassen!“ Es war ein Jubeln in der Menge zu hören. Nachdem die Gäste sich wieder beruhigt hatten, fuhr er fort. „Wir werden jetzt nur noch warten, bis die anderen Gäste eintreffen! Bedient euch nur an den Speisen und dem Wein und esst und trinkt, soviel Ihr könnt und wollt! Bleibt jedoch bitte nüchtern!“ Die Menge lachte. Dann vergnügten sie sich alle wieder und nach einer Stunde waren alle Gäste, die eingeladen waren, anwesend. Als auch sie Urwen betrachtet hatten, wurde die Taufe vorbereitet. Bevor sie jedoch das Mädchen taufen konnten, meldete sich die fremde Frau wieder zu Wort. „Lasst mich bitte Urwens Taufpatin sein.“ Húrin trat hervor und reichte ihr die Hand. „Ich hatte noch keine Zeit, dich zu begrüßen, Lúthien Tinúviel. Ich habe nichts dagegen. Hast du was dagegen, Morwen?“ Morwen schüttelte den Kopf und die Taufe wurde fortgesetzt.
Als die Taufe zu Ende war, gab Lúthien Morwen ihre Tochter wieder. Danach unterhielt sich Morwen noch ein wenig mit Lúthien, um sie näher kennen zu lernen. „Woher kommen Sie?“ „Sie können ruhig ‚du’ sagen. Ich komme aus Doriath und habe auch lange dort gewohnt. Wo sind Sie geboren, wenn man fragen darf?“ „Du kannst auch ruhig ‚du’ sagen. Ich wurde in Dorthonion geboren. Ich musste jedoch fliehen und kam hier her nach Dor-lómin. Aber Doriath ist eine schöne Stadt. Irgendwann werde ich einmal dorthin gehen.“ Lúthien sah sich nach ihrem Mann um. Als sie sich vergewissert hatte, dass er noch in der Nähe war, wendete sie sich wieder Morwen zu. Morwen wunderte sich, nach was sich Lúthien umsah und fragte nach. „Suchst du jemanden?“ „Nein. Ich habe nur nach meinem Mann gesehen. Ich bin heute mit ihm hier. Er ist ein Freund von deinem Mann.“ Lúthiens Mann und Húrin kamen auf die beiden Damen zu und jeder nahm seine Frau in die Arme. Húrin stellte seiner Frau anschließend den Mann vor. „Darf ich dir Beren vorstellen, Morwen. Ein Freund unseres Hauses. Beren, ich will dir meine Frau Morwen vorstellen. Das auf ihrem Arm ist übrigens Urwen. Das wirst du aber schon wissen.“ Morwen gab Beren die Hand und unterhielt sich mit ihm. „Schön dich kennen zu lernen. Kennen wir uns nicht?“ Beren kratzte sich am Kopf. Das machte er immer, wenn er überlegte. Dann fiel es ihm ein. „Ach ja. Du bist die Tochter von meinem Cousin.“ Morwen nickte. „Stimmt. Du bist mein Großcousin. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du fünfzehn Jahre alt.“ „Ja. Und du warst vier. Das du dich nach so langer Zeit noch an mich erinnern kannst?!“ Húrin machte einen Witz und wendete sich an Lúthien. „Ich denke, wir lassen die beiden lieber allein.“ Morwen kniff die Augen zusammen und schlug ihren Mann leicht auf den Arm. „Sehr witzig, Schatz! Wir haben uns eben lange nicht mehr gesehen!“ „Schon gut! Schon gut! Es war doch nur ein Witz.“ Morwen verzieh ihrem Mann noch einmal und unterhielt sich noch eine Weile mit Beren und Lúthien, während Húrin Urwen ins Bett brachte. Danach zwang er Túrin ins Bett zu gehen und nach und nach gingen auch alle Gäste, bis der Thronsaal leer war. Húrin bat Beren und Lúthien heute hier zu übernachten. Dieses Angebot nahmen beide gerne an.
Fast drei Jahre waren inzwischen ohne besondere Vorkommnisse vergangen. Urwen war mit ihren zwei Jahren schon ziemlich intelligent. Ihrem Bruder missfiel das sehr. Ihre Entwicklung war schon weiter, wie die bei Túrin und den anderen Kinder in ihrem Alter. Sie konnte schon ziemlich gut sprechen, gehen und denken.
Eines Tages ging Urwen zu ihrer Mutter. „Mama. Ich will in den Kindergarten.“ Ihre Mutter sah sie mit großen Augen an. „Dafür bist du doch noch zu klein, Engelchen.“ „Nein, Mama! Bin ich nicht! Bitte!“ Morwen atmete tief durch und verdrehte die Augen. Sie wusste, dass viele in Urwens Alter in den Kindergarten gingen. Morwen hatte nur Angst um ihre Tochter. Sie sah wieder zu ihrer Tochter, die sie mit großen Augen ansah. Morwen gab nach. „Na gut. Wenn es dein Wunsch ist, Engelchen. Wir müssen es nur noch deinem Vater schonend beibringen.“
Er reagierte gelassen, obwohl Túrin erst mit drei Jahren in den Kindergarten gekommen war, doch auch er wusste, dass Urwen nicht aufgab, bis sie bekam, was sie wollte. Und seiner Tochter hatte er noch nie einen Wunsch abschlagen können. Zudem wurde sie sowieso bald drei Jahre alt und die wenigen Monate machten auch nichts mehr aus.
Am nächsten Morgen bat Morwen ihren Sohn Urwen mitzunehmen. Nach einer großen Diskussion nahm er sie endlich mit. Auf dem Weg redete er die ganze Zeit nur auf seine kleine Schwester ein: „Ich bringe dich nur zum Kindergarten! Wie du wieder heimkommst, ist deine Sache!“ Urwen sah ihn mit ihren großen Augen an. „Aber ich kenne den Weg nicht nach Hause.“ Túrin antwortete aber nur steif. „Ist das mein Problem?!“ Túrin wartete, bis seine Schwester zu weinen anfangen würde, doch da irrte er sich gewaltig. Stattdessen lächelte sie ihn an. Wütend ging er weiter und zehn Minuten später waren sie dort.
Als die Zeit kam, wo sie draußen spielen durften, war Urwen die Letzte, die in den Hof ging. Nicht, weil sie Angst vor den Anderen gehabt hätte, sondern weil sie alle immer von der Tür wegschubsten.
Draußen kam Urwen ihr Bruder mit vielen anderen Jungen entgegen. Túrin sprach zu seinen Freunden: „Darf ich vorstellen? Meine blöde jüngere Schwester Urwen oder soll ich sie lieber Lalaith nennen! Egal, was man zu ihr sagt oder ihr antut; sie lacht immer!“ Seine Clique lachte und ging davon. Beim Vorbeigehen, stieß Túrin Urwen, sodass sie umfiel und, da es in der Nacht geregnet hatte und der Boden noch nass war, direkt in den Schmutz fiel. Das veranlasste alle wieder zu lachen, jedoch einer drehte sich um und half ihr auf. „Geht es dir gut?“ Urwen sah ihr Kleid an und, obwohl sie voller Schmutz war, nickte sie. „Ich habe mir nicht wehgetan, wenn du das meinst.“ „Túrin kann manchmal gemein sein. Ich bin im übrigen Gelmir.“ „Wieso willst du mit mir zusammensein?“ Gelmir lächelte. „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil Túrin so viele Freunde hat und du keine. Wollen wir nicht miteinander spielen?“ „Wieso nicht.“ „Übrigens, ich finde den Namen Lalaith schön. Darf ich dich weiter so nennen?“ Urwen lächelte und nickte.
Nach dem Kindergarten verschwand Túrin schnell, um seine Schwester nicht wieder mit nach Hause nehmen zu müssen. Gelmir sah das und wartete auf Urwen. Dann brachte er sie nach Hause. Er war schon oft bei Túrin zu Besuch. Er hatte auch Urwen schon gesehen, doch nicht recht wahrgenommen. Auf dem Nachhauseweg redete Urwen mit Gelmir. „Túrin ist gemein!“ Gelmir musste ihr Recht geben. Er wäre bestimmt auch nicht froh, wenn er eine Schwester hätte, doch würde er sie niemals irgendwo allein stehen lassen. Urwen riss Gelmir mit einer Frage aus seinen Gedanken. „Bist du ein Elb?“ Gelmir nickte. „Ja, ein Noldorin-Elb. Stört dich das?“ Urwen schüttelte stürmisch den Kopf. Gelmir ging erst selbst nach Hause, als Urwens Eltern sie in die Obhut nahmen. Dann suchte Morwen Túrin und stellte ihn zur Rede. „Bist du verrückt geworden? Du kannst deine Schwester nicht einfach nach dem Kindergarten allein dort stehen lassen? Sie kennt den Kindergartenweg noch nicht!“ Túrin schien die Worte seiner Mutter zu ignorieren, denn er zeigte keine Reaktion. Morwen sprach dennoch weiter. „Wie würde dir das gefallen, wenn man dich irgendwo stehen lassen würde, wo du dich nicht auskennst?“ Wieder schien er nicht zuzuhören. Aber seine Mutter gab nicht auf. Nach einer Weile schien es ihm zu reichen und endlich reagierte er. „Lass mir meine Ruhe! Ich mag Urwen nicht! Sie ist so… so…“ Túrin verließ wütend das Zimmer. Morwen dachte sich, dass er wahrscheinlich nur eifersüchtig war. Vorher hatten sich alle nur um ihn gekümmert, und jetzt gab es Urwen auch noch. Die ganzen drei Jahre hackte Túrin schon auf Urwen herum, doch das heute war das Schlimmste. Sie beschloss, Urwen morgen selbst zum Kindergarten zu bringen. Ihrem Sohn vertraute sie ihre Tochter nicht mehr an.
Am Morgen machte sich Morwen zum Gehen bereit, als es an der Haustür klopfte. Morwen ging zur Tür und öffnete sie überrascht, wer so früh schon um Einlass bat. Vor der Tür stand Gelmir. „Guten Morgen, Madame. Ich möchte Lalaith… äh… Urwen mit zum Kindergarten nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Morwen nickte. „Wenn du wirklich willst.“ Morwen holte Urwen, die schon für den Kindergarten vorbereitet war. Sie machten sich auf den Weg, doch nach einem Stück drehte sich Gelmir um und sah zu Morwen, die immer noch an der Tür stand. „Ich werde sie bestimmt auch wieder nach Hause bringen.“ Als Urwen im Kindergarten zum Spielen in den Hof hinaus ging, war nichts von Gelmir zu sehen. Eine Weile saß sie allein auf einer Bank, als Gelmir plötzlich hinter der Bank stand. Unabsichtlich erschreckte er sie. Mit ehrlichem Bedauern entschuldige er sich jedoch bei Urwen. Dann erklärte er ihr, wieso er so spät kam, denn die Spielzeit war fast schon wieder vorbei. „Die Kindergärtnerin hat mich bestraft, weil ich mit Jemanden angefangen habe zu streiten. Ich musste die Spielsachen aufräumen.“ „Macht doch nichts, dass du so spät bist. Ich hatte sowieso keine Lust zu spielen. Ich habe Túrin zugesehen. Weißt du, was ihm heute passiert ist?“, fragte Urwen ihren neuen Freund. Der schüttelte den Kopf. Urwen sprach weiter. „Ein Junge hat ihn heute angerempelt und Túrin ist hingefallen. Direkt in das Wasserbecken und dann in den Schmutz.“ „Auch wirklich?“ „…Nein. Er konnte sich gerade noch fangen. Ich habe es mir nur lustig vorgestellt, wenn es so gekommen wäre.“ Gelmir musste kichern. Er musste sich eingestehen, dass er es auch ziemlich lustig vorgestellt hätte. Die Kinderbetreuer riefen alle Kinder wieder zurück. Gelmir hielt Urwen noch auf, bevor sie mit den anderen Kinder hineingehen konnte. „Wir treffen uns nach dem Kindergarten da drüben beim Baum.“ „In Ordnung, Gelmir.“ Dann gingen auch sie zurück in ihre Klasse.
Drinnen durfte Gelmirs Klasse malen. „Malt, was ihr wollt. Wenn ihr fertig seid, dürft ihr es an die Wand da drüben hängen. Dann können es sich die Anderen auch noch ansehen.“, sprach die Betreuerin, bevor sich die Kinder Stifte und Pergament suchten und zu malen anfingen. Túrin setzte sich neben Gelmir. „Na du Verräter! Wie ist es mit meiner Schwester zu spielen?“ Gelmir drehte sich verächtlich weg, doch Túrin packte Gelmir an der Schulter und zwang ihn ihm zu antworten. „Schöner, als mit dir zu spielen, Túrin! Jetzt lass mich bitte in Ruhe!“ „Du wirst sehen, dass es ein Fehler war, dich mit ihr anzufreunden! Irgendwann wird sie so werden wie ich!“ Túrin ging mit seinen Freunden zu einem andern Platz. Gelmir hatte Túrin noch nie gefürchtet. Er war der Überzeugung, dass Elben Menschen nicht so schnell fürchten sollten. Sowieso würde er ihm niemals irgendetwas tun. Dazu war er schon zu feige. Anstatt weiter über Túrin nachzudenken, malte er sein Bild fertig. Danach befestigte Gelmir es an der Wand und sah es sich noch einmal an. Er sah sich auch die anderen Bilder, die schon dort hingen, an. In seinen Augen waren alle schön. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz. Nach und nach waren alle fertig und der Kindergarten neigte sich dem Ende zu. Kaum war er zu Ende, beeilte er sich, um rechtzeitig am Baum zu sein, wo er und Urwen sich nach dem Kindergarten immer trafen, um zusammen nach Hause zu gehen. Dort unter dem Baum war eine Bank, auf der Urwen saß. Gelmir setzte sich neben sie. Urwen sah ihn an. „Das wir mein Lieblingsplatz. Der Baum ist schön und groß. So will ich auch einmal werden. Werden wir dann immer noch Freunde sein, Gelmir?“ Gelmir überlegte, dann antwortet er. „Natürlich. Wir werden für ewig Freunde sein und irgendwann werden wir heiraten.“ Gelmir beugte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann stand Gelmir auf und gab ihr die Hand. „Milady Lalaith. Ich müsste Sie jetzt bitten, Ihren neuen Lieblingsplatz zu verlassen, denn mein genauer Auftrag lautet, Sie wohlbehalten nach dem Kindergarten nach Hause zu bringen.“ Urwen kicherte ein wenig und gab ihm dann die Hand. „Aber selbstverständlich werde ich Ihrem Wunsch nachkommen.“ Auf dem Nachhauseweg unterhielten sie sich noch ein wenig. „Dein Wortschatz ist für eine Dreijährige schon sehr umfangsreich. Weißt du, was morgen ist?“ Urwen sah nachdenklich drein und schüttelte dann den Kopf. Gelmir fuhr fort. „Morgen ist mein fünfter Geburtstag. Ich feiere nach dem Kindergarten. Und keine Angst! Túrin ist nicht eingeladen.“ „Wer ist denn aller eingeladen?“ Gelmir lächelte ein wenig. „Nur Freunde von mir, die bestimmt nichts gegen dich haben werden. Du musst auch kein Geschenk mitbringen. Ich bin schon froh, wenn du zu meinem Geburtstag kommen darfst.“
Beim Haus angekommen, fragte Urwen ihre Mutter sofort, ob sie morgen gleich nach dem Kindergarten zum Geburtstag dürfte. Morwen war froh, dass Urwen an etwas Interesse zeigte, und sagte ‚ja’. Urwen freute sich sehr und sagte gleich ihrem Freund Bescheid. Morwen folgte ihr zur Tür. Gelmir verabschiedete sich. „Ich hole dich morgen wieder ab. Bis morgen, Lalaith.“ Urwen schloss die Tür und wollte in ihr Zimmer gehen, als sie von Morwen aufgehalten wurde. „Seit wann haben wir dir den Namen ‚Lalaith’ gegeben?“ „Túrin hat es zu mir gesagt, um mich zu beleidigen, - glaube ich. Gelmir hat der Name gefallen und seitdem nennt er mich so.“ „Interessant. Gefällt dir eigentlich dein Name?“ Urwen nickte. „Ja, Mama. Natürlich.“ Morwen sah ihrer Tochter genau in die Augen. „Sei ehrlich, Engelchen. Gefällt er dir wirklich?“ Urwen sah kurz auf den Boden und antwortete dann ihrer Mutter. „Ich finde meinen Namen nicht schlecht, nur hört er sich an, als wäre ich tausend von Jahren alt. Ich will dich nicht kränken, Mama…“ Morwen fiel ihr ins Wort. „Das machst du nicht. Dir gefällt wohl der Name ‚Lalaith’ besser, was?“ Urwen nickte mit einem Lächeln im Gesicht. Morwen kannte das Alter, in denen Kinder anders heißen wollten, wie sie eigentlich hießen. Manchmal gaben auch die Anderen einem einen anderen Namen. Ihr selbst wurde der Beiname Eledhwen (Elbenschein) gegeben, der ihr auch besser gefiel als der Name Morwen.
Morwen legte ihre Hand auf Urwens Schulter. „Wenn dir dieser Name besser gefällt, werde ich dich gerne auch so nennen, wenn du es willst.“ Urwen zuckte mit den Schultern. „Nur, wenn du es wirklich willst.“ Morwen entgegnetet ihr nur. „Hätte ich es dir angeboten, wenn ich es nicht wollen würde, Lalaith?“
Am nächsten Tag im Kindergarten freute sich Urwen die ganze Zeit auf die Geburtstagsfeier am Nachmittag. Als dann die Zeit gekommen war, kam ihr, als sie auf der Bank saß, jede Sekunde wie eine Minute und jede Minuten wie eine Stunde vor. Als dann Gelmir endlich kam, rannte sie ihm schon entgegen. „Endlich bist du gekommen. Ich freue mich schon so.“
Gelmir runzelte die Stirn. „Du freust dich, wenn mein Geburtstag ist?“ „Ja. Es ist der erste Geburtstag, auf den ich eingeladen bin. Ich habe sogar ein Geschenk für dich. Hier, bitte!“ Urwen überreichte ihm ihr Geschenk. Er setzte sich schnell auf die Bank und öffnete es. Darin war ein Bild in einem Bilderrahmen. Urwen hatte das Bild selbst gemalt. Gelmir gab ihr wieder einen Kuss auf die Wange und bedankte sich bei ihr für das schöne Geschenk. Dann machten sie sich auf den Weg.
Gelmirs Geburtstagsgäste warteten schon. Die meisten Freunde von ihm kannte er schon, seit er geboren wurde und gingen schon zur Schule. Der größte Raum im Haus war schön geschmückt. Als Gelmir da war, brachten seine Eltern die Speisen herein. Nachdem jeder etwas gegessen hatte, gaben sie Gelmir ihre Geschenke. Er freute sich über jedes Geschenk. Urwen sah die Sachen an und ihr fiel auf, dass sie die Einzige war, die ihm etwas Selbstgebasteltes geschenkt hatte. Sie sah Gelmir das letzte Geschenk aufmachen. Ihr kam es so vor, als würden ihm die Geschenke mehr gefallen. Urwen ging an die frische Luft und setzte sich auf die Eingangtreppe. Ein älteres Mädchen kam zu ihr und setzte sich neben sie. „Hallo, Mädchen. Was ist mit dir los?“, Urwen sah sie an und ließ dann wieder den Kopf hängen „Nichts. Ich brauchte nur frische Luft.“ „Ich sehe doch, dass dir etwas fehlt.“ Urwen atmete tief durch sah zum Himmel. „Ich glaube, Gelmir haben die anderen Geschenke mehr gefallen, wie meines.“ „Meinst du das selbstgemalte Bild? Gelmir hat es uns allen gezeigt. Es ist dir gut gelungen.“ Urwen sah sie erstaunt an. „Er hat es wirklich jedem gezeigt?“ Das Mädchen nickte. Urwen stand auf und gemeinsam gingen sie zurück zur Geburtstagsfeier. Gelmir, der dachte, Urwen wäre nach Hause gegangen, war froh, dass das nicht der Fall war.
Etwa drei Monate nach Gelmirs Geburtstag hatte auch Urwen Geburtstag. Sie hatte inzwischen auch schon andere Freunde gefunden, die sie zur Feier einlud. Natürlich war auch Gelmir eingeladen, der gerne kam. Sie feierten jedoch nicht bei Urwen Zuhause, sondern auf einer nahegelegenen Wiese. Dort waren viele Spiele aufgebaut. Urwen hatte das Glück, dass ihr Geburtstag auf den letzten Tag der Ferien fiel.
Als erstes kam Gelmir. Die anderen Gäste waren erst zwei Stunden später eingeladen. Er wollte jedoch der Erste sein, der ihr sein Geschenk überreichte. So geschah es auch. Er schenkte ihr eine Kette in dem ein Bild von einem Engel war. „Soll ich sie dir umlegen?“ fragte Gelmir und nahm ihr die Kette aus der Hand. Er legte sie ihr um und sah sie von vorne noch einmal an. „Du siehst wunderschön mit der Kette aus.“ gab Gelmir zu und sah sie weiter mit großen Augen an. Urwen trug nämlich noch dazu ein goldgelbes Kleid und eine gleichfarbige Schleife im Haar. Man sah, wie Urwen leicht rot wurde. „Danke, Gelmir. Du hättest mir nicht so ein teueres Geschenk geben brauchen. Meins war doch auch nur etwas Selbstgemachtes.“ Urwen sah zur Seite. Ihr Gesicht wurde immer roter. Sie konnte Gelmir nicht mehr in die Augen sehen. Nach einer Weile hatte Gelmir seine Stimme wieder gefunden. „Ich weiß. Es ist nur schön, dich glücklich zu sehen.“ Urwen gab Gelmir die Hand und zeigte ihm die geschmückte Wiese. Er war begeistert. „Du bist der Erste, der die so geschmückte Wiese sehen darf.“ sagte sie zu ihm und lief die Wiese bis zum Tisch entlang, wo sie sich hinsetzte. Gelmir folgte ihr stumm. Zwei Stunden später kamen auch die anderen Gäste. Die Spiele, die aufgebaut waren, gefielen den Kindern sehr. Urwen fiel auf, dass ein Junge nur auf dem aufgebauten Tisch saß, anstatt mit den anderen Kindern zu spielen. Sie ging zu ihm hinüber und setzte sich neben ihn. „Was ist mit dir?“ fragte sie den Jungen, der den Kopf zu ihr drehte und sie ansah. Dann antwortete er ihr: „Mir geht es seit Tagen nicht besonders. Mama hat gesagt, dass ich mir wahrscheinlich eine Sommergrippe eingefangen habe. Ich halte mich deshalb lieber von den anderen Kindern fern. Ich wollte dir doch so gern mein Geschenk geben.“ Urwen lächelte. „Das verstehe ich. Wie heißt du?“ „Kelva.“ „Schöner Name. Du solltest aber jetzt lieber nach Hause gehen.“ Kelva stimmte zu und, kaum war er aufgestanden, brach er zusammen. Urwen wollte gerade ihre Eltern holen, als die Eltern des Jungen hinzu kamen. Sie brachten ihn sofort nach Hause. Die anderen Gäste bekamen fast nichts davon mit. Sie waren zu sehr mit den Spielen beschäftigt. Urwen und Gelmir spielten auch wieder weiter.
Am Abend war Gelmir der Letzte, der die Feier verließ. Urwen war noch so aufgeregt, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte. Sie nahm sich ein Buch, das sie heute geschenkt bekommen hatte, und sah sich die Bilder an. Morwen, die am Zimmer vorbei ging, sah am Lichtschein, dass ihre Tochter noch wach war. Sie öffnete die Tür. „Ich denke, es ist langsam Zeit, dass du schläfst.“ Urwen sah ihre Mutter an. Dann ließ sie sich in ihre Kissen fallen. „Mama? Liest du mir das Buch vor?“ Morwen setzte sich an die Bettkante und sah sich das Buch an. Ernst sah sie Urwen an. „Wenn du dann schläfst.“ Sie nickte.
Am nächsten Morgen musste Morwen Urwen drei Mal aufwecken, bis sie aufstand. Sie sah auch nicht gerade munter aus. Gestern konnte sie immer noch nicht schlafen, als die Geschichte zu Ende war und Morwen das Zimmer verlassen hatte. Jetzt war sie total müde.
Im Kindergarten ging es ihr nicht besser. Sie konnte sich nicht richtig konzentrieren und hatte auch keine Lust zu spielen. Nach zwei Stunden beschlossen die Betreuer, Urwen nach Hause zu schicken. So brachte Gelmir sie nach Hause, wo sie sich sofort ins Bett legte, und Morwen ihr Medizin brachte. Gelmir ging wieder zurück in den Kindergarten. Den ganzen Tag hindurch ging es ihr nicht besser. Dafür schlief sie nachts besser.
Am nächsten Morgen ging es ihr wieder so gut, dass sie in den Kindergarten hätte gehen können. Morwen wollte jedoch, dass sie zu Hause blieb. Wütend verzog sich Urwen in ihr Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett fallen ließ. Morwen kam zur Tür herein und setzte sich auf den Stuhl, der neben Urwens Bett stand. Dann sprach sie mit Urwen. „Verstehe doch Engelchen. Du musst dich noch ein wenig ausruhen.“ Urwen drehte sich auf ihrem Bett um. Der Blick, mit dem sie ihre Mutter ansah, war Morwen unbekannt. „Mir geht es wieder gut, Mama! Ehrlich!“ Morwen strich ihrer Tochter über das blonde Haar. „Das glaube ich dir ja, Lalaith, aber es ist besser, wenn du heute noch zu Hause bleibst.“ Urwen setzte sich in ihrem Bett auf und atmete tief durch. Dann nickte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. So verließ Morwen Urwens Zimmer. Vom Fenster aus sah sie Gelmir draußen. Sie ging zur Tür, um ihm Bescheid zu geben, dass Urwen heute nicht in den Kindergarten gehen würde. Gelmir, der auf der Treppe saß, stand schnell auf, als sie die Tür öffnete. Um so mehr war er enttäuscht, als es nur Morwen war, die aus der Tür trat. „Tut mir leid, Gelmir. Ich möchte gerne, dass Lalaith heute noch zu Hause bleibt, auch wenn sie denkt, es ginge ihr wieder gut.“ „Ich verstehe. Noch einen schönen Tag, wünsche ich Ihnen.“ Gelmir war wie der Blitz weg. Er wollte den Kindergarten nicht verpassen. Dort angekommen, wartete Túrin vor der Tür auf ihn. Zusammen mit seinen Freunden. Er ließ Gelmir nicht vorbei und gab ihnen einen Stoss, sodass er nach hinten fiel. „Ach entschuldige! Das wollte ich wirklich nicht. Komm! Ich helfe dir auf.“ Túrin reichte ihm die Hand. Als Gelmir sie dankend annahm, ließ Túrin ihn auf halber Höhe los, sodass er zurück auf den Boden fiel. Dann ging er lachend mit seinen Freunden weg. Gelmir richtete sich auf und wischte sich Tränen aus den Augen. Um keinen Preis wollte er, dass ihn die anderen Kinder so sahen. Dann ging er ins Gebäude.
Am Nachmittag schlich sich Urwen aus ihrem Zimmer hinaus zu Gelmir. Zusammen gingen sie zum nahgelegenem Fluss, wo sie ihre Schuhe auszogen und ihre Füße in das von der Sonne aufgewärmte Wasser steckten. Gelmir fand, dass Urwen heute schon viel besser aussah, als gestern. Dennoch kam sie ihm abwesend vor. Sie konnte sich, wie gestern, schwer konzentrieren und wenn Gelmir mir ihr redete, ließ sie sich leicht ablenken. Ihr mochte es besser als gestern gehen, doch gesund war sie noch lange nicht. Nach einer Weile nahmen sie die Füße wieder aus dem Wasser und zogen die Schuhe an. Sie legten sich ins Gras und sahen zum Himmel, der sich langsam schwarz zu Färben schien. Das störte die beiden allerdings kaum. Erst als die ersten Regentropfen die Erde berührten, machten sie sich langsam auf den Weg nach Hause. Schon an der Eingangstür warteten Morwen und Húrin. Sie sahen sehr wütend aus, sodass Urwen anfangs Angst hatte, das Haus zu betreten. Drinnen bat Húrin sie, sich hinzusetzten und hielt ihr eine Standpredigt. „Willst du noch kränker werden? Du könntest jederzeit wieder im Bett landen.“ Urwen senkte den Kopf. Sie konnte ihrem Vater nicht in die Augen sehen. Sie wusste, dass es falsch gewesen war, ohne Zustimmung ihrer Eltern das Haus zu verlassen. Als Húrin alles gesagt hatte, was er zu sagen hatte, meldete sich auch Morwen zu Wort. „Wir haben uns große Sorgen gemacht. Wenn dir etwas passiert wäre, hätten wir nicht einmal gewusst, wo du bist.“ Urwen verstand ihre Mutter – wie sie sich Sorgen gemacht hatte. Sie hob ihren Kopf und wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Es tut mir sehr leid, Mama und Papa. Ich wollte doch nur mit Gelmir spielen. Mir war so langweilig. Ich möchte jetzt bitte auf mein Zimmer gehen.“
Auch Gelmir bekam zu Hause Ärger. Seine Eltern wussten auch nicht, wo er gewesen war und hatten sich Sorgen gemacht. Ihn schien das jedoch nicht zu interessieren. Er ging schnurgerade in sein Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Seine Mutter kam herein und setzte sich auf sein Bett. „Wieso bist du so spät nach Hause gekommen?“ „Beruhige dich, Mama. Mir ist doch nichts passiert“, gab Gelmir nur zur Antwort. Seine Mutter schüttelte den Kopf. Sie war zu gutmütig und konnte ihren Sohn nicht schimpfen. So ging sie wieder und Gelmir ging ins Bett.
Am nächsten Morgen ging Gelmir zum Kindergarten, als Urwen ihn einholte. Er blieb stehen und Urwen atmete tief durch, was aber auch nicht half. Außer Atem stellte sie Gelmir zur Rede. „Wieso… hast du… nicht… auf mich… gewartet?“ „Ich dachte, du würdest heute immer noch nicht in den Kindergarten gehen. Tut mir leid, Lalaith.“ Sie gingen weiter und jeder erzählte dem Anderen, was sie zu Hause noch erlebt hatten. Am Ziel angekommen, trennen sich ihre Wege. Kaum war Urwen in ihrer Kindergartengruppe angekommen. Begann die Kindergärtnerin mit ihrer Nachricht: „Liebe Kinder. Ihr kennt doch alle Kelva. Ihr wisst doch auch, dass er krank geworden ist. Ich muss euch sagen, dass er leider nie wieder kommen wird. Er ist gestern Abend gestorben. Deshalb wollen wir heute für ihn eine Gedenkminute abhalten. Schließt bitte euere Augen.“ Alle taten, was die Kindergärtnerin sagte und im Zimmer wurde es ganz still.
Als alle in den Hof durften, suchte Urwen sofort ihren Freund. Sie fand ihn auch schnell. Dann setzten sie sich auf die Bank. Urwen fing sofort an, zu erzählen. „Kelva, der Junge, der zu meinem Geburtstag gekommen ist, ist gestern gestorben.“ „Was?! Er war doch noch so jung!“ Urwen nickte, während sie auf dem Boden einen Käfer ansah. Ihr wurde schwindelig und sie fiel von der Bank auf den harten Boden. Gelmir kniete sich sofort auf den Boden und sprach zu Urwen. „Lalaith! Lalaith! Was ist mit dir? Hilfe!! Hilfeeeeeee!!!“ Sogleich kam eine Betreuerin auf ihn zugerannt und befahl einem anderen Betreuer, einen Heiler zu holen. Einstweilen brachten sie Urwen ins Gebäude. Nach einer halben Stunden kam der Heiler und untersuchte Urwen. Dann wendete er sich an die Kindergärtnerin. „Sie hat hohes Fieber und scheint wenig Luft zu bekommen. Ich habe ihr Medizin gegeben. Es ist dennoch besser, wenn ihre Eltern sie abholen würden.“ Die Erzieherin nickte. Sie benachrichtigte Urwens Eltern, die sie so schnell wie möglich abholten und ins Bett brachten. Sodann redete Húrin mit Morwen. „Zur Zeit hat es viele erwischt. Es kann keine normale Grippe sein. Ich habe von einem Wind gehört, der eine sogenannte Seuche mitgebracht hat. Sie nennen ihn den ‚Verfluchten Wind’. Wir können nur hoffen, dass Urwen nicht auch zu denen gehört, die sich angesteckt haben. Sie ist zu jung, um zu sterben“ „Daran dürfen nicht einmal denken! Sie wird wieder gesund werden! Bestimmt!“ Húrin zuckte mit den Schultern und entfernte sich, ohne seine Frau noch einmal anzusehen. Das verunsicherte Morwen nur noch mehr in ihrer Überzeugung. Sie ging noch einmal in Urwens Zimmer neben ihr Bett. Sie strich ihr übers Haar und Urwen öffnete leicht ihre Augen. Urwen sah ihre Mutter an und schloss dann die Augen wieder. Sie hatte sehr hohes Fieber. Tagelang lag sie im Bett und aß und trank kaum etwas. Langsam schwand auch Morwens Hoffnung an der Genesung ihrer einzigen Tochter. Túrin hatte sich in den wenigen Tagen verändert. Erst jetzt zeigte sich, dass er seine Schwester nicht hasste. Im Gegenteil. Er litt mit ihr. Immer wieder verzog er sich in sein Zimmer und glaubte, seine Eltern würden es nicht merken, dass er heimlich betete.
Es vergingen zwei weitere Wochen und Gelmir besuchte Urwen einmal wieder. Vorher durfte er nicht, weil niemand wusste, ob diese Krankheit ansteckend war. Der ‚Verfluchte Wind’ war auch schon wieder vorüber gezogen. Morwen stand an der Tür und begrüßte Gelmir. „Guten Tag, Gelmir. Wie geht es dir so?“ Gelmir lächelte. Das reichte ihr schon als Antwort auf ihre Frage. Jetzt sagte auch Gelmir etwas. „Kann ich heute zu Lalaith?“ „Ich denke schon. Gestern ging es ihr schon wieder besser. Ich denke, sie hat das Schlimmste überstanden. Ich glaube, sie schläft noch. Du kannst sie aber bestimmt aufwecken.“ Gelmir eilte ins Haus und in Urwens Zimmer. Sie schlief tatsächlich noch. Gelmir setzte sich aufs Bett und weckte sie auf. „Geht es dir wieder besser, Lalaith? Ohne dich ist es im Kindergarten und auf dem Weg dorthin so langweilig. Du musst bald wieder gesund werden.“ Urwen öffnete kurz die Augen und lächelte Gelmir von der Krankheit geschwächt an. Dann schloss sie die Augen wieder. Gelmir bekam Angst und wollte Urwen wieder wachrütteln. Ihre Augen blieben jedoch geschlossen. „Lalaith! Wach bitte wieder auf! Lalaith! Lalaaaaaaaith!!!!“
Eine Woche später fand die Beerdigung statt. Es kamen viele Leute. Manchen fiel es zunehmend schwerer, ihre Tränen zu unterdrücken und so ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Natürlich waren auch Morwen, Húrin, Túrin, Huor und Rian anwesend. Auch Lúthien und Beren waren gekommen. Gelmir stand anfangs ein beträchtliches Stück weit von der Trauergemeinde weg, bevor er sich doch scheu den Trauernden näherte. Seine Augen schmerzten schon, doch er musste sich trotzdem immer noch mehr Tränen aus dem Gesicht wischen. Er konnte einfach nicht aufhören, zu weinen. Immer wieder, wenn er meinte, es ginge wieder, füllten seine Augen sich erneut mit Tränen. Er erblickte Túrin, der nur am Grab stand und auf die Erde über dem Grab starrte. Gelmir ging zu ihm, um ihn zu trösten. „Bestimmt gefällt es Lalaith dort, wo sie jetzt ist.“ Túrin sah hoch und Gelmir ins Gesicht. „Das ist mir doch egal! Mutter hat mich gezwungen, zu ihrer Beerdigung zu gehen!“ Gelmir ließ sich aber nicht täuschen. „Warum zerbricht dann dein Herz gerade?“ Túrin wurde wütend. „Rede nicht so einen Unsinn! Ich hasse meine Schwester! Ich hasse sie!“ Túrin liefen Tränen die Wangen hinunter und er ließ sich auf die Knie fallen. Gelmir ging neben ihm in die Hocke und strich ihm über den Rücken. „Wie konnte sie mich nur verlassen?! Dafür hasse ich sie!“ Gelmir wollte etwas darauf sagen, doch ihm fielen keine Worte ein, die ihn trösten könnten. Somit schwieg er und wischte sich selbst die Tränen wieder weg. Gelmir wusste, dass es auch für Túrin ein schwerer Tag war.
Ajima und Elseldo weinten. Die Geschichte hatte sie sehr mitgenommen. Es regnete bereits seit einer halben Stunde nicht mehr, doch die beiden wollten die Geschichte weiter hören. So blieben sie. Der alte Mann strich sich über den Kopf und beendete seine Geschichte. „An diesem Tag schlief Lalaith ein und wachte nie wieder auf. Gelmir hatte seine beste Freundin verloren.“ Ajima sah auch in seinen Augen Tränen. Sie begriff, dass es ihm viel Überwindung gekostet haben musste, ihnen diese Geschichte zu erzählen. Dennoch hatte sie noch einige Fragen. „Was wurde aus Gelmir?“ Der Mann sah sie an und ein Lächeln war auf seinen Lippen zu erkennen. „Für Gelmir ging natürlich das Leben weiter. Er wurde erwachsen, heiratete und hatte viele Kinder.“ Auch Elseldo brannte eine Frage auf den Lippen. „Lebt Gelmir eigentlich noch?“ Der Mann senkte den Kopf. „Ja, er ist noch am Leben. Er wohnt sogar noch hier. In dem Dorf, in dem er geboren wurde und Leid erfahren hat.“ Ajima überlegte kurz. „Und wie hat Túrin den Tod seiner Schwester verkraftete?“ Der Mann räusperte sich und fuhr fort. „Na ja. Wie ich schon erzählt habe, stand er am Grab. Ich denke, er liebte seine Schwester, nur was hätten seine Freunde von ihm gedacht, wenn er seine Schwester gemocht hätte?! Sie hätten wahrscheinlich nicht mehr mit ihm geredet.“ Ajima sah den Mann verwundert an. Er jetzt wurde ihr klar, wer dieser Mann neben ihr war. „Sie sind Gelmir. Stimmt´s?“ Der Mann nickte leicht. „Ja, der bin ich. Das hier ist die Bank, auf der Lalaith und ich fast jeden Tag gesessen und uns unterhalten haben. Dor-lómin hat sich sehr verändert. Ich sah, wie der Kindergarten zugemacht wurde, er schlussendlich abgerissen wurde und dieser Park errichtet wurde. Nur unsere Bank blieb stehen.“ Ajima versuchte ihn zu trösten. „Sie haben viel in Ihrem Leben mitgemacht.“ „Mag sein, doch immerhin bin ich noch am Leben. Ich habe den ‚Verfluchten Wind’ überlebt, viele Kriege und sogar viele Veränderungen. Jetzt, wo meine Frau gestorben und meine Kinder erwachsen sind, kann auch ich von dieser Welt gehen. Es war schön, dass ich mit euch reden konnte.“ Ajima legte ihre Hand auf die seine. Seine Hände waren eiskalt und rau. „Es war auch schön, Ihre Geschichte gehört zu haben. Wir müssen jetzt leider gehen.“ Ajima und Elseldo verabschiedeten sich noch einmal und rannten dann nach Hause.
Am nächsten Tag spielten Ajima und Elseldo in dem Park, wo die Bank stand, doch heute saß Gelmir nicht wie die Tage zuvor auf der Bank. Ajima blieb stehen. Elseldo, der voran gerannt war, drehte auf dem Absatz um und lief zurück zu Ajima. „Was ist denn, Ajima?“ „Gelmir sitzt heute nicht da. Vielleicht…“ „Ach was. Vielleicht hatte er heute keine Lust. Lass uns weiterspielen.“ Ajima und Elseldo spielten weiter.
Am nächsten Morgen, als sie für ihre Mutter etwas besorgte, hörte Ajima zufällig, wie Frau Alana mit Herrn Ohtar redete. „Guten Tag, Herr Ohtar. Haben Sie das von dem alten Herrn Gelmir gehört? Sein Sohn hat ihn gestern Mittag tot in seiner Wohnung aufgefunden. Schrecklich. Der arme Herr Gelmir.“ „Ja. Aber trotzdem: Endlich hat er seinen verdienten Frieden gefunden und ist mit seiner Frau wieder vereint.“ Ajima ging weiter und dachte an Gelmir. Ja, es stimmte. Endlich ist er wieder mit seiner Frau zusammen… und auch mit seiner besten Freundin Lalaith.
Ende
Texte: Namen und Schauplätze sind teilweise aus dem Elbischen und aus den Werken von Tolkin.
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2015
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