Die Personen
Hanna
ist neun Jahre und hat eine Lieblingstante: Schadraste. Nur weiß sie nicht, was diese arbeitet. Immer wieder ist sie auf Geschäftsreisen, sagt, sie arbeite für die Regierung, verrät aber nicht was. Und warum begleitet sie immer ihre schwarzer Kater Castro?
Schadraste
ist Hannas Patentante. Sie liebt Hannas sehr, will aber nicht verraten, was sie tut.
Castro
ist ein schwarzer Kater mit blauen Augen. Aber warum muss er immer auf Dienstreise gehen?
Die drei Rhabarber
sind die Leiter der Zeitverwaltung. Die Zeitverwaltung sorgt dafür, dass niemand in der Zeit herumreist und die Geschichte durcheinanderbringt. Die Behörde ist super-geheim, wer es verrät, muss 22 Tage lang Rhabarber essen.
Harry
ist Bankräuber. Kein sehr erfolgreicher, weswegen er auf Zeit-Erpresser umsattelt. Doch gleich mit Napoleon anzufangen, war keine gute Idee.
Napoleon
ist Kaiser der Franzosen und hat eine gelbe Unterhose. Das hat ungeahnte Folgen, vor allem, nachdem er in der Steinzeit landet und dort eine zweite Karriere startet.
Noch-nicht-Häuptling
ist ein junger aufstrebenden Mann in Napoleons Steinzeitkaiserreich. Noch ist er nicht Häuptling, aber ganz sicher bald. Dann will er Hanna heiraten. Hanna ist nicht begeistert, aber er hat Castro.
Zeitbesen
sehen aus wie normale Besen, wie Hexen sie benutzen. Nur dass die Borsten Tachyonenborsten sind. Und es gibt einen Zeitsteuerknüppel, eine altmodische Hupe, ein Zeitschleppseil und einen Platz für einen Zeitkater. Der ist im Zeittunnel sehr wichtig.
Wackelpudding-Aliens
sehen aus wie Tintenfische und fressen für ihr Leben gern Wackelpudding. Dass sie aber unbedingt in einer Talkshow auftreten mussten, war ein Fehler.
Eine Tante auf Dienstreise
Immer schon hatte Hannas Tante etwas geheimnisvolles. Sie war Hannas Patentante und zu jedem Geburtstag besuchte sie Hanna. Das allein war schon etwas besonderes, einige Mitschülerinnen hatten Patentanten, die zum Geburtstag nur anriefen und andere nicht mal das.
Obendrein hieß sie Schadraste. Niemand sonst hieß so.
Tante Schadraste sagte nie, was sie arbeitete. Hannas Mama war Lehrerin, Hannas Papa arbeitete bei der Zeitung. Alle Erwachsenen arbeiteten.
Früher, als Hanna noch sehr klein war - da war sie nicht mal fünf und noch im Kindergarten - damals jedenfalls hatte sie geglaubt, Schadraste sei eine Hexe. Eine gute natürlich, nicht wie in Hänsel und Gretel. Schadraste fraß schließlich keine kleinen Kinder, da war sich Hanna ganz, ganz sicher. Und sie hatte auch kein Knusperhäuschen.
Aber sie hatte einen schwarzen Kater mit blauen Augen. Und hatten Hexen nicht schwarze Kater?
Schadraste lebte mit Onkel Hans zusammen. Trotzdem er ein ganz gewöhnlicher Onkel war, ein Feld-Wald-Wiesen-Onkel sozusagen, war Hanna fest davon überzeugt, dass Schadraste und Onkel Hans sich sehr, sehr gern hatten.
Aber Onkel Hans hatte eine Arbeit und Hanna wusste, was er tat. Onkel Hans arbeitete im Bauamt der Stadt und passte auf, dass die Häuser nicht einstürzten.
Doch was tat Tante Schadraste? Sie war oft fort, manchmal wochenlang. „Ich war auf Dienstreise“, erklärte sie dann. Dienstreise ist eine Reise, die man wegen der Arbeit macht. Weil man in einer anderen Stadt oder einem anderen Land arbeiten muss, das wusste Hanna. Aber was arbeitete Schadraste denn in anderen Städten oder Ländern?
„Ich arbeite für die Regierung“, sagte sie und machte ein wichtiges Gesicht, als ob das eine Erklärung gewesen wäre. Es war natürlich keine, aber wenn Hanna weiter fragte, dann sagte die Tante nur: „Das kann ich dir nicht sagen.“Deshalb dachte Hanna manchmal, sie sei eine Geheimagentin und verfolge ganz, ganz böse Leute, die die Welt in die Luft sprengen wollten oder so.
Aber Agenten sind groß und stark. Schadraste war aber klein und rund und Karate konnte sie auch nicht. Wenn sie in einem ganz, ganz schnellen Auto die Bösewichte verfolgt hätte, wie das im Fernsehen immer geschah, wären die sicher entkommen. Die Tante war nämlich eine furchtbar schlechte Autofahrerin. Sie zog am Lenkrad, wenn sie losfahren wollte, trat aufs Gas, um zu bremsen und sagte schließlich entnervt: „Ich bin es einfach anders gewohnt. Hans, fährst du?“
Doch wer ist gewohnt, am Lenkrad zu ziehen, um anzufahren, fragte sich Hanna? Jedenfalls war die Tante doch keine Geheimagentin und machte keine Dienstreisen, um die Welt zu retten.
Und Auto fuhr ja auch meistens Onkel Hans.
Wenn Schadraste auf Dienstreise war, war auch ihr Kater fort. Castro hieß er und Hanna hatte noch nie einen Kater mit solch blauen Augen gesehen. Weshalb es gut möglich war, dass Schadraste wirklich eine Hexe war. Denn zu einer Hexe, vor allem einer auf Dienstreise, gehört ein schwarzer Kater, das ist mal sicher.
Später wusste Hanna natürlich, dass es gar keine Hexen gibt. Und Hanna war jetzt groß und wusste, dass das nur Märchen waren,
Dienstreisen allerdings gab es schon. Auch andere Erwachsene machten Dienstreisen. Marthas Vater zum Beispiel. Der verkaufte ganz, ganz komplizierte Maschinen an Krankenhäuser, die konnte man ans Herz anschließen, wenn jemand herzkrank war und dann wurden die Kranken wieder gesund. Und konnten wieder aufstehen und herumlaufen. Martha behauptete sogar, dass die Maschinen ihres Vaters auch Tote wieder lebendig machen konnten, aber das glaubte Hanna dann doch nicht, denn Martha erzählte viel.
Das mit den Maschinen fürs Herz klang auch nach Hexerei, aber das war keine, sondern Technik.
Doch wenn Schadraste keine Geheimagentin war und keine Hexe, was war sie dann? Einmal hatte Hanna sogar Castro mit ganz viel Kartoffelchips gefüttert - denn das war seine Lieblingsspeise - und hatte ihm versprochen, er würde noch viel, viel mehr bekommen, wenn er ihr nur verriete, was die Tante wirklich arbeitete. Und sie knisterte verführerisch mit der Tüte.
Aber Castro leckte sich die Lippen und kotzte in der Nacht Schadrastes Wohnung voll, sagte aber nichts.
Ein Bruder auf Pump
Hanna hatte keine Geschwister. Natürlich hatte sie Papa und Mama und sie liebte beide sehr, aber es gibt einfach Sachen, die kann man nur mit Geschwistern machen. Über Papa und Mama reden zum Beispiel. Aber auch vieles andere.
Manchmal stellte Hanna sich vor, sie hätte eine jüngere Schwester, die würde Laila heißen. Und Laila wäre ganz begeistert von Hanna, sie würde sie bewundern und für Laila wäre Hanna die wichtigste Person im ganzen Weltall. Vor allem, wenn Hanna allein war, träumte sie von Laila, die mit ihr spielte, wann immer Hanna eine Spielkameradin brauchte. Laila widersprach Hanna nie, sie nahm ihr nie die Spielsachen weg und stiebitzte auch nicht Hannas Schokolade. Sie war die ideale Schwester.
Natürlich gab es so eine Schwester gar nicht, das wusste auch Hanna. Denn ihre beste Freundin Annemarie hatte gleich zwei Geschwister, einen jüngeren Bruder, Robert und eine ältere Schwester, Birgit. Und Robert bewunderte Annemarie nur manchmal und Birgit wollte oft gar nicht mit ihr spielen. Auf ihre Schokolade musste Annemarie auch immer aufpassen und da Robert noch klein war, machte er oft Annemaries Spielzeug kaputt.
„Geschwister sind so toll auch wieder nicht“, sagte Annemarie deshalb immer, „sei froh, dass du keine hast.“
Aber Hanna war gar nicht froh darüber. So ist das eben, was einer nicht hat, das will er unbedingt haben, auch wenn er weiß, dass es nicht so toll ist.
Annemarie hatte ihr sogar einmal angeboten, Hanna könne ihren Bruder ausleihen. „So für zwei Monate oder so.“ Natürlich war Robert keine Laila und er widersprach seiner Schwester ständig. Trotzdem wäre es wenigstens etwas gewesen und Hanna war sofort Feuer und Flamme.
Sie gingen in Roberts Zimmer und Annemarie begann seine Sachen zu packen. Hanna erklärte ihm, dass er jetzt zu ihr ziehen würde und ab sofort ihr kleiner Bruder wäre. Er starrte sie erst mit großen Augen an, dann sah er zu seiner Schwester und dann begann er, ganz fürchterlich zu brüllen.
„Nur für drei Monate oder so“, beschwichtigte Annemarie und packte seine Holzeisenbahn zusammen. Doch Robert beruhigte das keineswegs, er brüllte noch lauter, trat nach Annemarie und riss ihr die Eisenbahnschienen aus der Hand. Dann warf er den halb gepackten Koffer um, so dass alle Sachen auf den Boden flogen. In dem Moment kam auch schon Annemaries Mutter ins Zimmer, Robert lief heulend auf sie zu und klammerte sich an ihre Beine.
Die Mutter war nicht begeistert, als sie erfuhr, dass Annemarie gerade ihren kleinen Bruder weggeben wollte, und schimpfte furchtbar. Und als Hanna nach Hause kam, sagte Mama, dass man Kinder nicht einfach wie Spielzeug austauschen oder weggeben könne. „Dich würde ich ja auch nicht weggeben“, meinte sie.
„Ich wäre aber ganz lieb zu ihm gewesen“, versicherte Hanna. Doch auch das konnte Mama nicht überzeugen.
Also wurde es nichts mit dem Bruder auf Pump. „Ist wahrscheinlich auch besser so“, meinte Annemarie dann und dass sie ihren Bruder ja doch ganz gern habe, auch wenn er oft eine Landplage sei.
Und Robert wäre ja auch nicht Laila gewesen. Obwohl sich Hanna gar nicht sicher war, ob eine Schwester, die nie widersprach und einen nur bewundert, auf Dauer nicht langweilig wäre.
Einmal fragte sie Tante Schadraste, warum sie keine Kinder hatte. Dann hätte Hanna immerhin Vettern oder Kusinen gehabt. Aber Tante Schadraste antwortete: „Ich kann keine Kinder bekommen“, und schaute dabei so traurig, dass Hanna sie nie mehr danach fragte.
Hanna hatte also immer noch keine Geschwister und auch keine Vettern oder Kusinen, aber dafür ihre Freundin Annemarie.
Und natürlich Tante Schadraste. Tante Schadraste aß Hanna nicht die Schokolade weg und machte auch nicht ihre Spielsachen kaputt. Vielleicht war Tante Schadraste sogar besser als Geschwister?
Napoleon ist schwierig
Dann passierte das mit Napoleon. Hanna hatte mit ihrer Mama die Tante besucht, sie saßen im Garten und tranken Schokolade. Und dann gingen Mama und die Tante ins Haus.
„Ich spiel noch was mit Castro“, rief Hanna den beiden nach und zog einen Ball an einer Leine übers Gras. Castro sprang danach, packte ihn, warf ihn hoch, überkugelte sich und ließ ihn wieder los. Und Hanna zog ihn zu sich her, griff ihn, hielt ihn hoch und Castro sprang nach ihm, aber konnte ihn nicht erreichen. Dann wollte Castro nicht mehr spielen und er lief ins Haus. Hanna folgte ihm in den Flur. Und hörte Mama.
„Wie war Napoleon?“, fragte diese.
„Schwierig. Wir haben ihn immer noch nicht.“
Hanna spitzte die Ohren. Jetzt würde sie erfahren, was Schadraste wirklich auf Dienstreisen tat.
Sie beugte sich vor, um besser zu hören. Und stieß dabei an den Schirmständer. Der fiel um. Und machte Krach, genau dann, als Hanna keinen Krach gebrauchen konnte. So ist das manchmal. Es passieren genau die Sachen, die grade nicht passieren dürfen. Nicht jetzt. Nicht in diesem Moment. Sonst ja, das ganze Jahr hätte der blöde Schirmständer umfallen dürfen, so oft er wollte und noch öfters. Hanna hätte es nicht gestört. Doch grade jetzt, im einzigen Moment des Jahres, in dem er bitte, bitte stehen bleiben und ganz ruhig sein sollte, in diesem Moment musste er umfallen. Mit großem Getöse. Als habe er das ganze Jahr auf diesen Moment gewartet. Um Hanna zu ärgern. Das war Hexerei, obwohl es natürlich keine Hexerei gab.
Mama und Schadraste kamen gleich in den Flur gestürzt und Mama fragte: „Was machst du da?“ und Schadraste: „Hast du gelauscht?“
Hanna schüttelte den Kopf. Sie war furchtbar erschrocken. Am liebsten hätte sie den Schirmständer getreten. Auch wenn das jetzt nichts mehr nützen würde.
„Castro wollte rein“, verteidigte sie sich, „Weil es jetzt kalt ist.“ Sie wollte schnell wieder in den Garten. Aber Mama packte sie am Arm und befahl: „Hiergeblieben, kleines Fräulein. Was hast du gehört?“
„Nur Napoleon.“ Wer zum Teufel war eigentlich Napoleon?
„Und was über Napoleon?“
„Er ist weg.“
„Soso. Wir haben also doch gelauscht.“
„Nein. Stimmt gar nicht. Ich wollte Castro folgen und die Tür stand offen und ihr habt eben so laut geredet.“ Und dann fing Hanna an zu weinen, weil sie so aufgeregt war und alles schiefgelaufen war wegen dem blöden Schirmständer und weil Mama so bös war und überhaupt. Das war ein Schieflauftag, ganz sicher. Und an solchen Schieflauftagen war es besser zu weinen, wenn die Erwachsenen Theater machten und ihr nicht glaubten und dabei waren sie doch selbst Schuld, weil sie so laut redeten und vergessen hatten, die Tür zu schließen. Und endlich nahm Mama sie in den Arm und es war alles nicht mehr so schlimm. Aber dann sah Mama Schadraste an und die beiden sahen besorgt aus, als ob sie Angst hatten.
Und Hanna wollte sie trösten und versprach ganz fest, dass sie nie, nie etwas über Napoleon verraten würde. Obwohl sie nicht mal wusste, wer dieser Napoleon war. Und warum war er schwierig?
Ein Besen mit Hupe
Eines Tages, als Schadraste grade wieder von einer Dienstreise zurückkam, besuchte Hanna sie. Und sah die Tante mit einem Besen vor dem Haus stehen. Außerdem war das Hosenbein ihrer Jeans zerrissen. Der Besen war kein gewöhnlicher Besen, wie man ihn im Geschäft kaufen kann. Sondern einer, der aussah wie die Hexenbesen in Märchenbüchern. Mit ganz, ganz langen Borsten, so lang wie Hanna groß war und sie waren mit einer Schnur an den Stiel gebunden. Der Stiel war noch viel länger, er sah aus, wie ein normaler Besenstiel aus Holz. Nur viel, viel dicker. Und war so groß wie die Tante. Noch seltsamer war das, was außerdem an der Hauswand lehnte. Das war nämlich ein Gestell, wie eine kleine Leiter. Mit einem Sitz und davor war so ein Griff, wie die Spielekonsole an Mamas Computer.
Und das Seltsamste war: Das Gestell hatte eine Hupe! Eine rote, alte Autohupe, so wie sie Gustav mit der Hupe hatte. Der aus Emil und die Detektive. Mit einem Gummiball und wenn man darauf drückt, dann hupt es.
„Was ist das?“, fragte Hanna.
„Ein Besen!“, sagte die Tante, die ganz außer Atem war.
„Aber das ist kein Besen!“, erklärte Hanna. „Jedenfalls keiner zum Saubermachen. Höchsten ein Hexenbesen.“
„Pscht“, sagte Schadraste, „Ja, das ist ein besonderer Besen. Vergiss bitte, dass du es gesehen hast.“
„Warum?“
„Weil das niemand wissen darf. Weil ich sonst große Schwierigkeiten kriege.“
„Wie der Jim Hawkins in der Schatzinsel?“
„Wie Jim Hawkins. Geh schon mal ins Wohnzimmer und hol das Buch aus dem Regal. Ich räum das hier schnell weg und dann les ich dir vor.“
Hanna ging ins Wohnzimmer und holte die Schatzinsel aus dem Bücherregal. Aber natürlich schaute sie auch, was Tante Schadraste machte. So aus den Augenwinkeln. Wenn man nicht hinsieht, tut, als sähe man es nicht, aber ein bisschen, am Rand der Augen, sieht man doch alles. Oder das meiste. Nur die anderen sehen nicht, dass man alles sieht. Hannah war sehr gut im Augenwinkel-Sehen. Augenwinkel-Sehen war nützlich, vor allem, wenn man etwas nicht sehen sollte. Manchmal sieht man so Dinge, von denen die Erwachsenen nicht wollen, dass man sie sieht. Wenn es eine Meisterschaft im Augenwinkel-Sehen geben würde, dann würde Hanna sie gewinnen.
Und jetzt sah sie, dass Schadraste den Besen und das Gestell in die Besenkammer trug. So war das also. Die Tante hatte in ihrer Besenkammer einen Hexenbesen. Sie war doch eine Hexe, die auf Dienstreise flog.
„Du darfst wirklich nichts davon erzählen“, ermahnte sie Tante Schadraste, als sie ins Wohnzimmer kam. „Versprichst du mir das?“
Die Tante sah plötzlich ganz, ganz erschöpft aus und nicht mehr lustig wie sonst immer. Sie seufzte. Schadraste seufzte sonst nie. Hannah umarmte sie ganz feste und versprach, dass sie nie, nie jemanden von dem Besen erzählen würde. Sie gab ihrer Tante ihr großes Hanna-Ehrenwort. Sie fragte die Tante auch nicht weiter. Und nicht mal ihrer besten Freundin Annemarie würde sie davon erzählen. Schließlich wollte sie nicht, dass ihre Tante große Schwierigkeiten bekam.
Bloß, warum fliegt eine Hexe auf Dienstreise? Und was macht sie da? Wozu braucht ein Hexenbesen eine Hupe? Und wieso hatte Tante Schadraste ihre Jeans zerrissen?
Ein Geheimnis zu viel
Tante Schadraste las aus der Schatzinsel vor. Aber Hanna verstand an diesem Abend fast gar nichts davon. Obwohl die Piraten um das Blockhaus kämpften und die Schüsse einem um die Ohren pfiffen. Aber sie musste immer an den Besen und das Gestell denken. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte die Besenkammer untersucht. Nur ging das natürlich nicht, sie musste ja hier sitzen und zuhören.
Als sie die Schatzinsel wieder ins Regal stellte, sah Hanna ein Buch, das hieß "Napoleon".
Napoleon war also nicht irgendwer, Napoleon war so berühmt, wie Harry Potter, so berühmt, dass es ein Buch über ihn gab. Und Tante Schadraste fand ihn schwierig, so viel wusste sie bereits.
Aber wenn dieser Napoleon so berühmt war, dann hatten sie vielleicht zu Hause auch ein Buch über ihn. Oder sie konnte in Papas Computer nachsehen. Wenn Napoleon so berühmt war, wie die Bundeskanzlerin, dann stand er im Internet. Und über die Bundeskanzlerin hatte Papa ein Buch. Mama hatte sogar ein Buch über alle Bundeskanzler, die es je gegeben hatte.
Sobald Mama einkaufen ging, untersuchte Hanna das Bücherregal. Aber da war kein Napoleon. Ganz so berühmt war er wohl doch nicht.
Da sah sie es: Ganz oben im Regal gab es ein Lexikon und da stand alles drin, was man wissen musste oder fragen konnte und noch viel mehr. Wenn Hanna Mama oder Papa etwas fragte, was die nicht wussten, dann holten sie das Lexikon und da fanden sie die Antwort auf alle Fragen, die man haben konnte.
Mama musste sich immer auf Zehenspitzen stellen, um das Lexikon zu erreichen. Selbst Papa musst sich strecken.
Sie versuchte, einen Sessel unter das Regal zu schieben. Aber der war viel zu schwer und wollte und wollte nicht rutschen. Nur der Teppich wellte sich und Hanna musste lange an dem Sessel ziehen und schieben, bis die verräterische Teppichfalte wieder verschwunden war. Na ja, ganz verschwand sie nicht, aber weitgehend.
Dann fielen ihr die Stühle im Esszimmer ein. Die waren nicht so schwer wie die Sessel. Und obendrein waren sie größer.
Also schleppte Hanna einen Stuhl ins Wohnzimmer. Und stellte ihn vors Regal und streckte und reckte sich und stellte sich auf Zehenspitzen.
Aber ihre Fingerspitzen reichten grade bis zum Regalbrett, nicht weiter. Zum Lexikon fehlte nur ein halber Finger. Aber auch ein halber Finger ist eine Ewigkeit lang, wenn er fehlt.
Und was kann man da tun?
Natürlich! Ein Kissen! Dann saß man höher und Hanna würde auch höher stehen. Sie holte also ein Kissen.
Doch Sitzen und stehen ist nicht das Gleiche. Jedenfalls war das Lexikon zwar ein bisschen näher, aber nur ein bisschen. Jetzt fehlte nicht mehr ein halber Finger, jetzt fehlte nur noch eine Fingerspitze.
Aber sie fehlte. Und auch zwei Kissen änderten daran nichts.
Hanna setzte sich auf den Stuhl und stützte das Gesicht in die Hände. Und dann fiel es ihr ein! Ein Stuhl, damit kam man nicht zu Napoleon. Sie brauchte mehr. Zwei Stühle!
Sie holte einen zweiten Stuhl.
Ein furchtbarer Schief-geh-Tag
Hanna stellte den zweiten Stuhl auf den ersten. Er wackelte etwas. Mama würde es nicht gerne sehen. Aber Mama war fort. Und Hanna jetzt groß genug, auch auf zwei Stühle zu steigen. Selbst wenn sie wackelten.
Also stieg sie auf den ersten Stuhl. Und schmiss dabei den Zweiten um, der mit lautem Getöse auf den Parkettfußboden stürzte.
Sie bückte sich und angelte den Stuhl an der Lehne, um ihn wieder auf den ersten zu stellen.
Puh war der schwer! So schwer wie ihre Schultasche am Donnerstag. Und wie sollte sie ihn bloß auf den ersten stellen, denn jetzt stand sie ja selbst auf dem Stuhl. Warum musste das alles bloß so kompliziert sein?
Das war alles, alles nur die Schuld dieses blöden Napoleons.
"Blöder Affe, blöder, Du!", und Hanna stampfte in größer Wut mit dem Fuß auf, sodass der Stuhl, auf dem sie stand, gefährlich wackelte und der, den sie gerade hochhieven wollte, mit einem ohrenbetäubenden Krachen wieder auf den Fußboden fiel.
Genau in diesem Moment hörte Hanna die Haustür aufgehen. Mama kam zurück.
Und da kippte dieser dämliche erste Stuhl auch noch um und Hanna stürzte auf ihren Arm. Ein spitzer Schmerz, ließ sie aufschreien. Plötzlich machte es obendrein „Pfff“ und ein Mädchen auf einem Besen sauste durchs Zimmer und hinter ihr einer Frau. Die hielt den Daumen hoch. Doch ehe sie sie erkennen konnte, was jetzt los war, machte es auch schon wieder „Pfff“ und sie waren verschwunden.
Genau in dem Moment kam Mama zur Tür herein. Hannas Arm tuckerte und stach, sie musste weinen. An solch einem Schief-geh-Tagen braucht man jemanden, der einen einfach in den Arm nimmt und drückt, so fest, dass der ganze Schief-Geh-Tag sich gar nicht an einen heranwagt. Dass der sich nicht mehr traute, Hanna mit seinen langen Fingern anzufassen und alles schief gehen zu lassen.
Aber Mama würde schimpfen, statt sie in den Arm zu nehmen und ganz fest zu drücken.
Und da passierte das Unfassbare. Mama nahm sie ganz fest in die Arme und drückte sie. Drückte alles Schiefgehen aus Hanna heraus, strich ihr übers Haar und flüsterte: "Was ist denn passiert, mein Mäuschen?"
Mäuschen hatte sie Mama schon lange nicht mehr genannt. „Ich hab mir meinen Arm verletzt und es tut so weh. Nicht anfassen!“
„Ach mein armes Kleines, ich hol mal was zum Kühlen und mach einen Verband.“
Auch wenn man groß ist, ist es manchmal ganz gut, wenn man in den Arm genommen wird. Und wieder ganz klein werden darf.
Und als Hannas Papa kam, weinte sie gleich noch viel lauter. Obwohl es ihr jetzt besser ging. Aber Papa nahm sie auch in den Arm und Hanna erzählte alles über Napoleon und das Lexikon und die blöden Stühle, die nicht stehen blieben, sondern umfielen. Und dass sie gar nicht gelauscht hatte, sondern Mama und Schadraste einfach so laut geredet hatten .
„Gut, dass der Stuhl umgefallen ist.“, sagte Mama. „Stell dir vor, du wärest auf den zweiten Stuhl geklettert und dann wären die Stühle umgefallen.“
Aber so etwas Schreckliches wollte sich Hanna lieber gar nicht erst vorstellen.
„Napoleon ist längst tot“, sagte Papa, „Er ist es nicht wert, dass du dir seinetwegen die Knochen brichst.“
„Aber warum war er dann fort und warum war er schwierig? Und da war noch dieser Besen, der durchs Zimmer flog.“ Sie erzählte alles, was sie gesehen hatte. Sicher würde Mama und Papa jetzt lachen und sagen, dass sie sich das bloß eingebildet hatte.
Und das taten sie auch. „Das war der Schock“, sagte Papa.
„Niemand fliegt auf einem Besen durch Wohnzimmer“, erklärte Mama. „Aber wenn man fällt und sich erschreckt und wehtut, dann kriegt man einen Schock und sieht Dinge, die es gar nicht gibt.“
Doch dann sahen Mama und Papa sich an. Und Mama nickte und Papa nahm das Telefon.
Eine Zeitverwaltung mit Rhabarber
„Deine Tante will dir alles erklären. Auch über Napoleon“, sagte Papa. „Ihr sollt gleich zu ihr rübergehen“
Als sie an der Tür von Schadraste klingelten, kam Schadraste heraus und nahm Hanna in den Arm.
Jetzt war es wirklich gar kein so schlimmer Schief-Geh-Tag mehr. Eigentlich war es sogar ein Gut-Geh-Tag geworden, weil Schadraste Hanna endlich erzählte, was sie arbeitete und auch dieses blöde Stillschweigen jetzt vorbei war.
Manchmal ist es doch nicht so schlecht, wenn alles schief geht. Manchmal stellt hinterher fest, dass es doch seinen Sinn hatte und nicht einfach nur furchtbar war.
Schadraste arbeitete als Zeitagentin! Zeitagenten arbeiten für die Zeitverwaltung und passen auf, dass niemand einfach in der Zeit herumreist und die Zeit durcheinanderbringt. Damit nicht plötzlich gestern gar nicht mehr gestern, sondern bereits morgen ist. Aber niemand darf wissen, dass es Zeitagenten gibt. Weil niemand wissen darf, dass man durch die Zeit reisen kann. Sonst würden alle Menschen ständig nach gestern reisen oder nach morgen und heute wäre dann vielleicht gar keiner mehr da.
Deshalb dürfen Zeitagenten nicht mal ihrer Nichte erzählen, was sie arbeiten.
„Wenn sie es erzählen und es wird bekannt, muss ich zweiundzwanzig Tage lang Rhabarber essen!“, sagte Tante Schadraste.
„Ich ess’ gerne den Rhabarber für dich“, bot sich Hanna an, die für Rhabarber schwärmte.
„Das geht leider nicht“, sagte Tante Schadraste, die Rhabarber hasste. „Wenn du was erzählst und es wird bekannt, dann kommt der Zeitmeister und passt auf, dass du den Rhabarber auch wirklich isst. Zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen nichts anderes als Rhabarber.“
„Die spinnen, die Zeitmeister“, sagte Hanna, die wusste, wie sehr Schadraste Rhabarber verabscheute. So wie Hanna Königsberger Klopse, weil da diese grünen Kerne drin sind. Kapern, ihhh. Hanna wurde ganz schlecht, wenn sie daran auch nur dachte. Und wenn sie gar zweiundzwanzig Tage nichts anderes essen dürfte? Sie beschloss, niemanden, niemanden davon zu erzählen. Nicht mal ihrer Freundin Annemarie.
„Aber warum arbeitest du dann für diese Rhabarbermeister?“, fragte sie Tante Schadraste.
„Weil ich gerne Zeitagentin bin. Weil das ein ganz, ganz wichtiger Job ist.“
Das verstand Hanna nicht. „Wieso ist das wichtig? In Büchern reisten sie doch dauernd durch die Zeit.“
„Stell dir mal vor, jemand reist zurück in die Vergangenheit und entführt deinen Ur-Ur-Opa. Dann könnte der deine Ur-Ur-Oma nicht heiraten. Und sie würden natürlich auch keine Kinder haben. Dann gäbe deine Ur-Oma nicht und deshalb auch nicht deine Oma. Und deine Mama wäre nie geboren worden. Du wärst nie geboren worden. Und ich hätte keine Lieblingsnichte.“
Das leuchtete Hanna ein. Zeitagenten sind dafür da, dass niemand in der Vergangenheit herumreist und Unfug anstellt.
„Darum darf eben auch keiner davon wissen.“, sagte Mama.
„Aber die Zeitagenten müssen es doch wissen.“
„Die Zeitagenten müssen es wissen, ja. Aber sie dürfen es niemand erzählen.“
„Das fällt doch auf“, dachte Hanna laut nach. „Das merken doch selbst die Kinder.“ Schließlich hatte Hanna es ja auch gemerkt.
„Ja, das merken sogar die Kinder. Aber die Zeitverwaltung hat es so festgelegt. Manchmal legen Verwaltungen einfach etwas fest, auch wenn es ganz, ganz unsinnig ist.“
Das fand Hanna auch.
Tachyonenborsten und ein Zeitkater
Als sie ins Haus gingen, stürzte Hanna sofort in die Besenkammer und schaute, wo der Zeitbesen ist.
Aber da stand keiner. Nur der Staubsauger und die anderen Geräte, die Hanna längst kannte.
Sie drehte sich enttäuscht zu ihrer Tante um. Die grinste und Kater Castro grinste auch. Zumindest sah es so aus, als ob er grinsen würde.
„Der Zeitbesen steht nicht einfach in der Besenkammer“, erklärte Schadraste. „Sonst könnte er ja ganz leicht geklaut werden.“ Castro maunzte beifällig. Die Tante nieste.
„Aber du hast ihn hier abgestellt. Ich hab’s genau gesehen“, sagte Hanna.
Die Tante lachte. „Ich hab ihn hier abgestellt. Aber so, dass ihn keiner findet. Nicht mal neugierige Lieblingsnichten.“
Und dann sagte sie „Sesam, öffne dich!“
Da war plötzlich eine Tür in der Wand, wo vorher keine Tür war. Die Tante sagte noch mal: „Sesam öffne dich!“ Jetzt fing die Tür an zu glimmern und zu flimmern, zu leuchten und zu strahlen. Und sie surrte leise.
Wieder sagt Schadraste: „Sesam, öffne dich!“ und jetzt sprach die flimmernde, glimmernde Tür sogar.
„Zeitkater Identifizierung bitte!“, sagte die Tür.
Castro maunzte, auf diese besondere Art, wie nur Castro maunzen konnte. Und die Tür sagte: „Zeitkater-Identifizierung erfolgreich!“ und ging zischend auf. Dahinter war eine kleine Kammer und da hing der Zeitbesen und das Gestell mit Hupe.
„Siehst du die Borsten?“, fragte sie Schadraste. „Das sind Tachyonenborsten und die bündeln die Tachyonen. Das sind kleine, ganz kleine Teile, die rückwärts in die Zeit fliegen können. Und mit den Borsten kann der Zeitbesen eben auch rückwärts fliegen. So eine Art Zeittriebwerk, wie ein Raketentriebwerk. Nur dass ich damit nicht vorwärts, sondern rückwärts fliege.“
„Und die Hupe?“ fragte Hanna.
„Die ist für die Zeittunnel. Damit ich nicht mit einem anderen Zeitbesen zusammenstoße. Denn im Zeittunnel funktionieren nur diese alten Autohupen. Elektronische oder elektrische Hupen kann man da nicht hören. Weil deren Geräusche immer vorwärts fliegen in der Zeit, nie zurück. Aber im Zeittunnel brauchst du eine Hupe, vor allem, wenn du durch Zeitnebel fliegst. Dann siehst du nichts mehr und keiner kann dich sehen.“
Die Tante nieste erneut. Castro maunzte wieder und verzog das Gesicht.
„Was ist?“ fragte ihn Hanna, aber er antwortete nicht.
„Castro ist ein Zeitkater. Und Zeitkater können auch im dicksten Zeitnebel sehen. Darum nehme ich immer Castro mit, wenn ich auf Dienstzeitreise fliege.“
„Und wer ist Napoleon?“, wollte Hanna wissen.
„Du stellst Fragen“, sagte Mama und schaute auf die Uhr. „Dabei ist es schon ganz spät und du musst ins Bett.“
Hanna fand es gar nicht spät. Sie stampfte mit dem Fuß auf und sagte: „Ich gehe erst ins Bett nach Napoleon!“ Und dann weinte sie, weil der Arm immer noch weh tat und die Erwachsenen immer noch nichts verraten wollten. Dabei war Napoleon wichtig! Ungeheuer wichtig, denn schließlich war er schwierig und Schadraste hatte ihn immer noch nicht gefunden.
Wer ist Napoleon?
Tante Schadraste schaute Mama an und dann seufzte Mama, nickte und sagte: „Na gut! Aber nur für heute!“
Die Tante nieste schon wieder. Dann schüttete Tante Schadraste ihr Kakao ein und schmierte ihr ein Honigtoast. Honigtoast, noch dazu an Schadrastes Esstisch, war Hannas Lieblingsspeise. Doch heute fragte sie, noch bevor sie vom Toast abbiss: „Und was ist jetzt mit Napoleon?“
„Napoleon ist längst tot“, sagte Schadraste. „Napoleon wurde vor 250 Jahren auf der Insel Korsika geboren, ging nach Frankreich und arbeitete sich bis zum Kaiser der Franzosen hoch. Er war ein kleiner Mann, aber machtgierig. Immer mehr Länder hatte er erobert, fast ganz Europa hörte auf ihn. Nur Russland nicht und England. Er war ein genialer Feldherr und hat alle anderen Armeen immer besiegt.
Dann wollte er auch Russland erobern. Manche Politiker können nie genug haben. So wie manche Kinder den Hals nicht voll kriegen können und immer das Spielzeug haben wollen, mit dem grade die anderen spielen.
Napoleon gehörte dazu. Er zog mit einer riesigen Armee nach Russland und eroberte Moskau. Alle Länder, die ihm untertan waren, mussten ihm Soldaten für seine große Armee stellen. Viele taten das freiwillig. Denn wer Napoleon unterstützte, wurde von ihm belohnt. Mit den Ländern, die Napoleon bekämpft hatten, zum Beispiel. Es lohnte sich, mit Napoleon verbündet zu sein.
Aber dann kam in Russland der Winter. Und die große Armee hatte nichts mehr zu essen und keine Winterkleidung. Denn in Russland wird es im Winter wirklich kalt. Viel kälter als in Deutschland oder Frankreich. Und Napoleons Soldaten starben wie die Fliegen.
Er selbst flüchtete in einem Pferdeschlitten und ließ seine Männer zurück.“
„Das war aber nicht grade sehr tapfer.“, meinte Hanna und hielt ihren Toast schief, so dass der Honig heruntertropfte. Schnell leckte sie ihn auf.
Die Tante fuhr fort: „Als er alle Schlachten gewann, eine riesige Armee befehligte, liefen ihm viele Menschen nach. So ist das, wenn jemand Macht hat, dann glauben viele, er habe auch recht. Aber das stimmt nicht.
Doch als er allein und ohne Soldaten aus Russland zurückkam, wollte niemand mehr etwas von ihm wissen. Jetzt wandten sich auch die gegen ihn, die ihn früher unterstützt hatten. Manche Leute sind wie Wetterfahnen, sie drehen sich immer nach dem Wind.
Napoleon sammelte trotzdem noch einmal eine große Armee. Doch das nützte ihm nichts, denn jetzt verlor er seine letzte Schlacht. Die Schlacht von Waterloo.“
„Und darum ist er verschwunden?“ fragte Hanna. „Hat er einen Zeitbesen geklaut und ist in eine andere Zeit geflohen?“
„Richtig, Napoleon war plötzlich verschwunden“, sagte Schadraste. ‚Aber nicht, weil er geflohen war.“ Dann schnäuzte sie sich die Nase. Und erzählte weiter.
Napoleon war am Morgen vor seiner letzten Schlacht einfach fort. Als die Zeitverwaltung das merkte, gab es Großalarm, alle Zeitagenten mussten sofort auf ihre Zeitbesen steigen und Napoleon suchen. Denn nicht auszudenken, wenn er verschwunden bliebe. Alle Geschichtsbücher müssten neu geschrieben werden, denn Napoleon konnte ja seine letzte Schlacht gar nicht verlieren, weil er gar nicht mehr da war.
Napoleons Kammerdiener erzählte, dass am Morgen, als er Napoleon beim Anziehen helfen wollte, ein fluchender Mann auf einem fliegenden Besen im Zimmer auftauchte und wild durch die Gegend kurvte. Der Mann hatte spitze Zähne wie ein Vampir, packte Napoleon, der nur eine gelbe Unterhose mit grünen Punkten trug, am Kragen und floh mit ihm auf dem Besen.
In der Zeitverwaltung kam ein Brief an:
ICH HAVE NAPOLEON!
ZALLT MIR EINE MILLLIARDDE,
SONSD SEHD IR IHN NI NICH WIDDER!
Der Brief hatte einen Fingerabdruck, der Harry, dem Bankräuber, gehörte. Harry hatte in der Schule immer nur Unsinn gemacht und nie Hausaufgaben. Deshalb ließ seine Rechtschreibung auch sehr zu wünschen übrig.
Alle nannten Harry nur „Harry mit dem Kamm“. Und das kam so:
Harry zückte bei seinem ersten Banküberfall statt seiner Pistole versehentlich seinen Kamm und bedrohte den Kassierer damit. „Geld her oder ich schieße!“
Der Kassierer war so verdattert, dass er Harry sofort die Geldscheine aus dem Tresor gab. Erst als der Tresor fast leer war, fiel ihm auf, dass Harry ihn mit einem Kamm bedrohte.
„Das gilt nicht!“, sagte der Kassierer und weigerte sich, Harry weitere Geldscheine zu geben.
„Was gilt nicht?“, fragte Harry. „Gib mir die restlichen Mäuse oder ich schieße!“
„Mit einem Kamm kann man nicht schießen“, belehrte ihn der Kassierer. „Und ein Bankräuber zieht beim Bankraub eine Pistole und keinen Kamm. So gehört sich das nämlich!“
Harry besah sich den Kamm und dachte nach. Das dauerte sehr lange, denn Harry war nicht nur schlecht im Rechtschreiben, er war auch nicht der Schnellste beim Nachdenken. Schließlich kam er aber doch zu einem Ergebnis und sagte: „Ich glaube, Sie haben recht“, steckte den Kamm ein und zog seine Pistole.
„Na also, warum nicht gleich so“, sagte der Kassierer und gab Harry auch das restliche Geld. Deshalb hieß Harry von da ab „Harry mit dem Kamm“ und überall hingen die Fahndungsplakate in der Stadt.
Gesucht wird Harry, genannt Harry mit dem Kamm.
10.000 Euro Belohnung!
Vorsicht, der Täter ist mit eine Kamm bewaffnet,
von dem er rücksichtslos Gebrauch macht.
Doch Harry blieb verschwunden. Bis er wieder eine Bank ausraubte. Mittlerweile hatte Harry hinzugelernt und zog gleich die Pistole statt seinem Kamm. Als er alles Geld erhalten hatte, zählte er es nach. Der Kassierer behauptete, er hätte Harry 89.134 Euro gegeben. Doch Harry zählte nur 89.133 Euros.
„Sie sind ein Betrüger!“, brüllte er den Kassierer an und zog ihn an der Krawatte über den Schalter.
„Mein Herr, mäßigen sie sich!“, sagte der Kassierer und rückte seine Krawatte zurecht. „Ich arbeite seit über vierzig Jahren in dieser Bank und habe mich noch nie verzählt. Und Betrüger lasse ich mich auch nicht schimpfen. Von ihnen schon gar nicht.“
„Sie sind aber ein Betrüger“, brüllte Harry und fuchtelte mit der Pistole. „Es sind nämlich 89.133 Euros und nicht 89.134.“
Schließlich begannen der Kassierer und Harry wieder das Geld zu zählen. Aber auch diesmal bekam Harry einen Euro weniger heraus als der Kassierer.
„Sehen sie, Sie sind ein Betrüger!“, brüllte er und wollte den Kassierer wieder an der Krawatte über den Schalter ziehen. Doch inzwischen war die Polizei gekommen und nahm Harry fest. Harry wollte nicht mitkommen. Zwei Polizisten mussten ihn an den Armen aus der Bank zerren, während Harry immer weiter den Kassierer anbrüllte: „Betrüger! Einem ehrlichen Bankräuber um einen Euro betrügen, das nenne ich einen feigen Betrug!“
Harry kam ins Gefängnis. Und dort schrieb er jeden Tag einen Brief an den Justizminister, in dem er sich beklagte, dass er keinen fairen Prozess bekommen habe. Denn er habe bei dem Bankraub nur 89.133 Euro erbeutet, nicht 89.134 Euro wie die Richter behauptet hätten. Die Richter hatten dem Kassierer mehr geglaubt als Harry. Schließlich hatte der Kassierer vierzig Jahre lang Geld gezählt und sich nie verrechnet, Harry aber schon auf der Schule eine Sechs in Rechnen gehabt.
Harry fand das äußerst ungerecht. Und drohte allen: „Ich werde mich rächen.“
Eines Tages brach er dann aus dem Gefängnis aus. Er hatte eine Feile bekommen, aber mit der Feile nicht die Gitter durchgesägt, sondern seine Zähne ganz spitz und scharf gefeilt. Wie Mausezähne sahen sie jetzt aus. Oder wie Vampirzähne. Damit nagte er Nacht für Nacht an den Gitterstäben seiner Zelle. Die anderen Häftlinge beschwerten sich, weil sie nachts nicht mehr schlafen konnten. Die Wärter durchsuchten Harrys Zelle und nahmen ihm die Feile weg. Doch sie schauten ihm nicht in den Mund und sahen deshalb seine spitz zugefeilten Zähne nicht. Und Harry nagte weiter an den Gitterstäben, bis er sie durchgenagt hatte und aus dem Gefängnis floh.
„Gott sei Dank“, sagten die anderen Häftlinge. Denn sie hatten schon ganz rote Augen gekriegt, weil sie nicht mehr schlafen konnten wegen des Lärms jede Nacht.
Und dieser Harry mit dem Kamm hatte offenbar Napoleon entführt und verlangte jetzt ein Lösegeld.
Ende der Leseprobe
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2008
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