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Gesang der Träume

 

Der Abgrund tat sich vor ihr auf. Tief, groß, gefährlich und dunkel. Nichts war dort unten zu sehen, kein Strauch, kein Stein und keine Farben. Alles schien schwarz und weiß und nichts leuchtete hervor. Die Welt lag unter einem Grauschleier begraben. Sie trat einen weiteren Schritt auf die unendliche Dunkelheit vor ihr zu und ein paar kleine Steinchen lösten sich unter ihren Füßen. Sie fielen scheinbar ewig, bis man ein leises Geräusch hörte, das einem den Aufprall auf dem Boden signalisierte. Die Augen geschlossen nahm sie die leisen Geräusche wahr, die die vielen Bäume im Wald hinter ihr von sich gaben, als sie sich im Windhauch mitbewegten und sie hörte, wie kleine Tiere durchs Unterholz striffen, auf der Suche nach Nahrung und einem Schlafplatz für die Nacht. Die wenigen Pflanzen seufzten in der Stille, sie sangen von Kälte und Trauer.
Es war kalt geworden, nachts zog ein eisiger Hauch durch die Landschaft und ohne warmen Pelz oder warme Kleidung war man der Natur hoffnungslos ausgeliefert. Auch hörte man, verborgen in der Dunkelheit, das Weinen und Wimmern tausender Stimmen, spürte die ungeweinten Tränen und fühlte die Taubheit jener, die keine Hoffnung mehr hatten. Jeder Regenguss schmeckte salzig und entzog dem Boden das so wichtige Wasser. Trist und düster sah das Leben hier aus. Kaum Tiere, keine Menschen, nur sie und die endlose Natur um sich herum. Doch selbst diese war auf dem Wege zu sterben. Dunkle Gedanken, Träume, Wünsche und der Verlust von Hoffnung hatten sich eingebrannt.

An diesem Ort war er aufgewacht, inmitten des düsteren Waldes und nur mit einem langen Hemd bekleidet, ähnlich denen, die man in einem Krankenhaus bekam. Der eisige Wind fuhr in regelmäßigen Abständen durch das Unterholz und auch durch seine dürftige Kleidung. Der Boden unter seinen nackten Füßen war trocken, hart und steifgefroren, Raureif und früher Schnee bedeckten jeden Zentimeter. Fröstelnd schlang er die Arme eng um seinen Körper, um wenigstens einen Teil vor der Kälte zu schützen, auch wenn es ihm mehr schlecht als recht gelang. Als er sich umsah, konnte er kein Anzeichen von Leben in diesem Wald erkennen, alles war grau, braun und sah nicht sonderlich lebendig aus. Was machte er bloß hier? Er konnte sich nicht daran erinnern, hier jemals schon gewesen zu sein, beziehungsweise herkommen zu wollen. Nach einem weiteren Blick auf die nahe Umgebung beschloss er, in eine Richtung weiterzulaufen und hoffte, auf einen Platz zum Schlafen oder eine andere Person zu treffen. Also marschierte er los, zitternd und unsicher. Warum war er bloß hier gelandet? Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was passiert war. War er etwa entführt und hierhergebracht worden? Aber diese Gedanken schob er schnell beiseite, denn jetzt war es wichtiger, einen Unterschlupf zum Schutz vor dieser schrecklichen Kälte zu finden. Obwohl…vielleicht sollte er einfach stehen bleiben und sich hinlegen. Dieses Leben, das er momentan führte, war es nicht wert, zu überleben. Private und berufliche Fehlschläge hatten ihn fast alles gekostet, was sein Leben bereichert hatte. Seine Frau, seine Kinder, seine Freunde und letztendlich auch seinen über alles geliebten Job. Stundenlang hatte er daheim in seiner 1-Zimmer-Wohnung gesessen, sich alte Bilder angeschaut und geweint. Mehrfach war ihm der Gedanke gekommen, dem allem ein Ende zu bereiten. Was sollte er denn auch noch in dieser Welt, die ihn so schamlos benutzt und dann weggeworfen hatte, als er an einem gewissen Punkt angelangt war?
Und doch schleppte er sich immer weiter vor, durch den Schnee, die schneidende Kälte und den erbarmungslosen Wind. Die Landschaft um ihn herum veränderte sich kaum, mal waren es mehr, mal weniger Bäume. Sein Weg führte ihn über weite Felder, bedeckt von kahlen Sträuchern, über ausgetrocknete Bäche und vorbei an leeren Fuchsbauten. Sein Körper schien wie von einer dünnen Eisschickt bedeckt, die ihn in kurzen Abständen vor Kälte zittern ließ. Ihm war so schrecklich kalt, die Lippen liefen schon leicht blau an und lange würde er es nicht mehr durchhalten. Würde er hier überhaupt einen Platz zum Schlafen finden? Es schien so aussichtslos, dass er fast losgeweint hätte, doch er konnte sich noch zurückhalten, denn gebracht hätte es ja doch nichts. Die Hoffnung hatte er schon fast aufgegeben, als er inmitten eines sehr kahlen Waldes eine leere Höhle unter den Wurzeln eines riesigen Baumes vorfand, die groß genug für ihn war. Mit wenigen Blättern, die er in der Nähe fand, zog er sich darin zurück und betete, dass er am nächsten Tag einen Ausweg finden würde.

Er wachte auf, als ihm der kalte Wind um die Füße strich. Gestern Nacht hatte er noch eine ganze Weile wachgelegen und nachgedacht. Er vermisste seine Kinder schrecklich und auch seine Frau fehlte ihm. Trotz der Trennung hatte er nicht aufgehört sie zu lieben. Vor ein paar Monaten war alles schiefgegangen, was hätte schiefgehen können: Sein Job hatte ihn Frau und Kinder gekostet und die Verzweiflung darüber seinen Job.
Alles hatte mit seiner Arbeit angefangen, die er vor ein paar Jahren fand. Es war nicht sein Traumberuf gewesen, aber er brachte Geld herein und machte auch einigermaßen Spaß. Doch mehr und mehr wurde dieser Job zur Falle, denn er verbrachte Stunden über Stunden abends in der Firma, um Projekte fertigzustellen und seinem Chef zu helfen. Das führte recht schnell zu dazu, dass er seine Familie weniger sah, kaum mehr mit ihnen zu Abend aß und seine Kinder nur noch sah, wenn er nach dem Heimkommen in ihre Schlafzimmer spähte. Manchmal setzte er sich auch zu ihnen ans Bett, streichelte die kleinen Gesichter und fragte sich, warum er das alles noch mitmachte. Doch trotz dieser Gedanken änderte sich nichts in seinem Leben und seine Frau was es langsam leid, die zweite Geige nach seiner Arbeit zu spielen und zog dann vor knapp vier Monaten die Reißleine. Samt Kindern zog sie zu ihren Eltern und wenige Wochen später erreichten ihn die Scheidungspapiere über ihren Anwalt. Für ihn war eine Welt zusammengebrochen, ihm schien es so, als wäre sein Herz ihn tausend Teile zerschmettert und als würde ihm die Stütze in seinem Leben fehlen. An diesem Tag war etwas in ihm zerbrochen und er konnte es nicht wieder reparieren. Tag für Tag vergrub er sich nun in seinem Bett, weinte, schrie oder zertrümmerte das Mobiliar in der Wohnung und fiel dann vor lauter Erschöpfung in einen tiefen Schlaf, von Albträumen durchzogen. Am nächsten Morgen wachte er meist gerädert auf und konnte sich zu nichts aufraffen. Nach ein paar Wochen unentschuldigtem Fehlen in der Arbeit kam dann die Kündigung, die er fast erleichtert annahm, in der Hoffnung, so seine Familie wiederzubekommen. Doch niemand reagierte auf seine Anrufe oder Nachrichten, nicht mal die Eltern seiner Frau nahmen seine Anrufe an und so sank seine Hoffnung wieder und brachte ihn fast um den Verstand.
Die dunklen Tage mehrten sich und bald bestand sein Alltag nur noch aus ihnen. Er hatte kaum mehr Freude an etwas, aß unregelmäßig und versank in destruktiven Gedanken. Auch spielte er mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, denn ihm schien nichts mehr lebenswert und wichtig genug, um dieses Dasein weiter zu fristen.
Er hatte Pläne geschmiedet, um sie am Ende doch nicht auszuführen, weil immer noch ein bisschen Hoffnung vorhanden war. Wo er jetzt allerdings in dieser Welt gelandet war, merkte er, dass er keine Hoffnung mehr verspürte. Da war nichts, außer dem Wunsch, nicht mehr zu sein.
Doch diese Gedanken schob er für einen Augenblick zur Seite, denn er meinte, gerade etwas gehört zu haben, das wie ein Weinen oder Wimmern geklungen hatte. Also versuchte er die Kälte und den unerbittlichen Wind zu ignorieren und lief sich immer weiter in Richtung des Geräusches, das Meter für Meter lauter und quälender zu werden schien. Weiter vorne konnte er eine Felsplatte erkennen, die außerhalb des Waldes und jeglich anderer Vegetation zu liegen schien. Das laute Weinen und Wimmern zog ihn magisch an, er konnte nichts anders, als direkt auf die Felsplatte zuzusteuern und auch seine Beine liefen wie von selbst. In ihm breitete sich eine angenehme Leere aus, er spürte nichts mehr, weder die Kälte noch den Wind. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit breitete sich in seinem ganzen Körper aus, fast fühlte es sich an wie eine Taubheit, die keinen Platz für Hoffnung oder andere gute Gefühle ließ. Immer näher kam er an der Rand der Felsplatte, immer näher den tausenden und abertausenden von Stimmen. Und dann stand er da, am Abgrund. So passend erschien es ihm in diesem Augenblick, eine Versinnbildlichung seines eigenen Abgrunds, dem Leben. Plötzlich war da diese Idee, einfach den Stimmen zu folgen und zu springen. Einfach einen Schritt nach vorne zu machen und nur die Luft unter sich zu spüren. Ein gelungenes Ende seines Daseins auf Erden. Doch gerade als er den ersten Fuß hob, erklang hinter ihm eine klare Frauenstimme. Ihr Gesang war so lieblich, so zauberhaft und rein, dass er sich einfach umdrehen musste. Sie entsprach nicht seinem Bild von Schönheit, aber nichtsdestotrotz zog sie ihn an, ähnlich wie die Stimmen zuvor. Das Lied erfüllte seinen Kopf, seinen Körper und schien in ihm widerzuhallen. Die Frau kam immer näher auf ihn zu, ohne ihren Gesang zu unterbrechen, bis sie schließlich direkt vor ihm stand. Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und lehnte sich mit ihrer Stirn an seine. Ihm war es, als würde alle glücklichen Momente seines Lebens vor seinem inneren Auge an ihm vorbeiziehen. Er sah seine Frau, am Tag ihrer Hochzeit, die Geburt und das Aufwachsen der Kinder, die tolle Zeit, die er mit seiner Familie verbracht hatte. Das Weinen und Wimmern hörte er nicht mehr, denn wollte er wirklich so leichtfertig sein Leben wegwerfen, ohne noch einmal gekämpft zu haben? Um seine Frau, seine Kinder, seine Familie? Nein, ihm wurde bewusst, dass er dazu noch nicht bereit war. Wenigstens einen Versuch wollte er noch unternehmen, sein ganzes Leben umzukrempeln und einen Neuanfang zu wagen mit den Menschen, die ihm alles bedeuteten. Er schloss die Augen und begann zu lächeln.

Als sie die Augen öffnete, war er verschwunden, kein Anzeichen mehr vorhanden, dass er je dagewesen war. Sie lächelte, denn er hatte es geschafft. Sein Leben würde quasi neu anfangen und er würde sich nicht zu den vielen verlorenen Seelen gesellen, die in diesem Abgrund ihr Dasein fristeten.
Noch kurz wagte sie einen Blick nach unten und dann verschwand sie wieder im Wald und wartete auf die nächste Person, die ihren Weg hierher finden würde…

 

Impressum

Texte: Dieser Text ist geistiges Eigentum der Autorin Elaya Flynn!
Bildmaterialien: www.pixabay.com & www.pexels.com
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2017

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