Der Spiegel war schmutzig und blind durch die lange Zeit, die er nun schon hier an der Wand hing, man konnte kaum mehr etwas durch ihn erkennen und alles wirkte sehr vergilbt. Risse zierten den vergoldeten Rahmen und die von Hand gezeichneten Blumen darauf zeigten, dass dieser Spiegel einmal sehr viel wert gewesen war.
Blut tropfte hinunter und bildete auf dem Boden eine kleine Pfütze. Jedes Mal wenn ein neuer Tropfen dazukam, platschte es leise und dieses Geräusch brach immer wieder die Stille, die in diesem Raum vorherrschte. Um diese Pfütze herum sah man auf dem hellbraunen Holzfußboden noch jede Menge Flecken getrockneten Blutes. Die Atmosphäre in dem kleinen, engen Raum mit den dunklen Wänden, die einem immer wieder so vorkamen, als würden sie immer näher auf einen zukommen, war gespenstisch. Nichts war zu hören, außer dem leisen Platschen des Blutes.
Mit dem Rücken zu dem Spiegel stand ein Mädchen, vielleicht 15 Jahre alt. Sie wirkte so klein und verloren mit ihrem zierlichen Körperbau und den winzigen Händen und Füßen. So unschuldig sah sie aus, das weiße Kleid umhüllte ihren Körper wie eine zweite Haut.
Warf man jedoch einen näheren Blick auf ihre Unterarme, so schreckten die meisten gleich wieder zurück. Wie ein U-Bahn-Fahrplan wanden sich Linien um Linien um ihre dünnen Arme und es waren nicht wenige. Manche waren nur sehr schwer zu erkennen, aber die meisten davon waren feine weiße Linien, die dem Betrachter zu verstehen gaben, dass hier ein scharfer Gegenstand mit aller Kraft gegen die Haut gedrückt worden war. Neben einigen älter aussehenden Narben waren auch relativ frische Schnitte zusehen, die wohl in den letzten Tagen hinzugekommen sein mussten, denn der Heilungsprozess hatte noch nicht eingesetzt und die Wunden glänzten schwach vor Salbe und ein bisschen Blut. Bei jeder Bewegung des Armes verzog sich die Haut rund um die betroffenen Stellen, man musste Angst haben, dass die Wunden wieder aufrissen und das Blut in Strömen austrat.
Das Mädchen zitterte und die Klinge in ihrer Hand zuckte unruhig über den frischen Schnitt, der ihren Unterarm in der Nähe der Pulsadern zierte. Ein leiser Lufthauch wehte durch das Zimmer und ließ sie frösteln. Schluchzend wandte sie ihr Gesicht dem Spiegel zu, der nur ein paar Meter entfernt an einem rostigen Nagel an der Wand hing. Als sie hineinsah, schien sie vor sich selbst zurückzuschrecken: Ihr schwarzes Haar hing ihr ungekämmt, ungewaschen und verklebt ins blasse Gesicht, das mit Kratzern und Schrammen verunstaltet war. Die hellgrauen Augen flackerten unruhig durch die Gegend und schienen nie nur auf ein Ziel fixiert. Als sie ihre Hand hob um sich das Haar aus dem Gesicht zu schieben, sah man, dass deren Nägel abgekaut und blutig waren, die Nagelhaut darum sah nicht besser aus. Selbst die langen schlanken Finger zeigten viele Narben und zeugten von einer Vergangenheit, wie sie wahrscheinlich niemand haben wollte.
Der Raum, indem sich sowohl Spiegel als auch das Mädchen befanden, war nicht sehr hell. Nur ein kleines Licht an der Decke spendete flackernd etwas Licht. Auch sonst sah der Raum nicht so aus, als könne man darin wohnen: Die Dielen auf dem Boden waren alt und verkratzt, sie knarzten und knackten bei jedem Schritt und man musste Angst haben, durchzubrechen und ein Stockwerk tiefer zu fallen. Die Wände starrten vor Schmutz, waren mit Flecken verschiedenster Art übersät und einige davon konnte man sofort als Blut erkennen. Neben dem alten Spiegel gab es nur noch eine kleine Couch im Zimmer. Doch auch dieser war anzusehen, dass sie schon eine lange Zeit in diesem Raum stand.
An den Wänden hingen Bilder, die wohl seit dem Vorbesitzer hier ihren Platz hatten:
Auf den meisten von ihnen waren rauschende Bälle zu sehen, mit leicht bekleideten Frauen und Mädchen die durch die Menschenmenge huschten und die augenscheinlich reiche, aber nicht sonderlich ansehnliche Männer mit ihrer Schönheit und Freizügigkeit zu betören versuchten. Jedes Bild erzählte eine andere Geschichte dieses Hauses, fast immer waren viele Leute zu sehen. Auf einigen Bildern sah man denselben Raum, indem das Mädchen sich gerade befand. Die Bilder zeugten von der eigentlichen Nutzung dieses Hauses, denn die Frauen darauf vergnügten sich gerade mit den verschiedensten Männern.
Nur auf zwei, drei Bildern befand sich nur eine Frau. Diese trug zwar immer wunderschöne Kleider, doch sie waren sehr freizügig und zeigten viel Haut.
Doch das schockierende Element auf diesen Bildern war der Gesichtsausdruck der jungen Frau: Die grauen Augen wirkten so alt, als hätten sie schon zu viel erfahren. Das schwarze Haar wirkte auf den ersten Blick zwar wunderschön und glänzend, sah man jedoch genauer hin, konnte man sehen, dass es in Wirklichkeit von einem feinen Grauschleier überzogen war, obwohl die Frau noch so jung schien.
Das Mädchen trat nun an ein Bild, das ebenjene Frau zeigte, mit einem kleinen Kind auf dem Arm, einem Mädchen. Sie schaute ganz verzückt auf es hinab und schien völlig eingenommen von diesem kleinen Wesen. Das Kind trug ein weißes Kleidchen und die kurzen schwarzen Haare waren mit einem weißen Haarband geschmückt.
Der fehlende Staub auf dem Rahmen und der Leinwand des Gemäldes deuteten an, dass dieses sehr oft angesehen und angefasst wurde.
Die Hand des Mädchens bewegte sich langsam auf das Bild zu und strich dann sanft über das Gesicht des Kindes, bevor sie sich auf das der Frau zubewegte. Der Blick war gefüllt mit unsäglicher Trauer und zugleich Zärtlichkeit, dass es einem fast die Tränen in die Augen trieb. Dieses Bild warf sie mit voller Wucht zurück in einen Strudel aus Erinnerungen und Gefühlen, die sie eigentlich längst hätte vergessen oder verarbeiten sollen.
Es war schon so lange her, dass es kaum mehr wusste, wann es so schlimm geworden war. Schon weit vor dem Tod ihrer Mutter hatte sie damit angefangen. Ohne ihn wusste sie einfach nicht, wie sie ihre Trauer verarbeiten sollte. Er hatte damals geholfen mit dem Tod ihres Bruders fertig zu werden und sie hatte gehofft, dass sie es diesmal auch mit seiner Hilfe schaffen würde. Doch da hatte sie sich wohl getäuscht. Nachdem sie herausgefunden hatte, was er mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hatte, wollte sie ihn nie wieder sehen. Er war so schnell gegangen, ohne ein Wort der Entschuldigung und nicht wieder aufgetaucht. Bis jetzt.
Sie würde ihm das nie verzeihen.
Ihre Mutter war gestorben, weil er zu dumm gewesen war und sie einfach hatte gehen lassen.
Irgendwann hatte es nicht mehr gereicht nur darüber zu reden. Der Schmerz saß so tief, dass sie eine andere Möglichkeit finden musste, ihre Wut und den Hass auf sich selbst und ihn herauszulassen. Also hatte sie im zarten Alter von 12 Jahren zur Klinge gegriffen. Der Schmerz war kurzzeitig verschwunden und sie konnte zumindest für eine Weile wieder aufatmen und ihr Leben teilweise weiterleben.
Aber dann wurde es wieder schlimmer, die Alpträume und schlaflosen Nächte nahmen wieder zu und erneut wurde die Klinge zur letzten Rettung. Von diesen Problemen hatte die Außenwelt allerdings nie etwas mitbekommen. Ihre Wunden verband sie immer sofort, versteckte sie unter langen Kleidungsstücken und so bekam nie jemand ihre wahre innere Zerrissenheit mit. Sicherlich hätte auch niemand verstanden, warum sie das machte, denn damals wie heute war Selbstverletzung nicht gern gesehen und machte einen zu einem schwachen Menschen, der man nicht sein wollte.
Doch manchmal fragte sie sich, ob sie nicht eigentlich mit ihren Taten Stärke bewies, denn nicht jeder konnte viel Schmerz ertragen und ihn dann noch mit niemandem teilen. Irgendwann wurde jeder schwach und weihte die engsten Freunde und seine Familie ein, damit sie einem halfen. Aber damit allein klarzukommen und sich so zu verstellen bewiesen doch, dass man ziemlich gut schauspielern konnte und relativ stark wahr, oder nicht?
Wahrscheinlich machte sie sich darüber sowieso zu viele Gedanken, denn sie war nicht stark. Sie konnte mit ihrer Trauer nicht umgehen und benutzte sie, um ihrem Körper zu schaden. Ihre Psyche war schon sehr lange nicht mehr die Beste, konnte nicht mehr viel ertragen, denn was ihr zugemutet worden war, sollte ein so junges Mädchen nicht allein mit sich ausmachen.
An allem war er schuld. Er hatte sie benutzt und genauso ihre Mutter. Denn ihre Selbstverletzung hatte einen ganz bestimmten Grund, ebenso wie der Selbstmord ihrer Mutter.
Er war ihr Therapeut gewesen und der ihrer Mutter. Sie hatten ihm ihr Seelenleid anvertraut, hatten ihm alles, wirklich alles, erzählt und er hatte ihre Offenheit mit Füßen getreten, sie schamlos für seine Zwecke ausgenutzt.
Alles was sie ihm je erzählt hatte, die Gedanken und Gefühle betreffend jede Person in ihrem Leben, all das benutzte er, um darüber ein Buch zu schreiben.
Ein Buch, das die Kämpfe des Alltags zeigen und veranschaulichen sollte, was manche Menschen in ihrem Leben durchmachen müssen. Also schrieb er akribisch alles mit, nahm jede Sitzung auf und verarbeitete hinterher alles zu neuen Kapiteln.
Sie hatte sich selten in einem Menschen so getäuscht wie in ihm. Nur wenigen war es gelungen, hinter ihre Fassade zu blicken, die sie sich mit jedem erneuten Schnitt und jedem Gedanken an ihren Bruder immer weiter aufbaute. Einer davon war er, Doktor Lukas Boyce, er wusste alles von ihr, jede noch so kleine Erinnerung hatte er aus ihr heraus gekitzelt, sie dazu gebracht, ihm mehr zu vertrauen, als sie eigentlich wollte.
Als dann plötzlich ihre Mutter starb und sie nicht wusste warum, wandte sie sich an ihn. Doch er stand ihr nicht mehr zur Verfügung, war einfach sang und klanglos verschwunden, hatte sie mit ihrer Trauer und dem wachsenden Selbsthass allein gelassen. Der Abschiedsbrief ihrer Mutter hatte die Wahrheit ans Tageslicht gebracht: Die Ausnutzung, die Drohungen seinerseits, ihr ihre Tochter wegzunehmen. Um sie zu beschützen, hatte sie einen anderen Weg gewählt und war nun im Himmel bei ihrem Sohn und den Engeln.
Sie hatte sie hier einfach auf der Erde zurückgelassen, mit all dem Schmerz und der Trauer, die ihr Leben und Handeln bestimmte. Nach ihrem Tod war das Ritzen wieder schlimmer geworden.
Dann war das Buch auf den Markt gekommen und zum Bestseller aufgestiegen. Ihre Gedanken, Gefühle und die ihrer Mutter sorgten dafür, dass sein Buch innerhalb weniger Tage zum Hit wurde. Die Menschen ergötzten sich am Leid der Hauptfiguren, ohne zu wissen, dass es auf wahren Tatsachen beruhte und der Autor das alles niemals hätte veröffentlichen dürfen. Aber selbst wenn sie es gewusst hätte, die meisten Menschen würden es trotzdem lesen, denn nichts ist interessanter als das Leid anderer. Schließlich versuchte Lukas sie zu finden. Er wollte ihr danken und mit ihr reden. Deswegen hatte er ihr einen Brief geschrieben, den sie sofort verbrannt hatte. Sie wollte ihn niemals wiedersehen, denn sie konnte ihm einfach nicht verzeihen dass er mit seinen Taten ihre Mutter zum Selbstmord getrieben hatte und sie nun endgültig ganz alleine auf dieser Welt war. Bruder, Mutter und Vater gab es nicht mehr, nur noch sie.
Irgendwann hatte der Therapeut es aufgegeben, sie zu suchen, denn er würde sie eh nicht finden. Wer würde schon darauf kommen, dass sie sich am alten Arbeitsplatz ihrer Mutter versteckte, um hier in Ruhe zu trauern.
Zwar ritzte sie sich noch immer, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es sein zu lassen, aber es war so befreiend, die Klinge auf der Haut zu spüren, wie sie sie aufritzte und dann das Blut nur so hervorschoss. Selbst der Schmerz, den sie jedes Mal aufs Neue verspürte, konnte sie nicht davon abhalten, ihren Körper so zu belasten. Dabei war sie selbst nur noch eine Gefangene ihrer selbst.
Niemand, aber auch wirklich niemand hatte solch eine Macht über sie, wie sie und das war auch das Schlimmste. Denn so musste sie jedes Mal mitmachen, wenn der innere Drang sie fast auffraß und sie dann doch wieder zu Klinge griff und ansetzte.
Trotzdem wollte sie nicht den gleichen Weg gehen wie ihre Mutter. Es war ihr vorherbestimmt, mit all dem Schmerz und der ganzen Vergangenheit von ihrer
Mutter und ihr zu leben, egal was auch passierte. Einer musste alles aufarbeiten und die schlechten Dinge von den guten trennen. Und da ihre Mutter das nun nicht mehr machen konnte, war es an ihr das zu tun, auch wenn es schwer werden würde.
Abrupt wurde die Hand wieder zurückgezogen und mit einem lauten Schniefen ging das Mädchen erst eilig einige Schritte rückwärts, bis es sich umdrehte und durch eine Tür verschwand, die vorher nicht zu sehen gewesen war. Es rannte durch ein Haus, das vorhin auf sämtlichen Bildern zu sehen gewesen war. Es durchquerte den Ballsaal, in dem wohl damals sehr viele Feste gefeiert und Herren empfangen worden waren, bis es schließlich durch eine Terrassentür ins Freie stürmte und vor einem Holzkreuz im hinteren Teil des Gartens stehen blieb und davor auf die Knie sank. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und erfüllte die laue Nacht mit wimmernden Lauten.
Auf dem Kreuz standen neben dem Namen Christelle Villarois nur noch ein kleiner Spruch: Mama, ich werde dich immer lieben und hoffe, du hast deinen Frieden gefunden, da, wo du jetzt bist.
‚‚Ich liebe dich, warum musstest du nur dieses Leben führen und dann so früh gehen, obwohl du doch mich hattest? Irgendwann werde ich zu dir kommen und dann können wir die Ewigkeit zusammen verbringen‘‘, schluchzte das Mädchen und dann rollte es sich im Gras zusammen und weinte leise vor sich hin.
Texte: Dieser Text ist geistiges Eigentum der Autorin Elaya Flynn!
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Tag der Veröffentlichung: 07.02.2017
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