I
ch hatte mich noch nie so einsam gefühlt. Da war ich mir sicher. Es fühlte sich so an, als hätte ich niemanden, keinen Freund, keine Familie. Niemanden, dem ich etwas bedeutete. Es war, als wäre ich völlig auf mich alleine gestellt. Da war keiner, der mir helfen konnte, der mir helfen wollte. Kein Mensch, der mir eine Hand oder auch nur einen kleinen Finger reichte, um mich zu unterstützen und mir dabei zu helfen, dazu zu stehen, was ich bin.
Ich bin nicht so wie alle anderen. Das hatte ich schon früh begriffen, auch wenn ich es so lange Zeit nicht hatte wahr haben wollen. Ich hatte es als Phase abgetan oder bloße Neugierde. Ernst hatte ich es nicht genommen, bis ich mit den Jahren gemerkt hatte, dass es sich nicht veränderte. Diese Gefühle waren weiterhin da, wurden sogar noch stärker und mit dieser Einsicht begann ich, mich immer weiter von den Menschen um mich herum zu entfernen.
Ich redete nicht viel, blieb für mich. Ich erzählte keiner Menschenseele von dem, was in mir drin brodelte und schon so lange darauf wartete, endlich auszubrechen. Ich baute eine Mauer zwischen mich und der Welt mit all den Menschen, die ich zu der Zeit meine Freunde und meine Familie nannte. Die Mauer wurde immer höher und ich fing an, ein neues Ich zu kreieren, wenn ich mit anderen zusammen war. Ich spielte eine Rolle oder versuchte es jedenfalls. Ich wollte nicht, dass auch nur irgendjemand mein wahres Ich sah, denn ich hatte Angst. Angst vor der Reaktion, davor, dass ich dann nicht mehr zu ihnen gehören würde. Dabei isolierte ich mich doch selber schon länger von ihnen. Trotzdem war es mir das bisschen Kontakt, das ich noch hatte, wert, dass ich dieses Geheimnis in mir einschloss und nur dann herausholte, wenn ich alleine war. Ich war mir sicher, dass ich alle verlieren würde, wenn sie es wüssten. Es kam mir nie in den Sinn, dass sie es vielleicht verstehen würden, dass sie mich akzeptieren würden. Dazu hätte ich mich vorher erst mal selber akzeptieren müssen, Doch so weit war ich noch nicht.
Einen großen Schritt in diese Richtung machte ich an einem Nachmittag im Sommer. Die Sonne schien und es war warm. Ich fühlte mich im Haus wie gefangen und immer wieder dachte ich über mich selber nach. Ich konnte nicht damit aufhören und musste unbedingt nach draußen. Daher schnappte ich mir einen Block und einen Stift und fuhr mit dem Fahrrad in die Natur. In einem nahegelegenen Wald stellte ich mein Rad ab und ging immer tiefer hinein. Ich kam zu einem kleinen Fluss. Über ein paar Steine, die im Wasser lagen, gelangte ich auf die andere Seite. Ich ging noch ein bisschen weiter, bis ich zu einem umgestürzten Baum kam, auf den ich mich setzen konnte. Ich schaute mich um und registrierte erst jetzt, wie weit ich gelaufen war. Es gab kein einziges Anzeichen dafür, dass irgendeine Menschenseele in der Nähe war. Ich war völlig alleine. Hier konnte ich nun meinen Gedanken nachgehen. Ich zog den Block hervor und nahm den Stift in die Hand. Schon begannen die Fragen und Sätze aus meinem Kopf direkt aufs Papier zu fließen. Seite um Seite füllte ich und nach ungefähr einer Stunde sah ich zum ersten Mal auf und schaute auf das, was ich alles geschrieben hatte. Als ich die Wörter las, reifte in mir eine Überzeugung. Ich hatte die Antwort auf die wichtigste Frage gefunden: Wer bin ich? Ich bin ich und das ist gut so! Mit diesem ersten Schritt fing ich an, mich zu akzeptieren und zu verstehen.
Bevor ich mich allerdings auf den Rückweg machte, holte ich ein Feuerzeug aus der Tasche und verbrannte symbolisch alle Zettel und mit ihnen alle Fragen, die auf mir gelastet hatten. Befreit fuhr ich dann nach Hause und musste mich der nächsten Herausforderung stellen, denn noch immer fühlte ich diese Einsamkeit und die Angst in mir war auch noch immer da.
In der nächsten Zeit hatte ich immer wieder das Gefühl, dass es an der Zeit war, offen zu mir zu stehen, doch mit diesem Gefühl kam auch immer wieder die Zweifel, ob die Menschen, die mir etwas bedeutete und denen ich hoffentlich auch etwas bedeutete, mich verstehen könnten. Zwar hatte ich es gelernt, mich selber zu akzeptieren. Aber konnte ich von allen anderen erwarten, dass sie es ebenfalls taten? Diese Frage scheint vielleicht jedem, irrelevant zu sein. Ich hatte jedoch kaum Selbstbewusstsein mehr nach den Jahren des Schweigens. Ich stellte meine Bedürfnisse unter die der Leute um mich herum. Eigentlich sollte ja jedem klar sein, dass die Menschen mich zu akzeptieren hatten, egal wie ich bin, denn ich kann mich ja nicht für sie ändern. Mir war es allerdings nicht klar. Ich hatte immer Angst, ich könnte mit der Offenbarung meines Geheimnisses jemanden von mir wegstoßen und ich war nicht stark genug, um zu sagen: Wer mich nicht akzeptiert, der soll sich verpissen!
Mit jedem Tag wurde es jedoch immer schwerer, allen etwas vorzuspielen. Die Einsamkeit und die Schauspielerei lastete schwer auf mir und meiner Seele. Ich hatte das Gefühl, ich veränderte mich. Ich schlüpfte fast 24 Stunden am Tag in eine Rolle, die ich gar nicht war. Ich begann, immer mehr zu lügen oder, um die Lügen zu umgehen, zu schweigen. Meine eigene Persönlichkeit ließ ich fast gar nicht mehr heraus. Dadurch baute sich in mir ein innerer Druck auf., der mich fast zum Platzen brachte.
An einem Tag im Winter konnte ich dann nicht mehr und mir wurde eines klar: Ich musste endlich anfangen, ich selber zu sein, denn sonst würde ich niemals glücklich werden!
Es war während der Weihnachtsfeiertage, an denen sich das Treffen mit Verwandten und Freunden häufte. Ich konnte mich also nicht in das übliche Schweigen retten. Außerdem fiel mir dabei auch immer mehr auf, wie einsam ich mich fühlte, obwohl ich mit vielen Leuten in einem Raum war. Ich wollte am liebsten mit niemandem reden, da mir klar war, dass ich dann sicherlich wieder lügen müsste. Ich musste in diesen Tagen so oft meine Rolle spielen, dass ich selber gar nicht mehr da war. Daher beschloss ich, dass sich das ändern musste. Auch wenn ich vielleicht, manch einen Freund verlieren würde, so sollte ich mir doch selber wichtiger sein und zu mir stehen.
Silvester sollte der Tag der Offenbarung werden. Ich wollte kein Jahr mehr mit dieser Lüge beginnen. Es war quasi wie ein Vorsatz für das neue Jahr. Und als es 12 Uhr schlug und sich alle umarmten und feierten, stellte ich mich auf einen Stuhl und bat um Aufmerksamkeit. Dann offenbarte ich mich.
Die Reaktion überraschte mich vollkommen, denn viele meinten zu mir, sie hätten schon lange das Gefühl gehabt, dass ich nicht ich selber war. Es war so, als hätten sie die ganze Zeit über schon gewusst, wer ich wirklich bin, während ich mir Sorgen gemacht hatte, ob sie das verstehen würden. Keiner machte mir auch nur einen Vorwurf und distanzierte sich von mir. Sie akzeptierten mich genau so, wie sie es auch vorher schon getan hatten.
Diese ganze Einsamkeit, die ich mir selber geschaffen hatte, hätte ich gar nicht erleiden müssen, hätte ich nur früher dazu gestanden, wer ich bin.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2011
Alle Rechte vorbehalten