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Ich war gerade auf dem Weg zur Schule, als mich eine Stimme rief. Ich erkannte sie sofort. Es war mein Freund Norman, der mich sonst immer zur Schule begleitete, aber an diesem Tag hatte er sich verspätet. „Warum hast du denn nicht auf mich gewartet?“, fragte er, als er mich erreichte. „Du bist 20 Minuten zu spät. Warum sollte ich dann noch auf dich warten?“, erwiderte ich. „Es tut mir Leid, aber mein Hund hat mich aufgehalten. Er wollte unbedingt mit mir spielen“, murmelte Norman entschuldigend, „Jetzt müssen wir uns aber beeilen, um nicht zu spät zukommen.“ Dann lief er ohne Vorwarnung los. Ich musste ganz schön schnell rennen, um ihn einzuholen, was mir erst ein paar Meter vor der Schule gelang.
Gerade als wir in unseren Klassenraum gingen, klingelte es auch schon zur Stunde und wenige Augenblicke später kam unsere Englischlehrerin Frau Nulpe in die Klasse. Wir standen alle auf und sagten im Chor: „Guten Morgen.“
Nach der Begrüßung fing der Unterricht an, den sie grundsätzlich auf Englisch führte. Es war etwas schwer ihm auf Englisch zu folgen, aber eigentlich kam ich immer mit. Norman hatte es da schon schwerer. Er war nicht so sprachbegabt wie ich. Nach der Englischstunde hatten wir Mathe bei Herrn Pol, den die ganze Klasse nicht mochte. Nachdem auch diese Stunde zu Ende war, hatten wir noch Deutsch, Sport und Latein.
Es war ein durchschnittlicher Schulalltag, an dem nichts Besonderes passierte, aber ich spürte, dass sich mein Leben bald ändern und nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Den Grund für dieses Gefühl kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass mein Leben sich von Grund auf ändern würde.
Als ich nach der Schule zu Hause ankam, war niemand da. Meine Mutter war im Supermarkt, mein Vater musste arbeiten und meine Schwester Amy war noch in der Schule. Sie war ein Jahr älter als ich und musste daher auch länger in der Schule bleiben.
Ich lief die Treppe hinauf in mein Zimmer. Dort warf ich meinen Schulranzen in die Ecke und setzte mich an meinen neuen Computer, den ich erst seit ein paar Tagen hatte. Ich ging ins Internet und chatete mit meinen Freunden.
Auf einmal spürte ich einen kalten Lufthauch im Nacken. Doch als ich mich umblickte, war kein Fenster offen. Ich schaute auch in den anderen Zimmern nach, aber alle Fenster war zu. Es konnte eigentlich gar keinen kalten Luftzug geben. „Wahrscheinlich ist eines der Fenster nur undicht“, sagte ich zu mir selbst und setzte mich wieder an den Computer, doch wenige Augenblicke später spürte ich schon wieder einen Lufthauch. Mir stellten sich die Nackenhaare auf und ich bekam Gänsehaut. Woher kam diese eiskalte Luft? War wirklich nur eines der Fenster undicht oder gab es eine andere logische Erklärung dafür? Gab es überhaupt eine logische Erklärung für den Lufthauch? Plötzlich fielen mir die Geschichten, die über unser Haus erzählt wurden, wieder ein. Es hieß, dass in unserem Haus ein Mord passiert sein sollte und nun spuke der Geist des ermordeten Jungen in dem Haus, in dem ich wohnte. Ich dachte immer, die Geschichte hätten die Leute sich nur ausgedacht oder sie sei nur eine Legende. War es wirklich nur eine ausgedachte Geschichte? Steckt nicht in jeder Geschichte ein kleiner Kern Wahrheit? Ist der Mord vielleicht wirklich passiert? Spukt der Junge in unserem Haus? War der kalte Lufthauch der Atem des toten Jungen? Ich hatte nämlich mal in einem Buch gelesen, dass der Atem der Untoten eiskalt sein sollte.
Ich schüttelte kurz den Kopf, um die grauenhaften Gedanken aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Nachdem sie fort waren, wendete ich mich wieder meinem Computer zu. Doch ich konnte mich nicht mehr konzentrieren und obwohl ich die Gedanken aus meinem Kopf verbannt hatte, dachte ich immer wieder an den Jungen und an den eiskalten Lufthauch.
Noch am nächsten Tag auf dem Weg zur Schule musste ich an ihn denken und Tausende von Fragen schwirrten mir durch den Kopf. „Du bist ja heute richtig gesprächig“, sagte Norman auf einmal und riss mich aus meinen Gedanken. Ich murmelte eine leise Entschuldigung und unterhielt mich danach mit ihm über die anstehenden Klassenarbeiten und die Klassenfahrt, die wir bald machen wollten. Es war kein interessantes Gespräch, aber es war schön nicht mehr an den Jungen denken zu müssen. Als ich dann im Klassenraum an meinem Platz saß und mit meinen anderen Freunden redete, hatte ich den Jungen mit dem kalten Atem schon völlig vergessen. Zu dieser Zeit wusste ich allerdings noch nicht, dass er eine große Rolle in meinem weiteren Leben spielen würde.
Nach der Schule ging ich mit Norman zurück. Vor meiner Haustür verabschiedeten wir uns und ich ging in das Haus, in dem der Junge ermordet worden war, aber es nie verlassen hatte.
Meine Mutter war die Einzige, die zu Hause war. Sie war gerade in der Küche und machte das Mittagessen für uns zwei. Ich setzte mich an den Küchentisch und wartete gerade auf das Essen, als ich wieder einen kalten Lufthauch spürte. Ich drehte mich erschrocken um, doch ich sah niemanden. „Ist dir auch so kalt?“, fragte mich auf einmal meine Mutter und machte das Küchenfenster zu. Das musste die Anwort sein, die ich gesucht hatte. Der Luftzug musste durch ein undichtes oder offenes Fenster, das ich übersehen hatte, gekommen sein. Diesen ermordeten Jungen gab es doch gar nicht. Dieser Gedanke beruhigte mich und ich konnte mit meiner Mutter zusammen essen.
Nach dem Mittagessen setzte ich mich wieder an den Computer und surfte ein bisschen im Internet. Um 3 Uhr machte ich den Computer aus und setzte mich an meine Hausaufgaben. Ich wollte gerade von meinem Schreibtischstuhl aufstehen und meinem Schulranzen holen, als ich wieder einen eiskalten Lufthauch im Nacken spürte. Ich bekam eine Gänsehaut und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich drehte mich langsam um und da sah ich, woher der kalte Luftzug kam. Mein Fenster war offen. Ich machte es schnell zu und begann mit meinen Hausaufgaben.
Schon nach einer Viertelstunde war ich fertig und konnte mich noch mit Norman treffen. Ich sagte meiner Mutter Bescheid, das ich weg ging und zog mir dann meine Schuhe und meine Jacke an. Es war kalt draußen und es schneite ein wenig. Doch der Schnee blieb nicht liegen. Das wird wohl nichts mehr mit einem weißen Jahresende. Wir hatten schon Mitte Dezember und noch kein einziges Mal war der Schnee länger als 5 Minuten liegen geblieben. Plötzlich riss mich etwas aus meinen Gedanken. Jemand rief meinen Namen. Ich schaute mich um, doch es war niemand da. Kein Mensch war auf der Straße. Ich war ganz allein.
„Mike, Mike, hilf mir!“, rief wieder diese Stimme. Es war eine Jungenstimme und sie schien wirklich in Schwierigkeiten zu sein. Ich schaute mich wieder um, aber es war immer noch kein Mensch auf der Straße. Plötzlich huschte eine kleine Gestalt von einem Baum des nahegelegenen Wäldchens zu einem anderen Baum. Ich sah die Gestalt nur ganz kurz, aber ich war mir sicher, dass sie mich gerufen hatte. Es konnte nur sie gewesen sein. Mit schnellen Schritten ging ich auf das Wäldchen zu. Dabei sah ich immer wieder, wie die Gestalt von einem Baum zu anderen rannte und meinen Namen rief. Als ich der Gestalt näher kam, sah ich, dass sie ein Junge war. Er war in meinem Alter, das heißt ungefähr 14. Während er zwischen den Bäumen hin und her lief, starrte er mich mit weit aufgerissenen Augen an. In seinem Gesicht spiegelte sich das pure Entsetzen.
Ich war nur noch wenige Meter von dem Jungen entfernt und wollte gerade nach seinem Namen fragen, als er auf einmal verschwand. Ich blickte mich um, aber es war kein Mensch zu sehen, weder der Junge noch jemand anderes. Auch die Stimme war verschwunden.
Eine drückende Stille breitete sich aus. Erst jetzt bemerkte ich, wie weit ich in den Wald hineingelaufen war. Man hörte nicht einmal mehr das Geräusch der Autos, die auf der Straße neben dem Wald fuhren. Es war völlig still. Durch die Äste der hohen Bäume drang kaum ein Sonnenstrahl. Ich drehte mich um und wollte gerade zurück gehen, als ich eine Hand auf meine Schulter spürte, die mich ruckartig umdrehte. Es war die Hand es Jungen und seine Augen starrten mir direkt ins Gesicht.
Plötzlich wurde der Junge wie von einer unsichtbaren Macht zurück gezogen. Er versuchte sich zu wehren, aber die Macht schien zu stark zu sein. Immer tiefer wurde er in den Wald hineingezogen und das Einzige, was er noch sagen konnte, war: „Hilf mir!!!“ Dann war er in der Tiefe des Waldes verschwunden.
Am ganzen Körper zitternd stand ich da und konnte mich nicht bewegen. Tausende von Fragen schwirrte mir durch den Kopf, dessen Antworten ich allerdings nicht wusste, aber mir war klar, dass der Junge meine Hilfe brauchte und nur er die Antworten auf meine Fragen kannte.
Als ich mich von meinem Schock erholt hatte, machte ich mich auf den Weg zurück zur Straße, wobei ich mich immer wieder umschaute. Erst als ich bei der Straße ankam, entspannte ich mich wieder ein wenig, aber ich musste immer noch an den Jungen und das Entsetzen in seinem Gesicht denken. Ich wusste, dass ich dieses Bild nie mehr aus meinem Gedächtnis löschen könnte. Es war einfach zu schrecklich, als das man es vergessen könnte. Nie wieder wollte ich solche Angst in dem Gesicht eines Menschen sehen.
Als ich dann endlich bei Norman ankam, war ich schon eine Stunde zu spät und er fragte mich, wo ich geblieben war. Die Geschichte mit dem Jungen konnte ich ihm natürlich nicht erzählen. Die hätte er mir ja sowieso nicht geglaubt. Also erfand ich eine Geschichte und erzählte ihm, dass ich einen Freund getroffen und nicht auf die Zeit geachtet hätte. Er war nicht wirklich überzeugt, aber er ließ es dabei bleiben.
Durch meine Verspätung hatte wir schon viel Zeit verloren und konnte nicht mehr viel unternehmen. Als erstes gingen wir ins Einkaufszentrum und trafen dort noch ein paar Freunde aus unserer Klasse. Nachdem wir uns von ihnen verabschiedet hatten, gingen wir wieder zu Norman nach Hause und schauten uns noch einen Film an. Als es dann Zeit war, nach Hause zu gehen, hatte ich den Jungen und seinen Hilferuf schon völlig vergessen, aber ,als ich auf dem Heimweg wieder an dem Wald vorbeikam, sah ich wieder das vor Entsetzen verzerrte Gesicht des Jungen vor meinem innerem Auge.
Plötzlich schossen mir grauenhafte Bilder durch den Kopf. Es waren Bilder von einem Jungen, von dem Jungen aus dem Wald. Er ist einem dunklen Haus, mein Haus, und er stand in meinem Zimmer, aber es war völlig anders eingerichtet. Das Bett stand am Fenster und neben dem Bett stand ein großer, altmodischer Kleiderschrank. An der Wand, die dem Fenster gegenüber lag, stand ein Schreibtisch, auf dem eine kleine Schreibtischlampe war. Neben der Zimmertür konnte man die Umrisse einer Kommode sehen. Das Auffälligste war allerdings ein Spiegel, der neben dem Kleiderschrank stand, denn er schien von innen heraus zu leuchten.
Auf einmal trat eine dunkle Gestalt mit Klauen statt Händen aus dem Spiegel und ging direkt auf den Jungen zu. Der Junge schien die Gestalt gar nicht zu bemerken. Ich wollte ihn warnen, aber er konnte mich nicht hören, denn ich war ja nicht wirklich in diesem Zimmer. Erst als die Gestalt nur noch wenige Schritte von dem Jungen entfernt war, bemerkte dieser die Anwesenheit der Person mit den Klauenhänden. Sie kam unaufhaltsam näher und der Junge versuchte wegzulaufen, aber es war zu spät. Mit einem zischenden Geräusch sausten die Klauen nieder und bohrte sich in den Rücken des Jungen. Das Blut spritzte in alle Richtungen, während die Gestalt immer wieder ihre langen, scharfen Klauen in nun auch die Brust des Jungen bohrte und als die Kreatur von ihm abließ, war er nur noch ein undefinierbares Etwas. Die Gestalt nahm mit einer Klaue den linken Fuß des Jungen und zog ihn dann mit sich in den Spiegel.
Immer noch sah ich das völlig entstellte Gesicht vor mir, aber auf einmal rückte ein anderes Gesicht in den Vordergrund. Es war das verschreckte Gesicht des Jungen aus dem Wald. Hatte der Junge vor dieser Kreatur so viel Angst? Hatte die Kreatur ihn zurück in die Tiefe des Waldes zurück gezogen? Wieder kannte nur der Junge die Antworten. Ich musste ihn finden und die Antworten aus ihm herausbekommen. Das war der Plan.
Aber wo sollte ich den Jungen suchen? Da fiel mir wieder der unheimlich Luftzug in meinem Haus ein. War es der Atem des Jungen? Hatte er versucht mit mir Kontakt aufzunehmen? Ich musste die Antworten einfach wissen. Vielleicht ist de Junge noch in meinem Haus. Vielleicht konnte ich ihn dort finden. Da es der einzige Anhaltspunkt war, den ich hatte, beschloss ich den Jungen in meinem Haus genauer gesagt in meinem Zimmer zu suchen. Ich machte mich sofort auf den Weg um noch vor der Dunkelheit, die schon ein wenig begonnen hatte, zu Hause zu sein.
Es war kurz vor 7 Uhr, als ich ankam und die Haustür aufstieß. Ich zog sofort meine Jacke und Schuhe aus. Dann rannte ich mit schnellen Schritten die Treppe hinauf und in mein Zimmer. Dort wollte ich nach dem Jungen rufen, aber da fiel mir ein, dass ich den Namen des Jungen gar nicht kannte. Daher rief ich einfach nach dem Geisterjungen. Nachdem der Junge nach dem 10. Mal noch nicht gekommen war, gab ich es auf, aber ich konnte ihn nicht vergessen.
Nach dem Abendessen, das ich alleine essen musste, da meine Eltern und Amy auf einer Schulveranstaltung waren, auf die ich keine Lust hatte, schaute ich eine Komödie im Fernsehen, aber ich konnte über keine der Witze lachen, weil ich immer noch an den Jungen dachte. Seine Familie musste ganz schön traurig gewesen sein, als ihr Junge verschwand. Sie hatten wahrscheinlich nur das Blut an den Wänden gesehen und sofort gewusst, dass ihr Sohn tot war.
Nach der Komödie machte ich den Fernseher aus und ging vom Wohnzimmer in die Küche. Dort machte ich mir einen heißen Kakao, den ich nur langsam trinken konnte. Während ich den Kakao trank, sah ich immer abwechselnd das Gesicht des Jungen im Wald und dann das entstellte Gesicht des selben Jungen.
Auf einmal spürte ich wieder diesen eiskalten Lufthauch im Nacken. Er schien dieses Mal noch kälter zu sein als vorher, aber wahrscheinlich kam mir das nur so vor, weil ich schon den ganzen Abend an den Jungen, seinen Tod und den Lufthauch denken musste. Wie aus Gewohnheit blickte ich mich wieder um, aber ich sah nichts. Kein Junge stand hinter mir und versuchte mit mir zu reden. Niemand war dort. Ich war ganz alleine in einem Haus, in dem eine Kreatur mit Klauenhänden lebte. Auf einmal fiel mir eine wichtige Frage ein. Wo war der Spiegel, durch den die Gestalt gekommen war? Bestimmt wurde er verkauft oder zerstört. Das konnte die einzige Antwort sein, oder? War er vielleicht noch auf dem Dachboden?
Da ich es nicht wusste, beschloss ich nachzusehen. Ich ging ins Wohnzimmer und durchsuchte die Schubladen des Schranks nach einer Taschenlampe, weil ich nicht wusste, ob das Licht auf dem Dachboden funktionieren würde. Als ich eine Taschenlampe gefunden hatte, machte ich mich auf den Weg in den ersten Stock. Dann ging ich mit langsamen Schritten die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Während ich immer näher an die Dachbodentür kam, begann mein Herz schneller zu schlagen. Mein Puls war bestimmt auf 180.
Nun war es soweit. Ich stand vor der Tür und griff nach der Klinke. Ich war nur noch wenige Zentimeter von der Klinke entfernt, als ich hörte, wie sich die Haustür öffnete und die Stimme meiner Mutter sagte: „Mike, wir sind wieder da.“ Schnell drehte ich mich um und lief die Treppen hinunter in den Flur.
Dort begrüßte ich meine Familie, lief dann allerdings sofort wieder in mein Zimmer und machte mich für das Bett fertig. Denn ich wollte nur noch unter meine Decke kriechen und den Jungen vergessen. Nie wieder wollte ich das völlig entstellte Gesicht des Jungen vor meinem inneren Auge sehen und nie wieder wollte ich an die Klauenkreatur denken. Aber ich konnte es einfach nicht. Die Bilder hatten sich schon zu tief in mein Gedächtnis gebrannt. Immer wenn ich die Augen schloss, sah ich erst das noch nicht entstellte und dann das entstellte Gesicht. Es war grauenhaft. Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu, weil ich die Bilder nicht mehr sehen wollte.
Zum Glück hatte ich am nächsten Tag keine Schule, denn es war Wochenende, und wenn ich in die Schule gemusst hätte, hätte ich wahrscheinlich die ganze erste Stunde durchgeschlafen oder wäre erst gar nicht aus dem Bett gekommen.
Doch da ich ja nicht aufstehen musste, konnte ich noch länger im Bett bleiben, obwohl ich immer noch nicht schlafen konnte ohne das Gesicht des Jungen zu sehen. Als ich dann endlich aufstand, war es schon nach 2 Uhr. Ich ging schnell ins Bad und zog mich danach an. Dann lief ich die Treppe hinunter in die Küche und machte mit etwas zum Frühstück, eher gesagt zum Mittag. Ich aß alleine, denn meine ganze Familie war mal wieder irgendwo hingefahren ohne mich zu wecken oder mir Bescheid zu sagen. Nach dem Mittagessen ging ich wieder in mein Zimmer und setzte mich vor den Computer.
Auf einmal hörte ich ein Geräusch. Leise Schritte kamen aus dem zweiten Stock die Treppe hinunter in den ersten Stock. Sie kamen direkt auf meine Zimmertür zu, doch, als die Schritte genau vor meinem Zimmer waren, hörten sie genauso schnell wieder auf, wie sie angefangen hatten. Es war wieder völlig still. Wer war das? War es der Junge?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, stand ich auf und ging ohne ein Geräusch zu machen auf meine Zimmertür zu, aber, als ich die Tür aufriss, war niemand zu sehen. Der Flur war wie ausgestorben. Es war keine Menschenseele oder jedenfalls kein menschlicher Körper weit und breit. Bei der Menschenseele war ich mir nicht ganz so sicher. Vielleicht war die Seele des toten Jungen noch in diesem Haus und versuchte mit mir zu reden. Wenn es wirklich so war, müsste er doch auf mein Rufen reagieren.
Daher rief ich wieder nach dem Geisterjungen, aber wieder erhielt ich keine Antwort. Warum redete der Junge nicht mit mir? Konnte oder durfte er nicht mit mir reden? Im Wald hatte er es doch schon einmal geschafft. Warum konnte er es jetzt nicht? Ich verstand es einfach nicht. Dann schloss ich meine Zimmertür und setzte mich zurück an den Computer.
Doch wieder hörte ich plötzlich Schritte. Sie kamen von unten. Nun kamen die schnellen Schritte die Treppe hinauf. Auch sie blieben direkt vor meiner Tür stehen. Aber sie verschwanden nicht einfach. Auf einmal wurde die Klinke hinunter gedrückt. Mir stockte der Atem. Langsam öffnete sich die Tür und meine Mutter kam in mein Zimmer. „Hast du mich nicht rufen hören?“, fragte sie. „Ich habe dich mindestens 10 Mal gerufen. Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.“ Sie wusste gar nicht, wie recht sie damit hatte. „Nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete ich.
Nach ein paar weiteren Versuchen von meiner Mutter herauszufinden, was mit mir los war, drehte sie sich um und ging aus meinem Zimmer. Ich machte den Computer, legte mich auf mein Bett und machte die Augen zu. Dann versuchte ich mir vorzustellen, was mit dem Geisterjungen passiert war, nachdem er in den Spiegel gezogen wurde.
Wieder sah ich die Kreatur mit den Klauenhänden, die den leblosen und völlig entstellte Jungen hinter sich herzog und dann im Spiegel verschwand. Genau an dieser Stelle hatten die Bilder, die ich vor dem Wald gesehen hatte, aufgehört, doch dieses Mal ging ich der Kreatur hinterher und trat durch den Spiegel in eine neue Welt voller Dunkelheit und Schmerz.
Es war ein grausames Gefühl in dieser Welt zu sein, aber trotzdem folgte ich der Klauengestalt immer weiter in die Welt hinein. Plötzlich hörte ich Schreie. Sie schienen aus jeder Richtung zu kommen. Es waren schreckliche Schreie, die voller Schmerz und Angst waren. Auf einmal blieb die Klauenkreautur stehen und blickte sich um. Zum ersten Mal konnte ich direkt in das Gesicht der Gestalt schauen und es war grauenhaft. Das Gesicht sah genauso entstellt aus wie das Gesicht des Jungen. Nur die Augen waren anders. Sie waren völlig schwarz und hatten keine Pupillen. Es waren die Augen des Teufels. Niemand könnte sonst so dunkle Augen haben, die allerdings von innen zu leuchten schienen. Es musste der Teufel sein, der mir direkt ins Gesicht schaute.
Plötzlich ließ er das Bein des Jungen fallen und kam auf mich zu. Während er mir langsamen Schritten auf mich zu ging, schaute er mir noch immer in die Augen und schien mich mit seinem Blick zu fesseln, denn ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich konnte weder nach hinten noch zur Seite laufen. Meine Beine gehorchten mir nicht.
Doch auf einmal setzten sie sich in Bewegungen und gingen auf den Teufel zu. Ich konnte mich nicht wehren. Panik machte sich in mir breit und ich begann zu schwitzen. Nur noch wenige Schritte trennten mich vom sicheren Tod. Der Teufel streckte schon eine seiner Klauen aus, doch plötzlich schreckte ich auf und war wieder in meinem Zimmer.
Es war nur ein Traum gewesen, der sich sehr echt angefühlt hatte. Mit einem Blick auf meinen Wecker, der neben meinem Bett auf einem Nachttisch stand, stellte ich fest, dass ich fast zwölf Stunden geschlafen hatte. Es war kurz vor 2 Uhr morgens. Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, als ich bemerkte, dass Licht unter meiner Tür durch schien. Es kam aus dem Flur, aber, warum sollte mitten in der Nacht jemand im Flur sein? Daher stieg ich aus dem Bett und machte mich auf dem Weg zu meiner Zimmertür. Es war gar nicht so einfach zur Tür zu gelangen, da sich meine Augen noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Als ich es dann geschafft hatte und die Tür öffnete, sah ich, dass das Licht nicht aus dem Flur sondern aus dem zweiten Stock kam. Leise schlich ich die Treppe hinauf und stellte fest, dass das Licht auch nicht aus dem zweiten Stock, sondern vom Dachboden kam.
Mit langsamen Schritten ging ich auf die Dachbodentür zu. Vor der Tür nahm ich all meinen Mut zusammen, drückte die Türklinke hinunter und stieß die Tür auf. Ein kalter Luftzug strömte mir entgegen, als ich die Treppe hinauf auf den Dachboden ging. Das Licht, das schon im Flur so hell war, wurde nun noch heller und ich musste die Augen zusammenkneifen. Am Ende der Treppe blieb ich kurz stehen, setzte mich dann aber wieder in Bewegung. Ich hatte Angst, aber meine Neugier war größer und ich musste einfach wissen, woher das Licht kam.
Auf dem Dachboden standen lauter alte Sachen, die wahrscheinlich noch den Leuten gehörten, die vor uns in diesem Haus gewohnt hatte. Die Dinge gehörten wahrscheinlich der Familie des Jungen. Ich kam immer näher an die Quelle des Lichts.
Was würde mich dort erwarten? Würde ich auf den Jungen treffen? Was ist die Quelle des Lichts überhaupt? Würde dort vielleicht die Klauenkreatur auf mich warten? Tausende Fragen schwirrten mir durch den Kopf, aber die Antworten würde ich erst haben, wenn ich die Quelle gefunden hätte. Plötzlich sah ich in einiger Entfernung, woher das Licht kam. Es war ein Spiegel, aber nicht nur irgendein Spiegel. Es war der Spiegel, der früher im Zimmer des Jungen gestanden hatte.
Mit langsamen Schritten ging ich auf ihn zu und schaute in ihn hinein. Ich erwartete mein Spiegelbild zu sehen, doch ich sah nicht mich, sondern den Jungen. Er streckte den Arm aus, als wolle er, dass ich ihm folge. Aber wie sollte ich das machen? Ich konnte doch nicht einfach durch den Spiegel gehen, oder? Vielleicht konnte ich es doch. Ich musste es bloß versuchen.
Daher streckte ich die Haus und tastete nach dem Spiegel, doch meine Hand traf nicht auf festes Glas, sondern ging durch das Glas hindurch. Nun versuchte ich mit dem ganzen Körper durch den Spiegel zu gehen, was ich auch schaffte. Es war ein kühles aber schönes Gefühl, als ich ganz durch den Spiegel trat. Ich blickte zurück, doch alles, was ich sah, war mein Spiegelbild. Ich streckte wieder die Hand aus, aber dieses Mal traf sie auf hartes Glas.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Es war die Hand des Jungen. Wieder machte er mir Zeichen, dass ich ihm folgen sollte. Ohne zu wissen, was ich tat, folgte ich ihm einfach. Während ich ihm hinterher ging, schaute ich mich um und erschrak. Ich war wieder in der Welt aus meinem Traum. Wieder war ich in der Welt voller Dunkelheit und Schmerz. Ich war in der Hölle. Plötzlich hörte ich Schreie, die Schreie der verlorenen Seelen. Es war genauso wie in meinem Traum, aber noch war der Teufel nicht zu sehen.
Der Junge, der weiter gegangen war, als ich stehen blieb, drehte sich nun um und wartete darauf, dass ich ihm weiter folgte, aber ich konnte nicht. Ich hatte Angst und dieses Mal war sie stärker als meine Neugier.
Als der Junge merkte, dass ich ihm nicht mehr folgen konnte, kam er auf mich zu und nahm meine Hand. Dann zog er mich weiter. Ich wollte mich losreißen, aber der Junge, der eher schwach aussah, war zu stark. Ich schaute mich weiter um, während mich der Junge weiter zog, und merkte erst jetzt, dass die Landschaft um mich herum gar keine richtige Landschaft war, sondern nur aus heißer, brodelnder Lava bestand. Es gab nur ein Stück Erde und das war der Weg, auf dem der Junge und ich gingen. Eigentlich war es gar keine Erde, sondern Sand, auf dem wir uns bewegten, und bei jedem Schritt sackte man ein wenig ein.
Ich schaute in die Ferne, doch ich konnte nichts erkennen. Vor uns erstreckte sich nur ein endlos langer Sandweg.
Es kam mir vor, als wären wir stundenlang gegangen, als der Junge endlich anhielt. Wieder schaute ich mich um, aber es war nichts zusehen, was anders war. Wir waren bloß an einer Stelle auf unserem langen Weg.
Plötzlich sagte der Junge: „Hier wirst du deine erste Aufgabe bewältigen müssen. Ich komme wieder, wenn du sie geschafft hast.“ Dann ging er einfach weg. „Was für eine Aufgabe muss ich denn bewältigen?“, fragte ich noch, aber der Junge war schon verschwunden.
Gespannt, was passieren würde, stand ich nun da und wartete auf meine erste Aufgabe. Ich musste nicht sehr lange warten. Schon wenige Augenblicke später begann neben mir ein neuer Sandweg zu entstehen, der nach rechts führte und dessen Ende ich nicht sehen konnte.
Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, fing ich einfach an dem Weg zu folgen. Es war ein langer Weg, der genauso trostlos und einsam war wie der Weg zuvor. Er schien auch genauso lang zu sein, aber nach einiger Zeit kam ich zu einer Tür, die sich am Ende des Weges befand.
Langsam streckte ich die Hand nach der Klinke aus. Das Metall der Türklinke fühlte sich merkwürdig elektrisierend an, als ich es berührte. Ich drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür behutsam. Hinter der Tür befand sich ein Gang, der von zwei hohen Hecken begrenzt wurde. Mit einem großen Schritt trat ich durch die Tür und stand nun in diesem Gang.
Ich machte gerade einige Schritte nach vorne, als sich plötzlich die Tür hinter mir mit einem lauten Knall schloss. Ich drehte mich erschrocken um und wollte die Tür wieder öffnen, aber sie war verschwunden.
Hinter mir war nun auch nur ein Gang, dessen Ende nicht zu sehen war. Nun wurde mir klar, dass das meine erste Aufgabe war. Ich musste aus diesem Labyrinth entkommen. Plötzlich entdeckte ich einen Pfeil an der rechten Hecke, der in die Richtung zeigte, in die ich als erstes wenige Schritte gegangen war, bevor sich die Tür verschlossen hatte und verschwunden war. In diese Richtung sollte ich wohl gehen.
Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, begann ich einfach mich in die Richtung zu bewegen, in die der Pfeil zeigte. Schon nach wenigen Meter wurde mir klar, dass es kein leichter Weg sein würde, aber ich musste ihn schaffen, um nach Hause zu kommen. Völlig in Gedanken an meine Familie und mein zu Hause merkte ich gar nicht, dass der Weg eine Biegung nach links machte und plötzlich fand ich mich vor einer Abzweigung wieder. Ein Weg führte nach rechts, der andere nach links. Welchen Weg sollte ich nehmen? In welche Richtung sollte ich gehen? Ich schaute mich nach einem Pfeil um, doch ich sah keinen. Daher ließ ich mein Glück entscheiden und ging nach links. Es war eine reine Bauchentscheidung und ich hoffte, dass sie richtig war.
Ich war schon ein wenig erschöpft und hatte Durst, aber ich musste durchhalten und durfte nicht aufgeben. Plötzlich bemerkte ich etwas, das auf dem Boden lag. Ich ging näher heran und sah, dass es ein Messer war. Ich nahm es in die Hand und schaute es mir näher an. Die Klinge war sehr scharf und würde mir bestimmt von Nutzen sein.
Deshalb steckte ich es in meine Hosentasche und ging dann weiter. Der Weg führte um eine Biegung nach rechts und dann nach links. Auf einmal sah ich das Ende des Weges vor mir. Eine große Hecke versperrte mir den Weg. Doch als ich mich der Hecke näherte, sah ich, dass sich in der Hecke auf der linke Seite ein Loch befand. Wenn ich es größer machen könnte, würde ich dort bestimmt hindurch klettern können. Aber wie sollte ich das anstellen?
Da fiel mir wieder das Messer ein, das ich eingesammelt hatte. Ich zog es aus meiner Hosentasche und begann das Loch zu vergrößern. Es war eine schwere Arbeit, aber ich gab nicht auf und nach ein paar Stunden war das Loch so groß, dass ich hindurch klettern konnte. Auf der anderen Seite sah es nicht viel anders aus, doch statt einer zweiten Hecke als Begrenzung befand sich dort nun brodelnde Lava. Es war sofort spürbar wärmer. Ich schaute mich um und sah, dass auf der linken Seite eine Hecke war. Daher musste ich in die anderen Richtung also nach rechts gehen.
Die Hitze, die von der Lava ausgestoßen wurde, war unerträglich und schon bald schwitze ich stark. Das Gehen fiel mir immer schwerer, aber auch jetzt gab ich nicht auf, sondern ging weiter und weiter. Der Weg schien kein Ende zu nehmen, aber plötzlich stand ich wieder vor einer Hecke, die mir den Weg versperrte. Dieses Mal war aber kein Loch in der Hecke, das ich hätte vergrößern können. Trotzdem holte ich das Messer aus meiner Tasche und begann mit der Arbeit eines neuen Loches. Nach ein paar Minuten musste ich eine Pause einlegen, denn ich konnte nicht mehr. Ich hatte Durst, ich hatte Hunger und mir war heiß. Mein Körper war auf solche Strapazen einfach nicht eingestellt. Während ich mich an die Hecke lehnte, schaute ich zurück. Da sah ich auf einmal einen blätterlosen Baum, der völlig vertrocknet war und ich hatte eine Idee.
Ich lief mit schnellen Schritten auf den Baum zu und brach einen langen, dicken Ast ab. Dann steckte ich diesen Ast nur wenige Zentimeter in die Lava und er fing sofort an zu brennen. Danach lief ich mit dem brennendem Ast zurück zur Hecke. Diese fing sofort Feuer und brannte lichterloh nieder. Ich hatte es wieder geschafft, ein Hindernis zu beseitigen. Das Feuer ging auch auf die andere Hecke über, aber das kümmerte mich nicht.
Als die Hecke, die mir den Weg versperrt hatte, niedergebrannt war und ich ohne Gefahr vorbeigehen konnte, sah ich, dass ich aus dem Labyrinth hinaus war. Ich hatte die erste Aufgabe geschafft. Ich schaute mich genauer um und erkannte, dass ich wieder genau an der Stelle war, an der mich der Junge alleine gelassen hatte.
Plötzlich sah ich in der Ferne eine Gestalt auftauchen. Während sie immer näher kam, erkannte ich sie. Es war der Junge. Sobald dieser nah genug war, rief er mir zu: „Gut gemacht! Dank dir dürfen nun die ersten verlorenen Seelen die Hölle verlassen.“ Das verstand ich jetzt nicht. Warum dürfen sie die Unterwelt dank mir verlassen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, antwortete der Junge mir: „Du musst 5 Aufgaben bewältigen und nach jeder geschafften Aufgabe darf ein Teil der verlorenen Seelen die Hölle verlassen. Wenn du auch die fünfte Aufgabe erfüllt hast, werden alle Seelen, die hier unten sind, diese Welt verlassen und ihren Frieden finden können, aber, wenn du eine Aufgabe nicht schaffst, musst auch du für immer hier unten schmoren.
Da du die erste Aufgabe erfolgreich gemeistert hast, darf nun auch der erste Teil der Seelen ihren Frieden finden.“ Ich musste also noch 4 solcher Aufgaben bewältigen. Ich dachte noch immer über das eben gesagte nach, als mich der Junge schon wieder am Arm ergriff und weiterzog.
Wieder war es ein langer Weg, bis der Junge stehen blieb und sagte: „Nun kommt deine zweite Aufgabe. Pass auf dich auf!“ Dann verschwand er genauso geräuschlos, wie er auch schon zuvor verschwunden war und ich musste wieder warten. Doch schon bald entstand dieses Mal allerdings links von mir ein neuer Weg. Ohne lange zu warten begann ich dem Weg zu folgen. Doch etwas war komisch an diesem Weg. Es war kein Sandweg, sondern Gras. Es kitzelte meine nackten Füße, aber es fühlte sich auch schön frisch und ein wenig feucht an. Nach dem ewigen Sand tat das Gras richtig gut. Ich war so in Gedanken über das Gras, dass ich nicht merkte, dass der Weg auf einmal aufhörte.
Der Weg war zu Ende, aber, was sollte ich nun tun? Was war meine Aufgabe? Viele Fragen schwirrte mir durch den Kopf. Ich schaute mich um und entdeckte in weiter Ferne wieder einen Weg. Sollte ich über die Lava bis zu diesem Weg kommen? War das meine Aufgabe? Wie sollte ich dort hin gelangen? Noch mehr Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Nur eine konnte ich mir allerdings erahnen. Dies schien meine zweite Aufgabe zu sein. Aber die Antwort auf die wichtigste Frage, wie ich dort hinüber gelangen sollte, blieb mir verborgen. Aus Frust holte ich das Messer aus meiner Hosentasche und warf es in mit der Spitze nach unten in das Gras. Das Messer blieb stecken und, als ich es wieder heraus zog, konnte ich durch das Loch die Lava sehen. Die Lava floß auch unter dem Weg.
Nun hatte ich wieder eine Idee zur Lösung meiner Aufgabe. Mit dem Messer, das ich immer noch in der Hand hielt, stach ich immer wieder in das Gras, so dass schon bald fast das ganze Stück, auf dem ich stand, vom Rest des Weges abgetrennt war. Mit einem letzten Hieb war das Stück völlig frei und es begann sich mit der Strömung, die in die Richtung floß, in der ich das andere Ende des Weges sehen konnte, fortzubewegen. Nun musste ich nur noch warten, bis ich dort ankam. Ich wartete und wartete, aber nicht kam nicht näher zu dem Weg. Der Abstand schien sich nicht zu verringern. Das Ende des Weges war noch genauso weit entfernt, wie am Anfang.
Erst jetzt bemerkte ich, dass die Strömung sich gedreht hatte. Nun wurde ich nicht mehr zu dem Weg, sondern von dem Weg weggetrieben. Was konnte ich nun tun? Wie konnte ich trotzdem an dem Weg ankommen? Plötzlich stieß ich mit dem hinteren Teil meines „Bootes“ gegen etwas Hartes. Ich drehte mich um und sah, dass ich an einem anderen Weg angekommen war. Schnell stieg ich von meinem „Boot“ herunter und kurze Zeit später sank es. Was sollte ich nun tun? In der Ferne sah ich noch immer den Weg, den ich erreichen wollte.
Auf einmal hörte ich eine unheimliche Stimme. Sie schien von weit weg zu kommen und sagte: „Verlass dich auf deinen Instinkt! Dann schaffst du auch diese Aufgabe.“ Dann war sie wieder verschwunden. Warum sollte ich mich auf meinen Instinkt verlassen? Was sagte mir mein Instinkt? Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mein Instinkt riet mir dem Weg, auf dem ich stand zu folgen. Das tat ich auch. Ich vertraute meinem Instinkt.
Der Weg, auf dem ich ging, war kein Grasweg mehr. Es war wieder ein Sandweg, aber das hielt mich nicht davon ab, meinen Weg zu gehen. Nach ungefähr einer Stunde machte der Weg eine Linkskurve und nach wenige Metern kam wieder eine Kurve nach links. Nun erstreckte sich vor mir ein langer Weg, den ich gehen musste. Ich achtete voll und ganz auf meine Schritte, so dass ich nicht merkte, dass sich die Umgebungen veränderte. Immer wieder standen Bäume am Wegrand und aus der heißen Lava wurde kühles Wasser. Erst als der Sandweg wieder zu einem Grasweg wurde, sah auch ich die Veränderung. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich in der Hölle war, hätte ich gedacht, ich wäre im Paradies. Aber der Schein trog. Schon bald sah ich immer wieder dunkle Augen, die mich beobachteten. Sie versteckten sich in den Baumkronen oder im Gebüsch. Aber ich ging weiter und beachtete sie gar nicht.
Doch plötzlich sprang eine der Gestalten aus einem Busch. Es war eigentlich gar keine Gestalt, sondern eher ein Schatten. Der Schatten bewegte sich langsam auf mich zu. Ich bekam Angst, aber ich blieb ruhig stehen und schaute dem Schatten tief in die Augen. Es waren menschliche Augen, doch sie waren voller Boshaftigkeit. Aber auch eine Spur Trauer und Schmerz war zu erkennen. Der Schatten kam näher und näher. Ich musste mich regelrecht zwingen nicht einfach nach vorne zu laufen, sondern stehen zu bleiben. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass nun immer mehr Schatten aus den Bäumen und den Büschen kamen, aber ich rührte mich immer noch nicht vom Fleck. Die Schatten schlossen einen Kreis um mich, den sie nun immer kleiner machten.
Ich hatte furchtbare Angst, aber ich ließ sie mir nicht anmerken. Als die Schatten nur noch wenige Meter von mir entfernt waren, streckten sie plötzlich ihre Arme aus und griffen nach mir. Ich machte die Augen zu und wartete auf die Hände, die ich bestimmt spüren würde. Ich wartete auf den Schmerz, der mich erfüllen würde, wenn sie mich töteten. Doch als ich die Hände spürte, erfüllte mich kein Schmerz, sondern ein Glücksgefühl. Ich machte die Augen wieder auf und merkte, dass ich nicht mehr an der selben Stelle war. Ich befand mich an dem Ende des Weges, das ich so sehr erreichen wollte. Ich schaute mich nach den Schatten um, aber sie waren verschwunden.
Wie war ich hier hergekommen? Was waren das für Schatten? Waren es die verlorenen Seelen?
Verbissen versuchte ich die Antworten zu finden, während ich den Weg entlang ging. Erst als ich wieder auf den Hauptweg traf, wo der Junge schon auf mich wartete, riss ich mich selbst aus meinen Gedanken. „Glückwunsch! Du hast auch diese Aufgabe geschafft. Du hast großen Mut bewiesen, als die verlorenen Seelen nach dir griffen. Du bist nicht weggelaufen, sondern stehen geblieben. Das haben noch nicht viele Menschen vor dir geschafft“, begrüßte mich der Junge und klatschte dabei erfreut in die Hände. Dann zog er mich wieder weiter ohne mir eine Pause zu gönnen und wir setzten unseren langen Weg fort.
Es dauerte wieder sehr lange und ich wurde müde, doch endlich blieb der Geisterjunge stehen und sagte: „Folge dem Weg, der gleich zu deiner Rechten auftauchen wird. Dann wirst du auf deine dritte Aufgabe treffen.“ Dann verschwand er wieder und der Weg tauchte neben mir auf. Ich befolgte den Befehl des Jungen und ging den neuen Weg entlang. Ich war gerade erst ein paar Meter gegangen, als plötzlich der Weg begann hinter mir zu verschwinden. Immer wieder tauchte ein Stück des Weges in die Lava hinab. Sofort wusste ich, was meine Aufgabe war. Ich musste dem sicheren Tot entkommen. Daher fing ich an zu laufen, doch schon bald war ich außer Atem und musste stehen bleiben, da ich schon sehr müde war.
Was sollte ich nun tun? Wie konnte ich entkommen?
Als der Weg hinter mir verschwand und ich an einem Abgrund stand, begann ich wieder zu rennen, aber ich schaffte es nicht mir einen Vorsprung herauszulaufen. Der Weg verschwand einfach zu schnell. Auf einmal sah ich in der Ferne, dass auch dort der Weg begann zu verschwinden. Ich saß in der Falle. Wohin sollte ich nun flüchten? Ich konnte nicht nach vorne und nicht nach hinten. Was sollte ich tun? Plötzlich erblickte ich einen weiteren Weg, der von dem Weg, auf dem ich mich befand, abzweigte. Doch das erste Stück des Weges fehlte.
Als ich an der Abzweigung ankam, hatte ich nicht viel Zeit zum Überlegen und sprang ohne nachzudenken über den Abgrund, in dem der sichere Tot lauerte. Ich spürte die Hitze, die von der Lava ausging, auf meiner Haut, während ich durch die Luft flog. Mein Flug wurde immer tiefer, aber noch war ich nicht am Ende des Abgrundes. Würde ich es schaffen? Die Hitze an meinen nackten Füßen war unerträglich, doch ich biss die Zähne zusammen. Plötzlich bekam ich einen Stoß von hinten, der mich wieder nach oben brachte und als ich mich umschaute, sah ich, dass Eine der verlorenen Seelen hinter mir schwebte und mich nach oben drückte. Dank ihrer Hilfe schaffte ich es bis zum Ende des Abgrundes und war gerettet.
Ich drehte mich um und wollte mich bei der verlorenen Seele bedanken, aber sie war schon wieder verschwunden. Dankbar für den festen Boden unter meinen Füßen blieb ich noch einige Minuten stehen und ging erst ein wenig später wieder los. Mein Weg dauerte nicht sehr lange, denn schon bald traf ich auf eine Treppe, die nach oben führte. Mit langsamen Schritte stieg ich Stufe für Stufe hinauf. Ich zitterte am ganzen Körper.
Was würde mich am Ende dieser Treppe erwarten oder wer würde mich dort erwarten?
Mit jeder Stufe, die ich hinaufstieg, wurde ich angespannter. Auf der vorletzten Treppenstufe blieb ich kurz stehen und atmete noch einmal tief ein und aus. Dann machte ich entschlossen den letzten Schritt und war am Ende der Treppe angelangt.
Niemand wartete dort auf mich. Das Einzige, was ich sah, war ein helles Licht. Die Situation kam mir bekannt vor. Auf dem Dachboden war es genauso gewesen. Nun erkannte ich aus die Ähnlichkeit zwischen dem Raum, in dem ich stand, und dem Dachboden bei mir zu Hause.
Die selben alten Möbel waren zu sehen und, als ich näher kam fiel mir auch auf, dass das Licht von einem Spiegel kam. Doch dieses Mal stand jemand neben dem Spiegel. Es war meine Familie. Doch auf der anderen Seite des Spiegels stand auch jemand, der Junge. Er war auch der, der die Stille, die auf dem Dachboden herrschte, durchbrach. „Ich bin überrascht, dass du es bis hier her geschafft hast. Doch erst jetzt beginnt deine eigentlich dritte Aufgabe. Du musst dich entscheiden zwischen deiner Familie und den Aufgaben. Wenn du dich nun für deine Familie entscheidest, wird alles wieder so sein, wie es vorher war. Die verlorenen Seelen, die schon frei gelassen wurde, werden wieder zurück geholt und du könntest einfach weiterleben. Wenn du dich allerdings für die Aufgaben entscheidest, besteht die Chance, dass du deine Familie niemals wieder siehst, aber dann hättest du jedenfalls ein paar verlorene Seelen befreit. Doch es könnte auch sein, dass du die 5 Aufgabe schaffst und wieder zurück darfst. Du musst dich entscheiden.“
Familie oder die Aufgaben? Für was sollte ich mich entscheiden? Natürlich wollte ich meine Familie nicht verlieren, aber ich wollte die Seelen auch nicht im Stich lassen. Wer war mir wichtiger? Traute ich mir die Bewältigung aller 5 Aufgaben zu? Bis jetzt hatte ich es ja recht gut geschafft, aber die Aufgaben würden bestimmt schwieriger werden.
Es war eine schwere Entscheidung. Wenn ich mich für meine Familie entscheiden würde, hätten die Seelen nicht die Chance befreit zu werden. Allerdings hatte der Junge auch gesagt, dass schon mehrere Menschen versucht hatte die verlorenen Seelen zu befreien. Es würde bestimmt noch nach mir jemand kommen, der es schafft, oder? Der Junge hatte auch gesagt, dass es nicht viele überhaupt bis zur dritten Aufgabe geschafft hätten. Wenn alle so denken wie ich, würde doch niemand die Seelen befreien, da sich alle für ihre Familie entscheiden würden.
Ich dachte noch ein wenig darüber nach, doch nach diesem Gedanken war mir klar, wofür ich mich entscheiden würde. Ich nahm die Herausforderung an und wollte weiter die Aufgaben bestreiten. Nachdem ich dem Jungen meine Entscheidung mitgeteilt hatte, bat er mich durch den Spiegel zu treten. Wieder spürte ich dieses kühle aber angenehme Gefühl, als ich durch den Spiegel trat. Auf der anderen Seite erwartete mich wieder die tote Landschaft und die brodelnde Lava und ich stand an der Stelle, an der ich zu meiner dritten Aufgabe aufgebrochen war. „Ich danke dir. Du bist der Erste, der sich für diesen Weg entschieden hat und ich glaube, du wirst es schaffen“, sagte der Geisterjunge, während er nun auch durch den Spiegel trat und neben mir stand. Dann nahm er mich wieder am Arm und zog mich weiter.
Der Weg bestand noch immer aus Sand und die Umgebung war immer noch tot. Die Lava hatte sich nicht verändert, sondern brodelte wie schon die ganze Zeit vor sich hin. Meine Füße waren völlig zerkratzt und bluteten an ein paar Stellen ein wenig. Ich hatte Hunger und sehr viel Durst, aber der Junge kannte kein erbarmen und zog mich weiter durch diese tote Landschaft. Während dem Gehen konnte ich allerdings gut nachdenken.
War meine Entscheidung wirklich gut? Würde ich die Aufgaben überhaupt bewältigen können? Was wäre, wenn ich es nicht schaffe und für immer hier bleiben müsste? Wie würde sich meine Familie fühlen? Würden sie sich Sorgen machen? Würden sie mich einfach für tot erklären? Was ist mit meinen Freunden? Wie würden sie sich fühlen?
Über all diese Fragen dacht ich nach, während ich von dem Jungen zu meiner nächsten Aufgabe gezogen wurde, aber die Antworten auf die Fragen konnte ich nicht finden.
Plötzlich blieb der Junge stehen und riss mich so aus meinen Gedanken. Die Stelle, an der wir standen, sah nicht besonders aus, aber so war es ja auch schon bei den Aufgaben zuvor gewesen. „Die vierte Aufgabe wartet auf dich. Sie wird noch schwerer als die letzten Aufgaben werden, aber ich glaube, du schaffst es. Viel Glück!“ Dann verschwand der Geisterjunge wieder. Wenige Augenblicke später erschien ein neuer Weg, der mich zum meiner vierten Aufgabe führte.
Der Weg war wie immer ein Sandweg, aber der Sand fühlte sich komisch an. Er war nicht trocken, sondern feucht und blieb an meinen Füßen kleben. Es war wie am Strand, aber ich befand mich nicht an einem Strand, sondern war in der Hölle. Der Sand konnte eigentlich nicht feucht sein, denn es war kein Wasser in der Nähe. Das einzige, was flüssiger war, als die Erde oder der Sand, war die Lava, die neben mir eine gewaltige Hitze ausstieß. Warum war der Sand feucht? Wodurch war der Sand feucht geworden? Gab es in der Nähe doch Wasser? Müsste ich es dann nicht sehen?
Lauter Fragen stellte sich mir, dessen Antworten ich bald erfahren würde, doch erstmal musste ich meine vierte Aufgabe erreichen. Das dauerte zum Glück nicht sehr lange und als ich am Ende des Weges war, lag vor mir das Ufer eines gewaltigen Sees. Das andere Ufer konnte ich nicht sehen. Die Lava war durch nichts von dem Wasser abgetrennt, aber die Lava floß trotzdem nicht in das Wasser des Sees hinein. Nur an der Grenze zwischen ihnen stieg ein wenig Wasserdampf auf. Sofort bückte ich mich hinunter und schöpfte mir mit den Händen Wasser ins Gesicht. Es war schön kühl auf der Haut und nachdem ich mich abgekühlt hatte, trank ich etwas Wasser, aber ich spuckte es gleich wieder aus, denn es war ungenießbar. Es schmeckte wie faule Eier. Ich lief meine völlig verschrammten Füße in das Wasser gleiten und lehnte mich zurück.
Was war meine Aufgabe? Musste ich den See überqueren? Sollte ich einfach anfangen zu schwimmen? Diese Frage beantwortete ich mit ja und setzte mich auf. Dann ging ich Schritt für Schritt immer tiefer in das Wasser. Die nasse Kleidung zog mich in die Tiefe, aber als ich noch stehen konnte, war es nicht so schlimm, doch als ich schwimmen musste, kostete es mich viel Kraft, mich über der Wasseroberfläche zu halten. Ich blickte mich, während ich schwamm, nicht nach hinten um, sondern schaute nur nach vorne. Noch immer konnte ich das andere Ufer nicht sehen. Plötzlich spürte ich, wie etwas meinen linken Fuß berührte.
Gab es Fische in diesem See oder war es nur eine Alge oder war es ein anderes Tier, das in diesem See lebte? War ich sein Revier eingedrungen? Würde es mich töten? Wieder berührte etwas meinen linken Fuß. Ich versuchte etwas im Wasser zu erkennen, aber es war zu trüb.
„Es war bestimmt nur eine Alge“, sagte ich mir. Daher begann ich weiter zu schwimmen, doch auf einmal hielt mich etwas an meinem Knöchel fest. Es war keine Alge, sondern eine Hand. Ich konnte die fünf Finger deutlich auf meiner Haut spüren. Wieder versuchte ich etwas zu erkennen, aber alles, was ich sah, war ein großer Schatten, der nun begann aufzutauchen. Als er die Wasseroberfläche durchbrach, stieß ich einen lauten Schrei des Entsetzen aus. Der Schatten, der mich festhielt, war die Leiche des Geisterjungen. Ich sah in das völlig entstellte Gesicht, das ich schon so oft vor meinem inneren Auge gesehen hatte, doch durch das Wasser waren die Reste der Haut, die sich noch an seinem Kopf befanden, aufgequollen und es sah noch schrecklicher aus als zuvor. Die leeren Augenhöhlen des Geisterjungen waren auf mich gerichtet und ich vermutete, dass er mich angestarrt hätte, wenn seine Augen in seinen Augenhöhlen gewesen wären. Ich spürte, wie sich der Griff an meinem Knöchel löste und ich wegschwimmen konnte, aber aus irgendeinem Grund konnte ich es doch nicht.
Der Junge streckte die Hand nach mir aus und an seinem Aussehen fand ich plötzlich nichts mehr bedrohlich. Er wollte einfach nur gerettet werden und er vermisste seine Familie. Das konnte ich ihm nicht verübeln. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich als Toter allein in einem See gefangen wäre? Ich würde mich bestimmt nicht freuen. Plötzlich tauchte neben mir eine weitere Leiche auf. Auch sie war entstellt und aufgequollen und streckte den Arm nach mir aus. Wenige Augenblicke später kam wieder eine an die Oberfläche. Die Anzahl der Leichen nahm nun immer mehr zu und ich war umringt von ihnen. Alle streckte den Arm aus und suchten nach mir. Während die Zahl immer weiter stieg, fand ich die Situation doch nicht mehr so traurig, sondern hatte Angst. Die Leichen kreisten mich ein und mir blieb kein Ausweg. Lange konnte ich mich mit den nassen Klamotten nicht mehr über Wasser halten. Ich musste an ein Ufer gelangen, aber ich war völlig von den Leichen umringt. Ich schwamm an eine Stelle des Kreises und wollte einfach hinaus schwimmen, doch die toten Körper der verlorenen Seelen machten mir keinen Platz. Meine nassen Sachen zogen mich immer tiefer in das nun kalte Wasser hinein. So schnell war aus einer traurigen eine lebensbedrohliche Situation geworden. Wie konnte ich mich aus diesem Kreis befreien? Da hatte ich plötzlich eine Idee.
Ich tauchte ab und wollte unter den Leichen hindurch schwimmen. Zum Glück war der Weg unter den Leichen frei und ich konnte wegschwimmen. Doch schon bald hatte ich keine Luft mehr und musste auftauchen. Sofort nachdem ich die Wasseroberfläche durchbrochen hatte, schaute ich mich nach den Leichen um, aber sie waren nirgendwo zusehen und ich atmete erleichtert auf. Dann setzte ich meinen Weg zum anderen Ufer fort und schon bald konnte ich das Ufer sehen. Auf den letzten Metern legte ich noch einmal einen Zahn zu, um möglichst schnell aus dem Wasser, was mir nicht mehr so schön erfrischend vorkam, zu kommen. Als ich dann endlich aus dem Wasser kam, ruhte ich mich erst mal aus und dachte über das nach, was eben passiert war.
Doch schon wenige Augenblicke wurde ich von dem nicht entstellten Geisterjungen aus meinen Gedanken gerissen. „Ich gratuliere dir. Du hast es aus dem See der Leichen geschafft.“ Dann zog mich der Junge auf die Beine und führte mich danach weiter den Weg entlang. Kurze Zeit später trafen wir wieder auf den Hauptweg und der Sand, auf dem wir gingen, war nun nicht mehr feucht. Während mich der Junge führte, fragte ich ihn eine Frage, die mir schon die ganze Zeit durch den Kopf schwirrte: „Warum bist du hier gelandet? Was hast du getan?“ Doch der Junge antwortete nur: „Das werde ich dir erzählen, wenn du die fünfte Aufgabe geschafft und somit auch mich befreit hast.“ Dann ging er weiter und ich zerbrach mir weiter den Kopf über diese Frage.
Noch immer dachte ich über die Frage nach, als der Geisterjunge stehen blieb. Ich erwartete, dass er mir wieder viel Glück wünschte, aber er tat es nicht, sondern ging mit gesenktem Kopf weg. Was hatte das zu bedeuten? Würde die fünfte Aufgabe so schwer werden? Glaubte er nicht mehr an meinen Sieg und meine Wiederkehr? Warum ging er mit gesenktem Kopf weg ohne etwas zu mir zu sagen? Wieder zerbrach ich mir den Kopf.
Plötzlich erschien neben mir eine Leiter. Sie schien direkt in den Himmel zu führen. Das musste der Weg zu meiner fünfte Aufgabe sein. Daher kletterte ich die Leiter hinauf. Sprosse für Sprosse kam ich näher an meine Aufgabe, die wohl sehr schwer werden würde. Jedenfalls schien der Junge das zu denken.
Während ich noch immer rätselte, was die fünfte Aufgabe sein könnte, kam ich an das Ende der Leiter und stand auf einer verlassenen Ebene, die aus Stein bestand. Nirgendwo war auch nur der Ansatz eines Hügels zu sehen. Ich ging ein paar Schritte nach vorne und auf einmal flackerte in weiter Ferne ein großes Feuer auf. Ich ging noch ein paar Schritte weiter und wieder loderte ein Feuer auf, welches allerdings schon näher bei mir war und ich konnte die Wärme des Feuers auf meiner Haut spüren. Mit jedem Schritt, den ich nun tat, kam ein weiteres Feuer zum Vorschein. Durch die Helligkeit der Flammen sah ich nun auch, dass ich nicht auf einer Ebene war, sondern in einem Raum, dessen Decke ich mit dem ausgestreckten Arm berühren konnte. Es waren keine Fenster vorhanden und es gab nur einen Ausgang, eine Tür am anderen Ende des Raumes. Mit langsamen Schritten näherte ich mich der weit entfernten Tür, doch bei jedem Schritt entstand ein neues Feuer und ich zuckte immer wieder zusammen, wenn neue Flammen aufflackerte. Manche der einzelnen Feuer schlossen sich bereits zu einem noch größerem Feuer zusammen. Die Hitze in dem Raum war unerträglich und ich schwitzte wie ein Schwein. Doch das lag nicht nur an der Hitze.
Ich hatte Angst, furchtbare Angst. Ich hatte schon immer Angst vor Feuer, da fast meine ganze Familie im Feuer umgekommen war. Meine Großeltern starben bei einem Brand in ihrer Wohnungen. Mein kleinerer Bruder Steve, über den wir nicht mehr redeten, kam in einem Brand in unserem Haus um. Die Feuerwehrleute konnte nur mich und Amy retten. Für Steve kam jede Rettung zu spät.
Auf einmal fiel mir ein, dass der Brand vor genau zwei Jahren war. Unser Haus war völlig zerstört und wir musste in das Haus einziehen, in dem wir nun lebten. Plötzlich loderte wenige Meter rechts von mir ein Feuer auf und riss mich aus meinen Gedanken an mein altes Leben mit Steve. Nun fiel mir auch auf, dass sich das Feuer schon sehr weit ausgebreitet hatte und ich konnte einen schmalen Gang erkennen, der zwischen den Flammen hindurch führte. Das war mein Weg. Dieser Weg würde mir und den verlorenen Seelen die Freiheit bringen. Ich musste nur zu dieser Tür gelangen. Dann würden alle frei sein und die Hölle würde erlöschen.
Immer weiter folgte ich dem Gang, der mich sicher durch das Feuer, das schon fast den ganzen Raum einnahm, führte. Meine Kehle war völlig ausgetrocknet und ich konnte kaum noch laufen, aber ich biss die Zähne zusammen und zwang mich zum Weitergehen.
Plötzlich begann das Feuer zwar noch weit hinter mir, aber trotzdem sehr bedrohlich den Gang hinter mir zu verschlingen. Ich beschleunigte meine Schritte, doch dadurch, dass die Flammen genau so schnell entstanden wie ich einen Schritt machen konnte, brachte mir die Beschleunigung meiner Schritte nichts. Die Flammen blieben im gleichen Abstand hinter mir. Sie schienen sogar eher näher zu kommen. Als ich spürte, wie die Hitze in meinem Rücken zunahm, war mir klar, dass das Feuer wirklich näher kam. Der Abstand zwischen mir und dem Feuer hatte sich schon um die Hälfte verringert und der Weg zur rettenden Tür war noch sehr weit. Wie sollte ich dem Feuer bloß entkommen? Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich würde nur noch große Schritte machen und nicht mehr so viele Kleine. Dann könnte auch nicht mehr so viele Flammen entstehen. Leider kam mir die Idee ein bisschen spät. Die Flammen waren schon direkt hinter mir, doch durch die großen Schritte konnte ich sie in diesem Abstand halten und sie kamen nicht mehr näher.
Ich war nur noch wenige Meter von der Tür entfernt und durch meine Schrittechnik konnte mir das Feuer auch nichts mehr anhaben.
Da hatte ich mich allerdings getäuscht. Als ich nur noch ein Schritt bis zur Tür gehen musste, loderten die Flammen auf einmal nicht hinter mir, sonder vor mir, auf und versperrten mir den Weg in die Freiheit. Was sollte ich nun tun? Ich konnte nicht nach vorne und nicht nach hinten gehen. Außerdem würde das Feuer mit jedem Schritt näher kommen. Mir blieb nur eine Chance. Ich musste meine Angst überwinden.
Ein weiteres Feuer entstand, als ich eine Schritt nach hinten ging, aber dieses war wieder hinter mir. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und sprang durch das Feuer.
Mit einem lauten Knall schlug ich gegen die Tür, die durch meinen Aufprall aufsprang, und ich war in der Freiheit. Endlich bekam ich wieder Luft und als ich mich umdrehte, war das Feuer verschwunden. Nun lag wieder ein verlassener Raum vor mir. Plötzlich entdeckte ich eine Gestalt, die langsam auf mich zukam. Zu meinem Erstaunen war es nicht der Geisterjunge, sondern die Kreatur mit den Klauenhänden, der Teufel. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Hatte ich die Aufgabe doch nicht geschafft oder würde er mir zum Sieg gegen ihn gratulieren? Wollte er sich vielleicht rächen, weil ich ihn besiegt hatte? Doch alle meine Fragen waren unbegründet. Er wollte sich nicht an mir rächen, aber gratulierte mir auch nicht. Der Teufel kam einfach auf mich zu und blieb dann neben mir stehen.
Erst jetzt bemerkte ich den Geisterjungen, der hinter ihm gelaufen war und sich nun still neben den Teufel stellte. Keiner sagte ein Wort und eine bedrückende Stille breitete sich aus. Plötzlich wurde die Stille von Schreien durchbrochen. Es waren keine Schmerzensschreie, sondern eher Freudenschreie. Es waren die Freudenschreie der nicht mehr verlorenen Seelen, die nun ins Paradies schweben konnte.
Auf einmal überkam mich eine Welle von Stolz und Freude. Ich hatte es wirklich geschafft. Ich hatte die Hölle zum erlöschen gebracht und die Seelen befreit. Ich war noch völlig in meinen Gedanken, dass ich nicht merkte, wie der Teufel in sich zusammen sackte und langsam verschwand. Erst als man nur noch eine schwache Silhouette sehen konnte, bemerkte auch ich das Verschwinden des Teufels. Nun fing auch die Umgebung an sich aufzulösen. Erst die Landschaft in der Ferne und dann der Raum, in dem ich meine Angst vor Feuer überwunden hatte, verschwand. Danach löste sich auch der Boden unter meinen Füßen auf und als ich nach unten schaute, sah ich nicht mehr den Sand aus der Hölle, sondern den dunklen Holzboden auf unserem Dachboden. Ich blickte auf und sah nun auch die vielen altmodischen Möbel und den Spiegel, der nicht mehr leuchtete.
„Du hast es geschafft. Du hast den Teufel besiegt und die Hölle zerstört. Durch dich sind jetzt alle verlorenen Seelen und auch ich befreit. Endlich können wir in Frieden ruhen. Ich danke dir dafür“, sprach auf einmal eine bekannte Stimme hinter mir und erst jetzt merkte ich, dass der Geisterjunge hinter mir stand. „Und übrigens ich war in der Hölle, weil ich vor genau zwei Jahren in einem Haus ein Feuer gelegt habe und dabei ist ein Mensch, ein kleiner Junge, ums Leben gekommen.“ Dann begann auch er zu verschwinden. Das Letzte, was ich von ihm sah, war sein Geist, der in den Himmel auffuhr. Nur ich blieb alleine auf dem Dachboden und begann zu realisieren, was alles passiert war.
Ich hatte 5 Aufgaben bestritten und erfolgreich gemeistert. Ich hatte den Teufel besiegt und die Hölle gab es durch mich nicht mehr. Die verlorenen Seelen wurden von mir befreit und konnten ins Paradies auffahren. Es war unglaublich. Es war so viel passiert, aber in meiner Welt schien sich nichts verändert zu haben. Es war noch immer mitten in der Nacht, obwohl ich dachte, dass ich Stunden in der Hölle verbracht hätte.
Mit leisen Schritten schlich ich die Treppe hinunter, um niemanden aufzuwecken. Dann ging ich lautlos in mein Zimmer, legte mich auf mein Bett und schloss die Augen. Noch einmal sah ich meine ganzen Abenteuer vor meinem inneren Auge und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Der letzte Gedanke bevor ich einschlief war, dass ich meine Erlebnisse festhalten müsste und beschloss eine Geschichte über sie zu schreiben. Ich wusste auch schon den Titel: 5 Aufgaben bis zum Erlöschen der Hölle. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf.

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Tag der Veröffentlichung: 29.12.2009

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