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Kalter Abgrund

Der Schuss fällt, er geht zu Boden.
Um ihn herum stehen Menschen. Sie betrachten ihn, wie er nach Atem ringt, hilflos mit den Händen rudert.
Sie tun nichts. Keiner ruft den Notarzt. Keiner will den Schützen aufhalten, als dieser flieht.
Ich schüttele ungläubig meinen Kopf.
Was ist der Unterschied, zwischen dem Mörder und den umstehenden Passanten?
Sie sehen zu, wie der junge Mann vor ihnen verblutet, keuchend um Hilfe bittet. Und sie tun nichts. NICHTS!
Ich blicke fassungslos in das Gesicht einer Frau mit einem Kinderwagen. Der Blick der jungen Mutter ist kalt, so unsagbar kalt. Ihr platinblondes Haar perfekt geglättet, ihr Lidstrich Millimeter genau gezogen.
Das Kind schreit, sie beachtet es nicht. Keiner tut das.
Sie sind alle so kalt, ihr Herz ist aus Stein.
Ich schaue wieder auf den Sterbenden. Tränen laufen über seine Wangen und er denkt an das Leben, das er vielleicht noch haben könnte, wenn jemand helfen würde.
Ein Geschäftsmann geht vorbei, blickt kurz in meine Richtung als er einen Windhauch spürt. Den sterbenden Mann, der eigentlich noch ein Kind ist, beachtet er gar nicht.
Eine Hure kommt auf ihn zu, betrachtet ihn mit einem glasigen Ecstasy-Blick. Sie bückt sich und nimmt seine Geldbörse. Zwei Scheine –zwei Fünfziger zieht sie daraus hervor.
„Nächstes Mal solltest du besser zahlen.“ faucht sie und geht weiter. Die Menschen um ihn herum stehen weiter schweigend da.
Ich springe von dem Baum, auf dem ich saß. Keiner hört mich. Wie auch, ich bin ja nicht real. Nur ein Engel, ein gefallener Engel. Ein Geist ohne Körper und ohne Leben.
Meine Flügel sind schon so lange zerrissen. Mein weißes Kleid ist blutbefleckt und hat seinen Glanz verloren.
Ich laufe –nein, schwebe auf den Sterbenden zu und greife nach seiner Hand. Anklagend blicke ich in den Himmel. Der Schöpfer hat sich von den Menschen abgewandt –mit Recht. Wie sie alle nur dastehen und dem Tod zusehen, wie er seine Arbeit verrichtet. Wie sie nur so gefühllos sein können.
Der Junge richtet seinen Blick auf mich. Nur in seinem letzten Augenblick bin ich sichtbar für ihn.
„Ich wusste, ich bin nicht allein.“ formt er mit den Lippen ehe seine befleckte Seele seinen kalten Körper verlässt und gen Himmel aufsteigt um sich vor das Jüngste Gericht zu stellen.
Die Menschen stehen immer noch stumm da. Ich lasse die Hand des Toten los und gehe auf den Kinderwagen zu. Streiche dem kleinen Mädchen darin über die Stirn. Sie hört auf zu weinen. Blickt mit glasigen Augen um sich.
Mamma, will es rufen. Mamma, ich brauche dich. Ich habe Angst.
Sie kann noch nicht sprechen und weiß doch, was sie sagen will. Aber ihre Mutter hat verlernt, ihr zuzuhören.

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Tag der Veröffentlichung: 12.04.2010

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