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Wir hatten nicht viel Zeit, das hatten wir von Anfang an gewusst. Ein Jahr. Ein verdammt kurzes Jahr. Wir hatten immer versucht es zu verdrängen, doch es ließ sich jetzt nicht mehr abstreiten. Das Ende stand bevor. Sie schaute mich an und ich wusste, sie dachte das Gleiche wie ich. Vorbei. Alles. Ich schluckte einen dicken Kloß in meiner Kehle herunter. Dass es so früh kommen musste, konnte und wollte ich einfach nicht verstehen.
„Morgen… morgen schreiben wir unsere erste Abschlussprüfung.“ meinte Felicitas. In ihrer sonst so hellen, melodischen Stimme schwang ein Anflug von Trauer mit.
„Ja. Physik.“ Ich schluckte.
„Und ich BWR.“ Sie schaute mich an. Tränen standen in ihren Augen. „Matt, wir haben nur noch drei Wochen zusammen.“
Ich zog sie in meine Arme und presste sie gegen meine Brust. „Ich weiß, Fee. Ich weiß.“
Sie sprach das aus, was ich mich nicht einmal gewagt hatte zu denken. Drei Wochen.
„Glaubst du, es würde gehen, wenn…“
Ich wusste, was sie fragen wollte. Sie hatte es so oft getan: Glaubst du, es würde gehen, wenn wir uns nur am Wochenende sehen? Oder nur in den Ferien? Würde unsere Beziehung halten?
Schon seit Wochen hatte ich mir nachts den Kopf über eine Fernbeziehung zerbrochen, doch nie kam etwas wirklich Passables dabei heraus.
„Ich glaube nicht, dass das was werden würde, Fee. Wie soll das gehen? Du ziehst nach Kiel, ich bin hier in München. Wie wollen wir das am Wochenende schaffen?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie schluchzte. „Matt, ich will nicht gehen.“
„Aber du möchtest doch Meeresbiologin werden. Es war doch schon immer dein Traum.“
„Mein Traum ist es auch, mit dir zusammen zu bleiben.“
„Das ist meiner auch. Aber wie? Wie, sag es mir doch!“
Sie schwieg und schluchzte still an meiner Brust.
„Fee, vielleicht… vielleicht ist es besser, wenn… wenn wir es jetzt gleich beenden. Wir quälen uns doch nur unnötig.“
Ihre Schluchzer verebbten und sie schaute mich entgeistert an. Dann trat ein anderer Ausdruck in ihre dunkelgrünen Augen. Kälte.
„Ja, du hast Recht.“ sagte sie ungewöhnlich scharf. „Wir quälen uns nur.“ Sie löste sich aus meinen Armen.
„Leb wohl, Matt. Es… war ein schönes Jahr mit dir.“ flüsterte sie und hauchte mir einen zarten Kuss auf die Wange.
„Fee…“
„Bye.“ Sie drehte sich um und lief die Einkaufsstraße entlang. Und ich stand hier. Allein in der Dämmerung. Obwohl es ein ziemlich warmer Juni war, fröstelte ich.
Mechanisch lief ich nach Hause. Ich fühlte nichts, absolut nichts in mir. Kein Herz, keine Seele. Ich war leer.
Ohne ein Wort zu meinen Eltern zu sagen lief ich die Treppen hoch in mein Zimmer und schloss mich ein. Es war bereits dunkel geworden.
Mit einem Mal sackten mir die Knie weg. Ich fiel auf den kalten Holzboden und keuchte. Fee, meine geliebte Fee, wo bist du nur?
Mir traten Tränen in die Augen. Ich hatte schon lange nicht mehr geweint. Mindestens zehn Jahre schon nicht mehr. Und jetzt konnte ich nicht mehr aufhören. Fee, sie war weg. Sie hatte Schluss gemacht. Weil ich es ihr gesagt hatte. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein? Meine Fee, mein Engel. Dieser Moment war einer der wenigen Momente, in denen ich an Gott glaubte. Und ich verfluchte ihn, verfluchte ihn, weil er mir die Liebe meines Lebens nahm.
„Warum? Warum tust du mir das an?“ flüsterte ich und schaute aus dem Fenster in die Nacht hinein.

Ich wusste nicht, wie lange ich auf dem Boden gesessen und aus dem Fenster gestarrt hatte, doch als ich hörte, wie meine Eltern unten den Fernseher ausschalteten und ins Bett gingen, schleppte ich mich auch zu meinem Schlafsofa und legte mich darauf. Kraftlos streifte ich mir die Jeans vom Körper und drehte mich auf die Seite. Eine Stunde später war ich eingeschlafen.

Mein Wecker. Er klingelte schrill. Ich wollte ihn zerschlagen um nicht aufstehen zu müssen, doch dann fiel mir ein, dass ich heute Physikprüfung hatte. Na super, wie ich mich darauf freute. Wie gewöhnlich glitt mein Blick zu meinem Handy. Doch es blieb stumm. Schmerzhaft krampfte sich mein Herz zusammen. Fee hatte mir jeden Morgen eine SMS geschrieben.
Ich stand auf, zog mir frische Klamotten an und machte mich im Bad fertig. Beim Frühstück bekam ich kaum etwas herunter. Meine Eltern dachten, es wäre die Aufregung vor der Prüfung. Aber es war etwas anderes. Es war der Schmerz.
Wie in Zeitlupe radelte ich in die Schule. Meine Klassenkameraden standen schon vor der Turnhalle, in der die Prüfung geschrieben wurde.
„Na Matt, alles klar?“ fragte Kai, mein bester Kumpel.
„Nee.“
„Aufgeregt?“
„Nee.“
„Was ist dann mit dir?“
„Fee hat gestern Schluss gemacht.“
„Oh.“ Das war alles, was Kai sagte. Mehr nicht.
Dann ging alles ganz schnell. Die Turnhalle wurde aufgesperrt, wir wurden an unsere Tische gewiesen, unsere Taschenrechner und Formelsammlungen durchsucht. Und dann ging es los.
Ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren. Meine Gedanken schweiften ab. Zu Fee, die drei Reihen hinter mir saß und sicherlich ihre Eins in BWR schrieb. Oh Fee, warum hast du mir das nur angetan?
Viel zu früh war die Zeit vorbei und die Abschlussprüfung eingesammelt. Kai kam zu mir rüber. „Und? Wie war’s?“
„Beschissen.“
„Dann sind wir ja schon mal zu zweit. Ich glaube, ich kann das Jahr wiederholen.“
Ich nickte nur und verließ die Halle. In zwei Tagen würde das Ergebnis bekannt gegeben werden.

2 Tage später…

„Hey Matt, heute gibt’s die Ergebnisse von Physik. Leider erst nach Englisch.“ Kai verzog gequält das Gesicht.
„Ja.“ sagte ich kurz angebunden und betrat erneut die Turnhalle, um mich den Prüfungen zu stellen, die mein Leben entscheiden würden.
Auch diese Prüfung verging, wie vorgestern Physik und gestern Mathe, viel zu schnell. Aber ich war nicht schlecht in Englisch. Ich konnte es. Zumindest hoffte ich das.
Dann kam unser Physiklehrer. Alle wurden still und schauten ihn erwartungsvoll an.
„Also ich muss schon sagen, einige von euch haben mich sehr enttäuscht.“ meinte er und schaute durch die Klasse. Sein Blick blieb an mir hängen. „Natürlich waren auch gute Leistungen dabei, aber… na ja, seht selbst. Eins möchte ich euch aber noch sagen, es geht um eure Zukunft, also verbockt sie nicht.“ Dann rief er uns auf.
„Matt Tischler.“
Nervös stand ich auf. Fee war in diesem Moment vergessen. Was zählte, war die Note.
„Ausgezeichnet Matt!“ Meinte mein Physiklehrer und hielt mir eine Zwei hin, die auf seiner Klassenliste stand.
Eine Zwei. Zwei, zwei, zwei, ZWEI! Meiner Ausbildung als Mechatroniker stand nun nichts mehr im Wege. Diese Nachricht entlockte mir auch ein kleines Lächeln. Nachdem er auch noch den Rest der Klasse aufgerufen hatte, entließ er uns.
„Matt, was hast du?“ fragte Kai.
„Eine Zwei, du?“
„Ich hab verschissen. Fünf. Welcome to the tenth again!“
„Matt?“ Eine sanfte, melodische Stimme ließ mich herumfahren. Fee.
„Ja?“ Vorsichtig schaute ich ihr in die Augen. Sie sah mich sanft und traurig zugleich an.
„Was hast du in Physik?“
„Eine Zwei. Und du? Ich meine, in BWR.“
„Eine Vier. Und die mündliche Prüfung verhaue ich auch noch. Damit ich nicht nach Kiel gehen muss. Ich meine, so haben wir noch ein Jahr. Zwar nur eins, aber immerhin.“
„Heißt das, du willst mich zurück?“ fragte ich.
„Ja Matt, das heißt es.“ Sie schaute mich liebevoll an.
In dem Moment zerbrach etwas in mir und ich glaube, es war die Liebe zu Fee. Sie wollte mich noch ein Jahr lang quälen, immer mit dem Wissen im Hintergrund, dass es enden würde. Es war selbstsüchtig von ihr und das tat mir noch mehr weh als die Trennung. Jetzt hatte sie einen Keil zwischen uns getrieben. Einen Keil, der sich nicht mehr entfernen ließ.
„Es tut mir leid, Felicitas. Aber ich kann nicht. Willst du uns im Ernst noch mal ein Jahr quälen? Willst du mir das wieder antun? Willst du wirklich von mir verlangen, dass ich dich nach diesem… diesem Desaster noch einmal zurücknehme?“
„Ja.“ Sie seufzte, als würde sie mitten in einem romantischen Film stecken. Aber das tat sie nicht und ich musste sie darauf aufmerksam machen. So schwer es mir auch fiel.
„Nein, Fee. Es geht nicht mehr. Es tut… zu sehr weh, verstehst du? Ich kann nicht mehr.“
Sie schaute mich an, als hätte ich sie geschlagen.
„Warum?“
„Weil es weh tut.“
„Warum tust du mir jetzt weh?“
„Weil ich nicht mehr kann. Ich will und werde dieses Spiel nicht noch einmal spielen.“
„Matt…“
„Nein Felicitas. Lass mich einfach… frei sein.“
Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging heim. Meine Eltern freuten sich über die Zwei. Und ich auch. Ich konnte nun in mein neues Leben starten.

Eineinhalb Jahre später…

An Fee dachte ich noch oft. Jede Nacht sogar. Ich fragte mich immer, was wäre wenn… aber dann wusste ich, es wäre nie gut gegangen. Sie lebt mittlerweile in Kiel. Ich hörte nie wieder etwas von ihr.

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2009

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